Eine Mischung von Wut und Trauer lag genau heute vor einem Jahr über dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz. Hunderttausende Demonstranten nahmen Abschied von ihren getöteten Kameraden und forderten aufgebracht den Rücktritt von Viktor Janukowitsch. Ihrer Meinung nach hatte er, der ukrainische Präsident, die tödlichen Schüsse auf über 100 Aktivisten zu verantworten. Wenige Stunden später war Janukowitsch verschwunden. Als er sich am nächsten Tag aus Charkiw meldete und kundtat, weiter im Amt bleiben zu wollen, hatte ihn das Parlament schon mit 328 von 450 Stimmen abgesetzt, einen Übergangspräsidenten gewählt und den 25. Mai 2014 als Termin für die Präsidentschaftswahl festgelegt.
Ein Jahr später darf sich das geflohene ehemalige Staatsoberhaupt nicht einmal mehr Ex-Präsident nennen, denn die Werchowna Rada hat Janukowitsch den Titel entzogen. 281 Abgeordnete stimmten für die Initiative, die unter anderem von Andrij Teteruk ausging.
"Wir schenken dem ehemaligen Präsidenten zu viel Aufmerksamkeit. Ich schlage vor, Janukowitsch zu vergessen und unser Land aufzubauen."
Der Abgeordnete Andrij Teteruk gehört zu den Neuen im Parlament. Seine Biografie spiegelt den tiefgreifenden Wandel der Ukraine in nur einem Jahr deutlich wider. Teteruk, ein asketischer ehemaliger Berufssoldat, der an zwei Kosovo-Missionen teilnahm, hatte sich gerade im zivilen Leben eingerichtet, als nach der Annexion der Krim der Krieg in der Ostukraine ausbrach. Teteruk zog die Uniform wieder an, wurde Kommandeur des "Mirotworez"-Freiwilligen-Bataillons, eines von inzwischen Dutzenden. Er schaffte es, lebend aus dem Kessel von Iliawoisk im August 2014 herauszukommen. Vor der Parlamentswahl fragte ihn Premierminister Arseni Jazeniuk, ob Teteruk für seine neugegründete Partei, die Volksfront, kandidieren wolle. Er sagte zu und zog die Kampfmontur wieder aus.
Feldkommandeure im Parlament
Teteruk ist einer von mehreren ehemaligen Feldkommandeuren im neuen Parlament. Auch Sergej Leschtschenko wurde im Oktober gewählt. Er gehört zu den jungen Polit-Talenten, von denen sich viele Ukrainer mehr in der Werchowna Rada gewünscht hätten. Leschtschenko genießt einen hervorragenden Ruf als investigativer Journalist der wichtigsten Internetzeitung, der "Ukrainska Prawda". Dass mit den Feldkommandeuren ein Kommandoton im Parlament eingezogen wäre, kann er nicht feststellen.
"Schon ihre Anwesenheit sorgt dafür, dass der Krieg im Osten des Landes immer im Fokus der Abgeordneten und auf der Tagesordnung bleibt. Sie haben über ihre Verbindungen und Freunde eigene Informationskanäle. Sie schlagen Alarm, wenn die Soldaten wieder in einen Kessel der Separatisten geraten. Sie kritisieren dann die Militärführung. Premier Jazeniuk versucht Druck zu machen. Als es um die Verabschiedung des Haushalts ging, versuchte er die Abgeordneten mit dem Hinweis auf den Krieg zur Eile anzutreiben. Am 28. Januar sollte das Parlament über den Haushalt abstimmen - um 4 Uhr morgens. Er wollte keine Aussprache, zum Beispiel über Punkte, bei denen der Missbrauch von staatlichen Geldern zu befürchten ist. Sein Argument war, es ist Krieg, wir haben keine Zeit für Diskussionen. Das ist Erpressung."
Die Ukraine stand unter Schock, als am 22. Februar 2014 der Präsident geflohen und über 100 Menschenleben auf dem Maidan zu beklagen waren. Diesen Moment, als alles im Aufruhr war, besetzte Russland die Krim, verleibte sich die Halbinsel ein und schürte die Unruhen in der Ostukraine, bis hin zum Krieg. Die Bilanz, die die Verluste des Kessels von Debalzewe noch nicht einrechnet, weil sie unklar sind: mindestens 5.500 Tote, anderthalb Millionen Flüchtlinge, der Verlust der Krim und der Ostukraine. Kein Minsk-1-, kein Minsk-2-Friedensplan hat die Eroberer aufgehalten, dank des pausenlosen Nachschubs an russischem Kriegsgerät und Kämpfern. Die Angst geht um, dass Mariupol und die Landbrücke zur Krim sowie Charkiw und Odessa die nächsten Ziele sind.
