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Ein Jahr nach dem Mord an Theo van Gogh

Der bestialische Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh durch einen islamistischen Fanatiker im November 2004 hat die traditionell toleranten Niederlande zutiefst erschüttert und die latenten Zweifel am Funktionieren der multikulturellen Gesellschaft auch dort an die Oberfläche gebracht. Für den Publizisten Gert Mak sind die Ereignisse rund um den Tod van Goghs indes die "Geschichte einer moralischen Panik".

Von Claudia Heissenberg |
    "Wie können wir diese Geschichte je unseren Enkeln erzählen, das; was sich in den letzten Monaten des Jahres 2004 zugetragen hat? Woran werden wir uns erinnern? An den durchbohrten Leib des Filmemachers Theo van Gogh? An die sich gebetsmühlenartig bewegenden Lippen der Politiker und Intellektuellen? Oder an das Gefühl der Gefahr, an die ungeheure Kälte, die an diesem 2. November 2004 mit einem Mal in unser Haus eindrang? Deichbrüche, Nazis, die rote Gefahr, über all das hatten wir endlos geredet und nachgedacht. Aber dieser Mörder, dieser Mohammed B. und sein Gedankengut, verkörperte eine völlig neue Gefahr. "

    So beginnt Geert Maks Buch "Der Mord an Theo van Gogh", das in den Niederlanden heftige Diskussionen ausgelöst hat. Denn der erfolgreiche Autor, der viele Jahre als Redakteur beim seriösen NRC Handelsblad tätig war, geht mit seinen Landsleuten hart ins Gericht. Das grausame Attentat auf den umstrittenen Filmemacher ist für Mak nur der Ausgangspunkt für eine sehr persönliche Abrechnung mit den Ereignissen im vergangenen Winter. In den Tagen und Wochen nach dem Mord schwappt eine Welle der Gewalt über die Niederlande. Die Polizei registriert fast 200 Anschläge auf islamische und christliche Einrichtungen.

    "Danach ging es erst richtig los. In den Niederlanden öffneten sich mancherorts in den Medien und vor allem auf den Websites die Jauchegruben, und der jahrelang aufgestaute Fremdenhass – ach, wie politisch korrekt waren wir doch immer gewesen – spritzte heraus. In meiner Stammkneipe war plötzlich "Fick Allah in den Arsch" auf die Klotür geschmiert. "

    "Die Geschichte einer moralischen Panik" – so der Untertitel des 104 Seiten dünnen Büchleins – ist eine Streitschrift gegen die kollektive Angst, die die Niederlande nach dem Mord an Theo van Gogh erfasste. Immer lauter wurden die Warnungen vor der "islamistischen Gefahr". Fast 90 Prozent der Niederländer erklärten in einer Umfrage kurz nach dem Attentat, dass die Politiker versagt hätten bei der Bekämpfung radikaler Fundamentalisten. Knapp die Hälfte gab an, dass sie weniger tolerant gegenüber Muslimen ist. Laut Mak waren in erster Linie Politiker und Journalisten verantwortlich für die Panikmache. So sagte Geert Wilders, damals noch Mitglied der liberal-konservativen Partei VVD, in einer Parlamentsdebatte.

    "Ich bin betroffen und ich bin wütend. Ich bin wütend, weil Theo van Gogh auf barbarische Weise ermordet wurde von einem Moslemterroristen mit faschistischem Gedankengut. Ich bin betroffen, weil meine verehrte Freundin und Kollegin Aayan Hirsi Ali allein aufgrund ihrer Meinung seit mehr als zwei Jahren bedroht wird und kein normales Leben mehr führen kann. Aber auch, weil bereits seit geraumer Zeit in den Niederlanden durch gewisse Imams in einer Anzahl von Moscheen Dinge passieren, die das Tageslicht scheuen und das Kabinett trotz Dutzender Anfragen meinerseits nichts, aber auch gar nicht dagegen unternommen hat. "

    Anstatt zu beschwichtigen, wurden Politiker und Medien zu Dienstleistern der öffentlichen Empörung und gaben der Hysterie immer neue Nahrung.

