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Ein Jahr nach Referendum
Katalonien im Standby-Modus

Vor einem Jahr stimmte Katalonien in einem verbotenen Referendum über seine Abspaltung von Spanien ab. Während die Befürworter heute weiter für eine Unabhängigkeit kämpfen, sind andere das Thema leid: Katalonien habe auch noch andere Probleme, die nicht angegangen würden, so die Kritik.

Von Julia Macher |
    Symbolische Wahlurne der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung mit der Parole: "Ohne Ungehorsam gibt es keine Unabhängigkeit"
    Befürworter der Unabhängigkeit wünschen sich eine katalanische Republik (picture-alliance / dpa / Robert B. Fishman)
    Als die Urne ankommt, gibt es Applaus. Vor der Grundschule Escola Univers im Stadtteil Gràcia haben sich 60 Frauen, Männer und Kinder zu einer Menschenkette aufgestellt und reichen den Plastikbehälter von Hand zu Hand - bis er wieder dort steht, wo er auch vor einem Jahr stand. "Vam votar", "Wir haben gewählt", skandiert die Menge. Es ist eine von Dutzenden Aktionen, mit denen die katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter an den 1. Oktober erinnern. Statt Wahlzetteln kommen "Gute Wünsche für die Republik" in die Box. Maria-José Flores schreibt ihren Wunsch auf ein Stück Papier, faltet es dann ordentlich zusammen.
    "Mein Hauptwunsch ist, dass unsere Regierung den Willen des Volkes respektiert. Das Referendum hat uns gezeigt, dass wir als Volk sehr viel mehr können, als wir glauben. Die Erinnerung an den 1. Oktober empört mich immer noch: Einen Zettel in die Wahlurne zu stecken, rechtfertigt nicht, dass Leute geschlagen werden."
    Empörung über Polizeieinsatz vor einem Jahr
    Empörung über den Polizeieinsatz vom letzten Jahr – und Ärger über die katalanische Politik: Auch an der Escola Cervantes in der Altstadt ist die Stimmung ähnlich. Hier hat man sich am Vortag des Jubiläums zum Plakate malen verabredet. Auf den Tischen liegen DinA3-Blätter mit Bildern von blutenden Menschen. Das Wahllokal in der benachbarten Schule Pau Claris wurde damals rabiat von der Polizei geräumt. Viele der Plakatemaler waren an der Schulbesetzung beteiligt und haben den Einsatz miterlebt. "Die Sehnsucht nach Freiheit ist größer als die Angst", schreibt Mayte auf ihr Plakat. An diesem Tag haben wir gewählt, gewonnen – und nichts hat sich verändert, sagt Mayte. Was die katalanische Regionalregierung hätte tun sollen?
    Kinder und Erwachsene malen Plakate, auf denen sie die Unabhängigkeit Kataloniens fordern
    An der Escola Cervantes in der Altstadt malen Unabhängigkeits-Befürworter Plakate (Deutschlandradio - Julia Macher)
    "Das Ergebnis umsetzen, die Republik einführen – aber selbst jetzt geben unsere katalanischen Politiker uns immer nur Krümel. Sie haben einfach keine Lust, das Projekt umzusetzen, dass sie uns damals versprochen haben."
    Dabei habe das Volk doch klar für die Unabhängigkeit gestimmt, sagt Mayte und beugt sich wieder über den Tuschekasten. Patricia Morales verdreht die Augen, wenn jemand in Zusammenhang mit dem Referendum vom "poble", vom "Volk" spricht. Das Referendum sei keine legale Abstimmung, sondern eine Inszenierung gewesen – die fast ausschließlich Unabhängigkeitsbefürworter und insgesamt gerade mal 42 Prozent der Wählerschaft moblisiert hat. Die gebürtige Andalusierin lebt und arbeitet seit 15 Jahren als Architektin in Barcelona, aber seit so viel von "Volk" die Rede ist, fühlt sie sich ausgegrenzt. Vor ein paar Wochen habe man ihre Bewerbung ausgeschlagen, weil der Auftraggeber ein Büro mit einem katalanischen Namen bevorzugte.
    "So offen wäre das früher nicht passiert. Das ist hässlich. Man versucht hier alles, aber dann heißt es plötzlich 'Nein, den Job kriegst du nicht, weil du kein Katalane bist oder nicht zu bestimmten Kreisen gehörst.' Wenn man so etwas mitbekommt, dann überlegt man, zu gehen – aus Erschöpfung."
    Vom Erstarken der Nationalismen, von einer gespaltenen Gesellschaft, schreiben Politologen. Tatsächlich gibt es in Katalonien ein Jahr nach dem Referendum nicht nur einen pro-spanischen und einen pro-katalanischen Block.
    Frauen schreiben Wünsche für die Republik auf bunte Blätter
    Frauen schreiben Wünsche für die Republik auf bunte Blätter (Deutschlandradio - Julia Macher)
    Viele haben von dem Thema genug
    Die Placa d'Osca im Stadtviertel Sants. Der Spätsommer ist mild, die Tische der Straßencafés vollbesetzt. An den Bäumen und Laternen hat jemand gelbe Schleifen befestigt: das Symbol für die Solidarität mit den inhaftierten katalanischen Politikern – und denjenigen, die wie Carles Puigdemont inzwischen in Belgien oder Großbritannien oder der Schweiz leben. Irene Canada ist auf den katalanischen Ex-Präsidenten nicht gut zu sprechen.
    "Carles Puigdemont hat einfach keine Verantwortung übernommen. Er ist abgehauen, hat die Hälfte seiner Regierung im Knast gelassen – und trotzdem versuchen sie ihn zu einem Anführer hochzustilisieren. Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Wir sind im Standby-Modus. Es wird in Katalonien nur über das eine Thema gesprochen. Das blockiert. Es gibt so viele schwere, soziale Probleme, die deswegen nicht angegangen werden. Ich bin das Thema einfach leid."
    Sie vermeide inzwischen Gespräche über den "procés", wie das Unabhängigkeitsstreben in Katalonien genannt wird. Als im Sommer Mariano Rajoy stürzte und in Madrid die neue sozialistische Regierung mit dem Versprechen auf Dialog ihr Amt antrat, glaubte sie, die Lage könne sich entspannen. Inzwischen ist sie skeptisch.
    "Ich habe neulich ein Interview mit einem Philosophen gesehen, der sagte, dass bei einem Dialog beide Seiten gewillt sein müssen, etwas zu verlieren. Doch dazu ist weder die katalanische Regionalregierung unter Quim Torra noch Pedro Sánchez bereit. Die Sozialisten waren damals zwar nicht in Regierungsverantwortung, aber sie haben jetzt Angst, als Schwächlinge dazustehen."
    Vor der konservativen spanischen Opposition, die sich ihrerseits zum Verteidiger des spanischen Vaterlandes aufschwingt. Irene rührt nachdenklich in ihrem Tee. Vermutlich würde es für den Anfang würde schon reichen, wenn man auf die patriotischen Reden vom katalanischen Volk oder der großen spanischen Nation verzichtete.