Waren die Protest auf dem Maidan also falsch, hätte Janukowitsch um der Stabilität willen besser an der Macht bleiben sollen? "Auf keinen Fall", sagt Wladislaw Reinman, ein 36jähriger Investment-Banker, selbst bereit an die Front zu gehen.
"Sofort. Wir warten, dass endlich das Kriegsrecht verhängt wird und das ganze Land kämpft, nicht nur zehntausend Mann. Das alles ist ein großes Unglück für unser Land. Alle sind bereit zu kämpfen, aber tatsächlich dürfen es nur einige ausgewählte Leute, die, nach welchen Kriterien auch immer, eingezogen wurden."
Dringend benötigte Waffen nicht bestellt
Auch der ehemalige Offizier Teteruk verlangt jetzt Patriotismus, Einsatz fürs Vaterland. Und reagiert allergisch auf öffentliche Kritik am Präsidenten und Generalstab. Als Vertreter des 25. Freiwilligen-Bataillons Anfang Februar vor der Präsidialadministration die Absetzung des Generalstabschefs und von Präsident Petro Poroschenko sowie die Verhängung des Kriegsrechtes forderten, wurden sie verhaftet. Teteruk hatte für das Anliegen der Demonstranten, die öffentlich die Staats- und Armeeführung attackierten, keinerlei Verständnis und verurteilte sie im Parlament scharf. Andererseits fühlte er den Verantwortlichen hinter geschlossenen Türen seines Ausschusses durchaus gründlich auf den Zahn, denn er versteht nicht, weshalb sich die Ukraine als zwölftgrößter Rüstungsexporteur nicht selbst mit Waffen versorgen kann.
"Wir haben den Vertretern des Verteidigungsministeriums die Fragen gestellt, welches Potenzial die Rüstungsindustrie hat, wie weit es ausgeschöpft ist und wann die Ukraine sich selbst versorgen kann. Bislang wurden die Waffen exportiert; nun werden sie hier gebraucht. Und dass diese Umstellung nicht klappt, liegt an hochrangigen Offizieren im Ministerium, die ihre Pflichten nicht erfüllen. Das Ministerium bestellt einfach nicht die dringend benötigten Waffen bei der Rüstungsindustrie. Was für ein Unsinn! Das ist Nonsens, Sabotage! Sie gehen ihren Interessen nach, ihren Geschäften, es ist Korruption."
Vier Verteidigungsminister hatte die Ukraine seit Janukowitschs Abgang. Die Illoyalität bei den Behörden wurde erstmals sichtbar, als vor einem Jahr Polizei und Geheimdienst in der Ostukraine tatenlos zusahen, wie moskautreue Demonstranten Rathäuser und Polizeiwachen in Dutzenden Städten besetzten, die Waffenkammern plünderten, Geiseln nahmen. Die Korruption ist der eigentliche Grund für den Krieg, behauptet der Abgeordnete und Journalist Sergej Leschtschenko:
"Wenn man zurückverfolgt, warum der Krieg geschehen konnte, kommt man darauf, dass Janukowitsch ein Produkt der Korruption ist: Sie schufen ihre Partei, ihre Regierung, stahlen, machten sich die russische Propaganda zunutze. Korruption war der wichtigste Faktor, das wichtigste Motiv für den Einfluss der Oligarchen auf die Politik."
Aufhebung der Immunität erleichtert
Die Macht der Oligarchen ist ungebrochen. Und aus der als korrupt verschrienen Vorgängerregierung musste sich bislang keiner verantworten. Janukowitsch und Co. gelang rechtzeitig die Flucht. Leschtschenko startete eine Unterschriftensammlung für die Absetzung des Generalstaatsanwalts, der fast ein Jahr im Amt war, aber kein Verfahren eröffnet hat. Hanna Gopko unterschrieb. Sie ist ebenfalls eine der jungen hoffnungsvollen Polittalente, die sich trotz des miserablen Rufes, den Parlamentarier in der Ukraine haben, in die Werchowna Rada wählen ließ. Im Volk gelten die Abgeordneten als gekauft. Als Zeichen, dass sie keine Ermittlungen fürchten und sich nicht hinter der Immunität verstecken müssen, stimmte Hanna Gopko für ein Gesetz, das den teilweisen Entzug der Abgeordneten-Immunität vorsieht.
"Das ist eine Lehre aus dem Maidan. Präsident Janukowitsch konnte die Abgeordneten wegen ihrer Immunität nicht ins Gefängnis werfen. Wir müssen jetzt die Immunität von Richtern aufheben, die Staatsanwaltschaften und Polizei säubern. Der Generalstaatsanwalt wurde auch Dank einer Unterschriftensammlung abgesetzt, denn er hat weder gegen Janukowitsch noch Arbusow, den Ex-Premier ermittelt. Auch nicht gegen die, die die Leute auf dem Maidan getötet haben."