    "Wer in diesen Wochen die Medien verfolgte, sah ein Land, das sich von seinen internationalen Bindungen losgerissen zu haben schien, losgerissen auch von allen historischen Wurzeln, ausschließlich auf sich selbst konzentriert. Angst schien zum zentralen Element des niederländischen Weltbildes zu werden. Die komplizierte Situation, in der wir steckten, wurde ständig auf Schlagworte, Panik und Halbwahrheiten reduziert. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das in anderen Ländern bei solchen Krisen oft eine stabilisierende Rolle übernimmt, entschied sich in den Niederlanden für das Gegenteil. Im heftigen Konkurrenzkampf mit den kommerziellen Sendern zählte bei den Einschaltquoten jeder Prozentpunkt. Das bedeutete, dass die Zuschauer um jeden Preis mit Gefühl und Adrenalin festgehalten werden mussten. Die mühselige Suche nach der Wahrheit zählte kaum mehr, alles drehte sich darum, große Gefühle zu wecken."

    Auffallend ist für Geert Mak vor allem der Realitätsverlust bei vielen Intellektuellen. Er kritisiert die Leichtfertigkeit, mit der von einem Einzeltäter auf ganze Kulturen geschlossen wurde und den Unwillen, Zahlen und Fakten überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Zum Beispiel, dass von den 900.000 Moslems in den Niederlanden gerade mal 5.000 Anhänger fundamentalistischer Führer sind, von denen wiederum nur ein- bis zweihundert tatsächlich gewalttätige politische oder religiöse Ansichten vertreten. Geradezu entlarvend findet der Autor die Sprache seiner Landsleute.

    "Im Radio hörte ich eine honette Dame über "die guten Moslems, die es auch gab" sprechen, als sei die übergroße Mehrheit schlecht. Der Wortführer der Rechtsnationalen rief, dass er "diese Kopftücher fressen könnte". "

    "Wenn man in der Öffentlichkeit ständig dieses Bild reproduziert von dem Anderssein der Zuwanderer, bestätigt man auch in den Köpfen der Einheimischen die Idee, dass dies zwar Leute sind, die man respektieren muss, aber zu gleicher Zeit auch Leute, die anders sind als du. Und die eine eigene Kultur haben, die so ihre eigene Ecke in der Gesellschaft haben."

    Sagt Ruud Koopmans, Soziologieprofessor an der Vrije Universiteit Amsterdam. Geert Mak geht in seinem Bericht über den Zustand der niederländischen Gesellschaft sogar noch weiter. Getreu dem Motto "Wehret den Anfängen" zieht er Parallelen zum Nationalsozialismus in Deutschland und dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien.

    "Weimar um 1930 und Serbien um 1990 waren unendlich viel instabiler als die alte niederländische Bürgerdemokratie um 2005, und das Ausmaß der Gewalttätigkeiten war unvergleichlich größer. Aber trotzdem muss man, auch wenn es einem nicht in Dank abgenommen wird, hin und wieder Alarm schlagen, sobald soziale und politische Entwicklungen sichtbar werden, die unerfreuliche Ähnlichkeiten mit vergleichbaren Prozessen in der Vergangenheit zu zeigen beginnen: wenn das Fehlverhalten einiger weniger der ganzen Minderheitsgruppe zugeschrieben, alle Gegensätze auf religiöse Fragen zugeführt, der Rechtsstaat ausgehöhlt, Angst ausgebeutet wird."

    Nach Ansicht des Autors trug auch der elfminütige Kurzfilm "Submission Part 1", den Theo van Gogh gemeinsam mit der Parlamentsabgeordneten Aayan Hirsi Ali realisierte, zum negativen Image des Islam bei. Die gebürtige Somalierin, die vor einer Zwangsehe aus ihrer Heimat flüchtete und seit 1992 in den Niederlanden lebt, prangert in dem Film die Unterdrückung muslimischer Frauen an.

