Er widerspreche dem Eindruck, "dass Europa zerfällt", so Altmaier, der die deutsche Flüchtlingspolitik koordiniert. So sei erreicht worden, "dass weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen"; im Oktober seien es noch 2.000 Flüchtlinge pro Tag gewesen, inzwischen nur noch 100. Der CDU-Politiker betonte, Europa habe alle Entscheidungen zur Bekämpfung der Fluchtursachen gemeinsam getroffen.
Dazu, dass sich nicht alle Länder an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen, sagte Altmaier, er sei überzeugt, dass "ein Land, das sich seiner humanitären Verantwortung stellt, moderner und erfolgreicher ist". Kollegen anderer Länder sage er immer wieder, "dass man nicht den Welthandel globalisieren kann und in einer Flüchtlingskrise so tut, als könne man die Rollläden herunterziehen, die Klingel ausschalten und die Decke über die Ohren ziehen".
Auch ohne eine Obergrenze zu definieren, sei es gelungen, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Deutschland habe viele Menschen aufgenommen und sie nach und nach registriert. Nun müssten die Flüchtlinge in die Gesellschaft integriert werden. Abgelehnte Asylbewerber müssten zurückgeführt werden, betonte Altmaier.
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Vor einem Jahr schlossen die Ungarn ihren Grenzzaun auf der Flüchtlingsroute. Seit dem Spätsommer vergangenen Jahres ist viel passiert. Gut eine Million Flüchtlinge kamen nach Deutschland, im laufenden Jahr werden es noch einmal rund 300.000 sein, rechnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vor. Deutlich weniger Flüchtlinge also, auch weil seit März das umstrittene Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gilt.
Wir wollen sprechen mit Peter Altmaier von der CDU, Chef des Bundeskanzleramtes und dort Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung. Guten Morgen, Herr Altmaier.
Peter Altmaier: Guten Morgen!
Dobovisek: Die Osteuropäer greifen die Kanzlerin nach wie vor scharf an für ihre Flüchtlingspolitik. Wir haben es gerade gehört. Auch andere europäische Partner wenden sich ab. Radikale Parteien legen fast überall zu. In Großbritannien beim Brexit-Referendum spielten Flucht und Migration eine wichtige Rolle. Auch all das gehört zur Flüchtlingskrise dazu, Herr Altmaier. Ist Angela Merkel verantwortlich für den Zerfall Europas?
Von 7.000 Menschen pro Tag zu 100 Menschen, die zu uns kommen
Altmaier: Ich widerspreche entschieden, dass Europa zerfällt. Europa hat in der Flüchtlingskrise zu Anfang manche Erwartungen nicht erfüllt. Wir hätten uns ganz sicherlich schnellere Entscheidungen und an der einen oder anderen Stelle auch mehr Solidarität gewünscht. Aber Europa ist in dieser Zeit sehr stark vorangekommen beim Schutz seiner Außengrenzen, bei der Zusammenarbeit mit den Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen. Das alles hat zu dem EU-Türkei-Abkommen geführt und dazu, dass heute wesentlich weniger Flüchtlinge nach Europa kommen als beispielsweise vor einem Jahr und im ganzen zweiten Halbjahr 2015.
Wir hatten im Oktober letzten Jahres zeitweise bis zu 7000 Menschen am Tag, die von der Türkei nach Griechenland kamen. Das sind im Augenblick gerade mal etwa 100 Menschen pro Tag. Das zeigt, dass Europa eine ganz wichtige Aufgabe hat.
Allerdings ist es auch richtig, dass wir in Deutschland dadurch, dass wir Flüchtlinge aufgenommen haben und gleichzeitig auf gemeinsamen europäischen Entscheidungen und Vorgehen bestanden haben, dass wir eine ganz wichtige Funktion darin hatten, die unterschiedlichen Meinungen zusammenzuführen. Das haben wir immer und immer wieder getan.
"Ein Land, das Menschen in Not hilft, ist moderner und erfolgreicher"
Dobovisek: Aber, Herr Altmaier, wo bleibt denn die europäische Solidarität, wenn wir Angela Merkel beobachten, wie sie vergangene Woche zum Beispiel durch Europa reist und gerade bei den Osteuropäern weiter auf Granit beißt?
Altmaier: Ich kann nur feststellen, dass wir alle Entscheidungen in Europa, was die Bekämpfung der Fluchtursachen angeht und was die Reduzierung der Zahlen angeht, gemeinsam getroffen haben. Ich kann feststellen, dass es nicht nur Deutschland war, sondern auch Länder wie Schweden, die Niederlande, Österreich, die sehr viele Flüchtlinge aufgenommen haben.
