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Ein Jahrhundert im Umbruch

In seinem neuen Roman "Halbschatten" nimmt Uwe Timm das ganze zwanzigste Jahrhundert mit seinen Umbrüchen 1933, 1945 und 1989, mit seinen mörderischen und emanzipatorischen Träumen ins Visier - im Fokus des Invalidenfriedhofs, der schon von Friedrich II für die verstorbenen Kriegsversehrten eingerichtet wurde.

Rezensiert von Detlef Grumbach |
    "Das ist wirklich ein hoch verdichteter Ort deutscher Geschichte, und zwar einer ganz bestimmten Richtung der Geschichte, nämlich der gewaltsamen, der militärischen Geschichte."

    Der Invalidenfriedhof in Berlin. Fast 50 Jahre war hier Niemandsland. Deutsch-deutscher Grenzstreifen. Zwischen Scharnhorststraße und Kanal, wo bis 1989 die Mauer verlief, steht der Erzähler in Uwe Timms neuen Roman.

    "Also dort liegen unter anderem Moltke der Jüngere, Schliefen, General von Seeckt, Scharnhorst, der Bekannteste, ein General der Befreiungskriege gewesen gegen Napoleon, also ein Ort, in dem hauptsächlich Militärs liegen und in dem die deutsche militärische Geschichte begraben liegt."

    Der Erzähler, etwa so alt wie der 1940 geborene Autor, hat sich mit einem Stadtführer dort verabredet. "Halbschatten" heißt der Roman Timms, in dem er - im Fokus dieses Friedhofs - der Geschichte einer außergewöhnlichen Frau nachgeht, einer berühmten und erfolgreichen Fliegerin, die sich im Mai 1933, im Alter von 25 Jahren, nach einer Bruchlandung in Aleppo in Syrien das Leben genommen hat: Marga von Etzdorf.

    "Und zwischen diesen ganzen Generälen, das war mir aufgefallen, als ich zum ersten Mal nach dem die Mauer, die über diesen Friedhof verlief, geöffnet wurde, lag unter diesen ganzen Militärleuten, Majoren, Obristen, Jagdfliegern, Richthofen, Ude, Mölders, eine Frau. Und auf dem Grabstein steht: Das Fliegen ist das Leben wert."

    Was bedeutet ihr dieser Traum vom Fliegen, in dem sich seit Menschen Gedenken die Freiheitsträume und Sehnsüchte fokussieren? Warum hat Marga von Etzdorf sich in Syrien erschossen und warum wurde sie hier auf diesen Friedhof beigesetzt? Der Erzähler, durchaus als Alter Ego des Autors zu sehen, stellt Fragen, hört dem Stadtführer zu, taucht ein in das Leben dieser Frau, in die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts und eines symbolgeladenen Ortes.
    Marga von Etzdorf war Kunstfliegerin und Co-Pilotin bei der Lufthansa, als das Cockpit noch eindeutig Männerdomäne war. Im Fliegen fühlte sie sich frei und diese Freiheit wollte sie leben. Diesen Augenblick, so wörtlich, "wenn man den Gashebel nach vorne stößt, um der Erde zu entfliehen." Drei spektakuläre Langstreckenflüge hat sie absolviert - erfolgreich bis zu den Rückflügen, da hat sie jedes Mal einen Crash gebaut. Im August 1931 - damit setzt der Roman ein - ist Marga von Etzdorf von Berlin nach Japan aufgebrochen. Dort verbringt sie eine Nacht mit Christian von Dahlem, einem Jagdflieger aus dem Ersten Weltkrieg, im selben Raum, nur durch einen Vorhang getrennt, ganz nah und doch fern voneinander.

    "Also dieser Grundtraum, sich von dieser Erde zu entfernen, zu fliegen, der hat sicherlich sehr unterschiedliche Grundierungen. Bei der Marga ist es ein Kindertraum, einfach zu fliegen, Ballons zu haben, aufzusteigen, in die Luft zu kommen. Und bei dem Dahlem ist das ein sehr pragmatischer Traum, der wollte einfach aus den Schützengräben 1917 raus und hat sich freiwillig gemeldet. Das sind sehr unterschiedliche Formen, und die werden ja auch verhandelt, die beiden öffnen sich ja auch, wenn man so will, ihr Herz, also das, was sie zutiefst bewegt, was sie sich wünschen. Und darüber hinaus kommt dann noch hinzu, dass diese Frau sich ganz offensichtlich in diesen Mann verliebt hat und keine Gegenliebe richtig findet, also das ist ein weiteres Moment des Begehrens, des Träumens."
    Das Gespräch dieser Nacht, Margas Erinnerungen an die Kindheit, an ihre Flüge, Dahlems Erzählungen von den Schützengräben und Luftkämpfen des Ersten Weltkriegs, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. Einen weiteren Strang bilden die Geschichte ihres letzten Flugs 1933, die Bruchlandung in Syrien, Dokumente über ihren Tod. Hat sie sich aus Scham über das eigene Versagen, aus Angst vor dem Spott zu Hause erschossen? Weil Dahlem ihr kein Glück gebracht hat und ihr Traum vom Fliegen damit begraben war? Weil sie sich auch noch von den Nazis hat korrumpieren lassen, als Aushängeschild für das erstarkende Deutschland unterwegs war? Die Antwort bleibt in der Schwebe. "Sie flog für Deutschland" - so ruft eine Stimme aus dem Reich der Toten in die Erzählungen des Stadtführers hinein, oder: "Schandvertrag von Versailles. Den Unsrigen in Übersee Mut machen. Marga von Etzdorf fliegt für Deutschland." Andere Stimmen mischen sich ein, neben dem Traum vom Fliegen werden deutsche Großmannsträume lebendig, setzt sich eine Vereinnahmung der Fliegerin fort, die mit ihrem letzten Flug begonnen und mit dem Begräbnis hier ihren Höhepunkt gefunden hatte. Und dann ist da noch ein gewisser Miller, eine Figur wie der Koch in "Die Entdeckung der Currywurst", der den Nazi-Größen das Essen verdirbt, dass sie reihenweise kotzen müssen. Miller wird noch im April 1945 für einen Witz über den verlorenen Krieg gehenkt und liegt ebenfalls auf dem Invalidenfriedhof begraben. Der weit herumgekommene Schauspieler hatte das Techtelmechtel Margas mit Dahlem beobachtet, wird zu einer Art Chronisten. Zugleich übernimmt er die Rolle eines Schelms, der noch aus dem Grab heraus wider den Stachel löckt, der Macht, Anmaßung und Pathos mit seinem widerborstigen Sprachwitz bloßstellt.