Die bislang unfähigen Regierungen und korrupten Oligarchen haben die Ukraine in den vergangenen 24 Jahren ihrer Unabhängigkeit an der Entwicklung zu einer modernen marktwirtschaftlichen Demokratie gehindert. Inzwischen allerdings wird unentwegt vom Kampf gegen Bestechlichkeit gesprochen. Finanzministerin Natalija Jaresko sieht erste Erfolge.
Kein Grund für Optimismus
"Unser Land ist falsch geführt worden, und wir bringen es jetzt auf den richtigen Kurs. Es ist gut, dass wir jetzt am Kampf gegen die Korruption gemessen werden. Wir haben die Mittelsmänner ausgeschaltet, die am Gashandel verdient haben. Wir eröffnen ein Antikorruptionsbüro und eine Antikorruptionsagentur und haben dafür Mittel im Haushalt bereitgestellt. Wir wollen, dass Gewinne der großen Unternehmen in der Ukraine versteuert werden."
Für den Optimismus der in den USA aufgewachsenen Finanzexpertin sieht der Wirtschaftsjournalist Oleg Bazar noch keinen Anlass:
"Nein, weil heute die korrupten Systeme von früher immer noch funktionieren. Beamte sind Schönfärber. Die angeblichen Fortschritte wurden jedenfalls noch nicht in den Bereichen erzielt, wo sie am nötigsten sind: bei den Steuern und beim Zoll. Staatliche Aufträge werden ein wenig transparenter vergeben, da gibt es einen gewissen Fortschritt. Die intransparenten Ausschreibungen und Geschäfte sind deutlich weniger geworden. Aber bei den Finanzbehörden, dem Zoll oder auch wenn es um Zulassungen geht, ist alles so wie es war. Unsere Oligarchen haben nicht aufgehört, sich mit der Minimalisierung ihrer Steuern zu beschäftigen beziehungsweise sie ganz und gar zu umgehen, indem sie einen Teil ihres Geschäfts ins Ausland verlegen. Und damit bekommt der Staat nach wie vor nicht die Steuern, die möglich wären und die er gerade jetzt für die Entwicklung des Landes und für die Verteidigung benötigt."
Auch wenn die Korruption längst nicht besiegt ist, so wird sie doch nicht mehr hingenommen. Das Klima wandelt sich, berichtet auch die Abgeordnete Hanna Gopko.
"Die Regierung hat Kohle aus Afrika gekauft, die erwies sich als minderwertig, aber teuer. Das Antikorruptionskomitee bestellte den Minister ein. Als der nicht erschien, sind die Mitglieder zu ihm ins Büro marschiert und forderten Einsicht in die Verträge."
Achmetow Bestechung vorgeworfen
Sergej Leschtschenko, der bis Kurzem als investigativer Journalist den Ruhm der "Ukrainska Prawda" mit begründete, findet, dass die Hauptschuldigen immer noch unbehelligt agieren können.
"Die Oligarchen sind sehr einflussreich und verfolgen weiter ihre korrupten Interessen. Igor Kolomojski bei der Erdölförderung mit der Firma Ukrneft. Ukrneft ist zu 51 Prozent Staatseigentum, das Management beherrscht aber Kolomojski, der 43 Prozent der Anteile besitzt. Um eine Aktionärsversammlung einzuberufen, braucht es ein Quorum von 60 Prozent, Kolomojski mit seinen 43 Prozent Anteilen blockiert die Einberufung der Versammlung und kontrolliert so weiter die Firma, die er schon seit Präsident Kutschmas Zeiten führt. Es gelingt ihm bis jetzt, seine Absetzung zu verhindern. Ukrneft ist eine durch und durch korrupte Angelegenheit."
Rinat Achmetow, der nicht nur einen Fußballklub, sondern vor allem Stahlbetriebe, Kohlegruben und Kraftwerke besitzt, muss zwar gerade erleben, wie ein großer Teil seiner Unternehmen in der Ostukraine zerstört wird, doch hält sich das Mitleid mit dem reichsten Mann des Landes in Grenzen. Anders als Kolomojski aus Dnipropetrowsk, der eine Reihe von Freiwilligenbataillonen finanziert, engagiert sich Achmetow bei weitem nicht so wie er könnte in der Verteidigung der angegriffenen Ukraine, sagen seine Kritiker. Sie werfen ihm vor, die Separatisten zu bestechen, damit seine Fabriken nicht beschossen werden und so die Gegenseite zu finanzieren. Leschtschenko moniert, dass Achmetow noch immer die Energiepreise diktiert, selbst in Notzeiten, als die Ukraine kein russisches Gas mehr bekam.