    "Als ich 16 war, überbrachte mir mein Vater die Neuigkeit in der Küche. "Du wirst Azziz heiraten, er stammt aus einer tugendhaften Familie und wird gut auf dich Acht geben." Der Hochzeitstag war mehr ein Fest für die Familien als für mich. In der Nacht ließ ich ihn gewähren. Jedes Mal, wenn ich ihn wegstieß, zitierte er dich: Wenn die Frauen rein sind, darf der Mann sich ihnen nähern – zu jeder Zeit, auf jede Weise, an jedem Ort, bestimmt für ihn durch Allah."

    "Aayan Hirsi Ali hat etliche Male betont, es sei nie ihre Absicht gewesen zu unterstellen, dass alle moslemischen Männer ihre Frauen schlügen. Dennoch verkündet die Bildsprache ihres Films genau diese Botschaft. Die Misshandlung von Frauen wird in den Szenenfolgen immer wieder mit Korantexten verknüpft und mit den "Rechten" und "Pflichten", die moslemische Männer geltend machen können. Wahrscheinlich, ohne dass sich die Macher dessen bewusst waren, haben sie beispielsweise mit demselben Schema gearbeitet, das von Joseph Goebbels 1940 in seinem berüchtigten Film "Der ewige Jude" verwendet wurde. Durch die Koppelung von Exzessen und heiligen Texten wird suggeriert, alle Anhänger einer bestimmten Religion dürften oder müssten sich so verhalten. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht mir bei diesem Vergleich allein um eine einzige, bestimmte formale Technik. Es liegt mir fern, die Macher in eine Ecke zu stellen, in die sie absolut nicht gehören. "

    Nicht nur wegen dieses doch sehr gewagten Vergleichs musste der Autor in den Niederlanden eine Menge Kritik einstecken. Das schmale Buch, für viele nicht mehr als ein weiterer Schnellschuss in der ohnehin aufgeheizten Debatte, spaltete die Nation. Für deutsche Leser, die nicht über ein fundiertes Hintergrundwissen der niederländischen Geschichte verfügen und Submission Part 1 nicht kennen, bleibt manches schwer verständlich. Trotzdem ist Maks Essay eine interessante, wenn auch einseitige Analyse der Hysterie am Ende des Jahres 2004. Ein Aufruf zur Mäßigung und zu einem friedlichen Zusammenleben der Kulturen, der dem politisch korrekten Leser aus dem Herzen sprechen dürfte, und alle anderen vielleicht zum Nachdenken anregt.

    "Allmählich ist es an der Zeit, die Realität zu akzeptieren, einmal Schluss zu machen mit dieser sinnlosen Radikalisierung, mit den falschen Gefühlen, der Diskriminierung und Angsthuberei. Aber es ist auch an der Zeit, uns ganz nüchtern und konkret an die Arbeit zu machen, echte Toleranz zu lehren – einschließlich der dazugehörenden Konflikte – und zu überlegen, welche nationale Geschichte wir den kommenden Generationen weitergeben sollen. Wer die Niederlande zu einer kulturellen Festung umbauen möchte, reduziert die schwierige Zeit, in der wir leben, auf eine einzige große innere Angstphantasie. Wir, die Niederländer, können uns nicht länger erlauben, nur auf unseren Nabel zu starren. Dafür sind die wirklichen Herausforderungen und Gefahren des 21. Jahrhunderts zu groß."

    Rezension von Claudia Heissenberg über Geert Mak: Der Mord an Theo van Gogh. Geschichte einer moralischen Panik. Als Taschenbuch in der Edition Suhrkamp Frankfurt/Main, 104 Seiten zum Preis von 8 Euro.