    "Nun, es gibt ganz sicher emanzipative Träume, also die der Selbstbefreiung und der Befreiung des anderen gleichermaßen, und es gibt natürlich diese ganz fatalen Großmachtträume, die sich kristallisieren um die Vielzahl der Figuren, die dort liegt, aber ganz besonders unter anderem dieser Heydrich, der dort liegt, was kaum einer weiß. Und das ist die pervertierteste Form eines Traums, der Traum der Macht, der Traum der Weltherrschaft, ein Rassentraum. Und das ist tatsächlich so, dass da diese verschiedenen Momente in einem Punkt zu finden sind und das ist das Unglaubliche und Spannende daran, die hat sich ja nicht gewünscht, dort beerdigt zu werden, sondern das ist ja schon eine Folge der nationalsozialistischen Politik gewesen."

    Auch dadurch, dass bestimmte Figuren aus den Romanwelten Timms in "Halbschatten" wieder auftauchen, wird das Buch so etwas wie ein Resümee seines bisherigen Schreibens. Insbesondere knüpft der Roman aber an "Johannisnacht" und "Rot" an: In "Johannisnacht" hatte der Autor sein Alter Ego in das pulsierende Leben im frisch vereinten Berlins geführt, ins Zentrum des Epochenumbruchs nach 1989. Mit "Rot" zieht sein Icherzähler Thomas Linde so etwas wie die Bilanz des Aufbruchs 1968. Aus der wachsenden Distanz wird der Erzähler im neuen Roman deutlich zurückgenommen zum Zuhörer:

    "Der Aufbau, der war so gedacht, dass dem Erzähler, der mitten drin ist, wirklich die Geschichten um die Ohren fliegen. Bei dem zweiten ist es wichtig, dieses in die Biographie hineingehen, das ist ja ein durchgehender Ich-Erzähler bei Thomas Linde, der erzählt unendlich Ich Ich Ich, also auch die Geschichten, die er erzählt, sind immer durch ihn gebrochen, und dieser dritte Band, das ist eine viel größere Distanz, auch geschichtlich bedingt, das geht ja teilweise bis Friedrich dem Großen zurück, da ist die Distanz da, die versucht, dieses Unfassliche der deutschen Geschichte zu verstehen, die versucht, zu verstehen, was das ist auch, was Liebe ist, was Begehren ist, was Träume sind, wie sich das in Sprache niederschlägt, wie das formuliert wird."

    An diesem über die deutsche Teilung vergessenen, beinahe verwunschenen Ort wird die Aura einer ehrgeizigen, liebenden und enttäuschten Frau lebendig, verstören die Zwischenrufe derer, die den Menschen ihre Träume abgekauft und sie ins Verderben geführt haben. Uwe Timm erzählt keine Geschichte mit Anfang und Ende, er komponiert ein vielstimmiges Klangbild mit Chor und Solisten, ein Nebeneinander und Übereinander von Bildern und Motiven, in denen der Aufbruch und das tragische Scheitern dieser Frau und die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Symbiose eingehen. Timm verknüpft historisch verbürgten Tatsachen mit frei erfundenen Geschichten, springt in Ort und Zeit, lässt offene Fäden im Raum stehen, um sie irgendwann wieder aufzunehmen. In dieser ungewöhnlichen und virtuos beherrschten Technik entwickelt er eine Leichtigkeit im Erzählen, die den Leser selbst beinahe schweben lässt. So ist "Halbschatten" ein großartiges Buch über das vergangene Jahrhundert, seine emanzipatorischen und zerstörerischen Utopien, darüber, wie Träume sich an der Realität abreiben, wie sie - auch im Scheitern - auf ein menschliches M