"Die in Achmetows Kraftwerken erzeugte Wärme ist die teuerste auf dem Markt. Strom aus staatlichen Atomkraftwerken hat weit niedrigere Tarife. Dmitri Firtasch verdient am Erdgas, das für die Bevölkerung bestimmt ist. Das wird sehr billig verkauft, Gas für die Industrie ist dagegen sehr teuer. Firtasch hat Chemieunternehmen, die sehr viel Gas verbrauchen. Über das Gasnetz, mit dem die Bevölkerung versorgt wird, geht viel billiges Gas verloren und gelangt in seine Betriebe, wo eigentlich viel teureres Gas genutzt werden müsste. Das macht seine Firmen sehr rentabel. Erdöl, Erdgas, Energie sind alles Bereiche, in denen die Korruption blüht."
Die Fernsehkanäle gehören den Oligarchen
Als im Mai vorigen Jahres Petro Poroschenko als Favorit bei der Präsidentschaftswahl antrat, war bei manchem auf dem Maidan die Enttäuschung groß. Ausgerechnet ein Oligarch als Staatsoberhaupt. Andere jedoch fanden, dass wirtschaftlicher Erfolg nicht die schlechteste Voraussetzung für das höchste Amt ist.
Poroschenko hat vor der Präsidentschaftswahl versprochen, seine Firmen zu verkaufen. Heute reagiert er verschnupft, wenn man ihn darauf anspricht. Ausdrücklich ausgenommen von seinem Versprechen hat er den 5. Kanal, seinen Fernsehsender. Von dem trenne er sich unter keinen Umständen - eine Gemeinsamkeit, die der Präsident mit den anderen Oligarchen teilt.
"Die Fernsehkanäle gehören den Oligarchen und die senden nur, was ihren Interessen, was der Pflege ihrer Beziehungen dient – zum Präsidenten, zum Premier. Es hat mit Pressefreiheit nicht viel zu tun, wenn über allem die Interessen der Eigner stehen. Man findet Kritik am Präsidenten, das ist alles erlaubt, doch sie ist immer davon abhängig, wem der Fernsehkanal gehört."
Die Glaubwürdigkeit der neuen Regierung messen die Aktivisten auf dem Maidan auch an der Aufklärung der tödlichen Schüsse vor einem Jahr. Auch wenn sie erst der Anfang vom Sterben in der Ukraine waren. Sonja Koschkina, die ein Buch über die Ereignisse in der ukrainischen Hauptstadt geschrieben hat, meint, inzwischen mehr in Erfahrung gebracht zu haben als die Generalstaatsanwaltschaft.
Probleme noch nicht gemeistert
"Geschossen haben eine 'Berkut'-Spezialeinheit und Scharfschützen des Geheimdienstes. Den Befehl, Waffen gegen den Maidan einzusetzen, gab es schon am 14. Februar. Und er sah vor, nicht einfach nur das Feuer zu eröffnen, sondern unter ganz genau definierten Umständen zu schießen. Das geschah am 20. Februar, als die Berkut-Einheiten einen Angriff auf die Demonstranten eröffnet haben. Das war das Signal."
Die Ukraine hat ihre Probleme mitnichten gemeistert, zumal das allergrößte, der Krieg, das Land vor eine möglicherweise unlösbare Aufgabe stellt. Doch das gesellschaftliche Klima hat sich grundlegend verändert. Das Land gehe durch eine Katharsis, meinen unverbesserliche Optimisten. Alles wird heute breit diskutiert. Mitunter zu offen, wie beim Streit der Freiwilligenbataillone mit der Armeeführung und dem Präsidenten während der Einkesselung in Debalzewe. Das spiele dem Feind in die Hände, wurde allenthalben gewarnt.
Oleg Rybatschuk hat das Präsidialamt von Viktor Juschtschenko geleitet, dem Vorgänger des vor einem Jahr geflohenen Janukowitsch. Juschtschenko, so Rybatschuks Enttäuschung, erwies sich als ebenfalls als korrupt. Doch im Unterschied zu damals sei die Geduld der Gesellschaft heute aufgebraucht.
"Durch die erneute Mobilisierung kehren um die 15.000 sehr aktive Leute von der Front zurück, meist Freiwillige. Wenn sie hier jetzt auf korrupte Beamte treffen, womöglich auf ihr Geld für ihre Kampfeinsätze warten müssen, dann werden sie das nicht tolerieren, sondern massenweise auf die Straße gehen. Die waren dabei, als ihre Freunde gestorben sind. Wenn die jetzt hier die fetten Katzen sehen, dann kann das gefährlich werden. Die Zivilgesellschaft ist nicht mehr nur mit Wissen ausgerüstet."