Und der dritte Punkt ist: Es gibt in vielen osteuropäischen Ländern Debatten darüber, ob man überhaupt Flüchtlinge aufnehmen soll und wenn ja wie viele. Diese Debatten sind dort sehr schmerzhaft, die werden auch sehr kontrovers geführt in diesen Ländern. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Land, das sich seiner humanitären Verantwortung stellt, dass ein Land, das Menschen in Not hilft, dass ein solches Land insgesamt auch moderner und erfolgreicher ist in einer globalisierten Welt. Das ist jedenfalls die Erfahrung, die wir in Deutschland seit vielen Jahrzehnten immer und immer wieder gemacht haben.
Und deshalb, wenn ich mit Kollegen aus diesen osteuropäischen Ländern rede, dann sage ich ihnen immer auch, dass man nicht den Welthandel globalisieren kann, die Dienstleistung globalisieren kann und dann so tun kann, als könne man bei einer Flüchtlingskrise die Rollläden herunterlassen, die Klingel abschalten, sich ins Bett legen und die Decke über die Ohren ziehen.
Die große Aufgabe, Flüchtlinge zurückzuführen oder zu integrieren
Dobovisek: Und genau diese Länder gibt es in der Europäischen Union.
Altmaier: Aber das ist doch nicht unser Diskussionspunkt heute Morgen. Es geht heute Morgen darum, dass wir noch einmal Bilanz ziehen, was wir denn in Deutschland erreicht haben und was die Aufgaben für die nächsten Wochen und Monate sind. Da kann ich nur feststellen, dass wir in dem einen Jahr, das vergangen ist, sehr, sehr viel mehr nicht nur in der europäischen, auch in der deutschen Flüchtlingspolitik geordnet und zustande gebracht haben, als viele uns zugetraut hätten.
Wir haben es geschafft, die vielen Menschen aufzunehmen, sie über Winter so unterzubringen, dass niemand frieren musste. Wir haben es geschafft, die Menschen nach und nach alle zu registrieren, die Verfahren zu beschleunigen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat heute doppelt so viele Mitglieder, die Zahl der Entscheidungen hat sich verdoppelt und wir haben jetzt die große Aufgabe vor uns, diejenigen, die abgelehnt werden, zurückzuführen und gleichzeitig diejenigen, die für eine gewisse Zeit oder auch auf Dauer bei uns bleiben, zu integrieren. Da werden alle gebraucht. Wir können lange darüber diskutieren, ob der eine oder andere Partner falsch liegt. Aber entscheidend ist, dass wir hier die richtigen Maßnahmen hier in Deutschland ergreifen.
Dobovisek: Pardon, wenn ich da mal reingehen muss. Genau da sagt Sigmar Gabriel, es muss eine Art Obergrenze geben für die Integration, weil wir es nicht anders schaffen.
"Es werden weniger Menschen nach Deutschland kommen"
Altmaier: Sigmar Gabriel ist SPD-Parteivorsitzender und seine Partei ist im Augenblick in keiner beneidenswerten Situation. Dem ist vielleicht auch das eine oder andere an Zuspitzung geschuldet. Ich will nur darauf hinweisen, dass die Obergrenze, die Sigmar Gabriel immer gefordert hat, weit oberhalb dessen liegt, was wir glauben, dass wir in diesem Jahr in Deutschland aufnehmen werden. Wir haben uns darum bemüht und darum gekümmert, dass wir die tatsächlichen Zahlen der Menschen, die hier ankommen, reduzieren, ganz ohne Obergrenze, und das ist uns gelungen. Wenn Sie die Zahlen sehen, wie sie sich entwickelt haben, insbesondere seit März und seit April, dann werden Sie feststellen, dass nur noch ein Bruchteil der Menschen nach Deutschland kommt.
Dieser Trend ist sehr vorsichtig und sehr sorgsam zu behandeln, denn wir wissen alle, dass sich die Dinge ändern können, und deshalb ist es unsere Aufgabe, die Entwicklung zu stabilisieren, und das ist uns jetzt über einen Zeitraum eines halben Jahres sehr gelungen, sodass Herr Weise vom Bundesamt für Migration und viele andere heute schon die Prognose wagen, dass bei weiterem Verlauf wesentlich weniger Menschen nach Deutschland kommen als die ganze Zeit vorher.
Dobovisek: Aber trotzdem immer noch mehr als zum Beispiel sich Horst Seehofer von der CSU vorgestellt hat, als er über Obergrenzen sprach.
Altmaier: Das weiß ich gar nicht, weil wenn Sie sich das anschauen - Herr Weise hat ja gestern und vorgestern die Zahlen auch öffentlich genannt -, sind unter diesen vor allen Dingen diejenigen Menschen, die im Januar und Februar gekommen sind. Das waren noch sehr viele, weil zu dem Zeitpunkt das EU-Türkei-Abkommen noch nicht wirksam war. Seit dieses Abkommen wirksam ist, ist die Zahl der neu in Deutschland ankommenden Menschen stark zurückgegangen. Und wenn Sie den 1. April sozusagen als Stichtag wählen und dann hochrechnen auf das, was seither an Neuankünften in Deutschland registriert worden ist, dann haben wir ganz andere Zahlen und die liegen wesentlich niedriger, als alle Beteiligten in den letzten Monaten erwartet haben.
Dobovisek: Lassen wir uns da noch mal gemeinsam auf die unterschiedlichen Haltungen innerhalb der Union blicken, zwischen CSU und CDU. Da heißt es jetzt, es soll eine Entscheidung geben über die Kanzlerkandidatur der Bundeskanzlerin, der eventuellen, und zwar erst nachdem sich beide Parteien über ihre Grundhaltung auch zur Flüchtlingskrise ausgetauscht haben. Darüber haben wir schon viel in den letzten Wochen und Monaten berichtet, viel gehört, viel gesehen, viel erlebt. Wer sagt uns, dass bis November, bis Dezember - dann finden die beiden Parteitage statt - tatsächlich dort eine Einigung erzielt werden kann?
"Alle Entscheidungen in der Koalition gemeinsam getroffen"
Altmaier: Wir haben uns heute Morgen zur Flüchtlingsherausforderung verabredet.
Dobovisek: Ja! Das ist ja ein Teil davon.
Altmaier: Dazu bin ich als Chef des Bundeskanzleramtes auch auskunftsfähig auf alle Ihre Fragen. Wir haben zwischen CDU und CSU in den letzten Monaten auch schwierige Diskussionen gehabt. Es gab unterschiedliche Vorstellungen zwischen den beiden Parteien. Wir haben aber - und das ist mir ganz wichtig - alle Entscheidungen, die Angela Merkel vorgeschlagen hat, alle Entscheidungen, die diese Bundesregierung, die der Bundestag getroffen haben, in der Koalition gemeinsam getroffen, und zwar unter Mitwirkung, unter Beteiligung von Sigmar Gabriel und von Horst Seehofer, die als Parteivorsitzende eine ganz entscheidende Rolle spielen in dieser Koalition. Die Koalition war funktionsfähig und wir werden alles tun, dass dies auch so bleibt.
Und im Übrigen: Was die Frage der Kanzlerkandidatur angeht, das überlassen Sie getrost der CDU und der CSU. Wir haben das die letzten dreimal sehr überzeugend gelöst, diese Herausforderung, und wir werden, wenn es so weit ist und wenn es angebracht ist, auch dann wieder darüber gemeinsam reden. Aber jetzt ist doch entscheidend, dass die Regierung handlungsfähig ist. Jetzt ist entscheidend, dass wir uns nicht in parteipolitischen Diskussionen, in Wahlkampfdiskussionen verlieren, sondern darüber sprechen, was muss denn geschehen, damit die erfolgreiche Bewältigung der Flüchtlingsherausforderung stabilisiert wird. Dazu gehört für mich zum Beispiel, dass wir auch Menschen davon überzeugen, dass es keinen Sinn macht, über Afrika und Italien nach Europa zu kommen. Ich würde mir wünschen beispielsweise, dass wir es schaffen, auch die rot-grün regierten Landesregierungen zu überzeugen, dass Marokko, Algerien, Tunesien zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden müssen.
"AfD macht eine sehr schäbige Art von Politik"
Dobovisek: Zu diesem Bild, Herr Altmaier, gehört aber auch die Radikalisierung in Deutschland und das Aufstreben der AfD, sozusagen auch als Quittung für die Flüchtlingspolitik.
Altmaier: Ja was die AfD macht ist eine sehr schäbige Art von Politik, weil sie die Sorgen der Menschen, die ja vorhanden sind und die man ernst nehmen muss, diese Sorgen nimmt die AfD nicht zum Anlass, um die Probleme zu lösen, sondern sie missbraucht diese Sorgen für ihre parteipolitischen Zwecke. Das finde ich schäbig und ich glaube, dass wir unsere Diskussion führen müssen innerhalb der Parteien, die seit Langem im Bundestag, im Bundesrat die Verantwortung tragen. Das sind CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne. Wir haben die Herausforderung, gemeinsame Antworten zu geben, und das haben wir zuletzt getan mit der Einigung von Bund und Ländern über die Finanzierung der Integration der Flüchtlinge. Wir haben die Kommunen und die Länder nicht im Stich gelassen, sondern geholfen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.