Sonntagsgottesdienst auf Aramäisch: Eine einzige alte Frau betet in der Marienkirche von Diyarbakir mit dem Priester und einem Ministranten. Sehr viel größer ist die Gemeinde nicht mehr. Nur noch wenige assyrische Christen leben hier in Diyarbakir, wo es zu Beginn des 20. Jahrhunderts über 100.000 waren.
"Innerhalb der Familie haben wir nie vergessen"
Zehntausende wurden beim Völkermord an den anatolischen Christen von 1915 getötet, als sie zusammen mit den Armeniern abgeschlachtet wurden; die Verbliebenen wanderten später aus, nach Europa und Amerika. Heute leben alleine in Deutschland mehr als 100.000 assyrische Christen; in Diyarbakir sind es keine 20 mehr. Das Ende eines uralten Volkes in seiner historischen Heimat? Vielleicht doch noch nicht - denn neuerdings erheben sich in Diyarbakir längst verstummt geglaubte Stimmen:
"Ich bin Assyrer. Ich stamme aus dem Dorf Simsim bei Diyarbakir. Mein Großvater war der einzige männliche Assyrer im Dorf, der die Massaker überlebt hat. Er war ein Jahr alt, als die Assyrer von den Kurden ermordet wurden. Sein Vater wurde getötet. Aber seine Mutter gefiel einem Kurden so gut, dass er sie für sich nahm und ihr das Kind ließ."
Murat Demir heißt der Mann, der das erzählt – ein 42-jähriger Kaufmann mit einem langen schwarzen Bart, der mit einem kurdischen Akzent spricht und auch sonst äußerlich wirkt wie jeder andere Bewohner von Diyarbakir. Aber nur äußerlich, betont er:
"Wir sind zwangsläufig als Muslime erzogen worden, aber innerhalb der Familie haben wir nie vergessen, dass wir Assyrer sind und was uns geschehen ist. Das Wissen ist in der Familie immer weitergegeben worden: welche Verwandten damals ermordet wurden, wer sie getötet hat. Ich bin jetzt die dritte Generation, aber mir ist all das bewusst. Mein Vater, meine Onkel und meine Großmutter haben es mir erzählt, und meine Großmutter wusste es von ihrer Schwiegermutter, die alles miterlebt hat."
Beschimpft und augegrenzt
Die Erinnerung lebt nicht nur in seiner eigenen Familie fort, erzählt Murat Demir. Tausende Menschen leben in Diyarbakir mit dem Wissen, dass sie von Assyrern abstammen, die vor hundert Jahren zum Islam konvertieren mussten, um zu überleben. Mit einigen von ihnen hat Murat Demir einen Verein gegründet, der die Assyrer vor der vollständigen Assimilation bewahren soll. Das erfordert viel Mut, denn die meisten Assyrer in Anatolien sind seit Generationen ängstlich bemüht, ihre Identität zu verbergen. Mit gutem Grund, erzählt Demir:
"Mein Großvater war in seinem Dorf der einzige Assyrer, und er stand sein Leben lang unter Druck. Obwohl er ja als Muslim aufgewachsen ist, hat es nie aufgehört, dass er als Ungläubiger beschimpft und ausgegrenzt wurde. Niemals durfte er ein Freitagsgebet in der Moschee verpassen, sonst hieß es im Dorf gleich: ‚Warum warst du nicht da? Du bist wohl doch kein Moslem, du willst uns wohl nur täuschen?‘ Das ging sein Leben lang so, und als einziger Assyrer im Dorf konnte er sich nicht wehren, und er gehörte niemals dazu."
Nicht, dass der Großvater das gewollt hätte, fährt Murat Demir in seiner Erzählung fort:
"Mein Großvater war bei den Massakern ein Jahr alt, und als er 15 Jahre alt war, lagen die Leichen der Assyrer noch immer unbestattet herum. Ich selbst kenne heute noch mehrere Stellen in der Umgebung unseres Dorfes, wo die Gebeine kaum von der Erde bedeckt sind. Schädel, Arme, Beine liegen da 20 Zentimeter unter der Erde - damals lagen sie offen herum. Das muss man sich mal vorstellen: Die ganze Familie ist ermordet und hingemetzelt worden, ihre Knochen liegen unbestattet herum. Und man lebt mit den Tätern zusammen in einem Dorf, alleine und ohnmächtig. Wie soll man sich je mit ihnen versöhnen?"
"Die Leute nennen uns ‚konvertierte Ungläubige‘"
Zwar heiratete der Großvater eine kurdische Frau, doch auch ihre Kinder wurden im Dorf ausgegrenzt und unter Druck gesetzt. Sobald er erwachsen war, zog Murat Demirs Vater deshalb in die Großstadt Diyarbakir, wo er seine Herkunft verbergen konnte. Er heiratete eine entfernte Kusine, die Tochter eines anderen zwangsislamisierten Assyrers. Bis heute heiraten die Nachfahren der überlebenden, einst christlichen Assyrer bevorzugt untereinander, sagt Demir – teils aus Zusammenhalt, teils weil viele kurdische Familien es ablehnen, sie einheiraten zu lassen. Denn wie die Assyrer selbst haben auch ihre kurdischen Nachbarn nichts vergessen, erzählt Demir – so wie im großväterlichen Dorf Simsim, wo er noch Verwandte hat und deshalb gelegentlich zu Besuch ist:
"Im Dorf wird uns unsere Herkunft als Assyrer immer um die Ohren geschlagen. Die Leute nennen uns aber nicht Assyrer, sie nennen uns ‚bafle‘ – das ist Kurdisch und bedeutet: konvertierte Ungläubige. Sie sehen in uns Pseudo-Muslime. Das ist als Beleidigung gemeint, und so sagen sie es immer abschätzig: Ach, das sind unsere ‚bafle‘, unsere Ungläubigen, unsere Konvertiten."
Murat Demir ist Muslim der dritten Generation, sein Vater ist sogar auf der Hadsch gewesen, aber als vollwertige Muslime werden die islamisierten Assyrer noch heute nicht akzeptiert.
"Die Leute sagen uns oft gönnerhaft, immerhin seien wir ja nun zum wahren Glauben gekommen – als hätten wir eine Wohltat erfahren! Meine Vorfahren, meine Familie sind umgebracht worden, und ich soll mich bedanken, weil ich den rechten Glauben bekommen habe. Das sehen die Leute hier wirklich so."
Das kulturelle Erbe der Assyrer
Kein Wunder also, dass die meisten Assyrer in Diyarbakir ihre Herkunft verheimlichen. In seiner eigenen Familie, zu der er außer den acht Brüdern und ihren Familien auch Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen rechnet, würden es von 300 bis 400 Angehörigen nur drei oder vier wagen, sich auch nach außen zu ihrer assyrischen Identität zu bekennen, sagt Demir – aus Angst vor Repressalien, aber auch aus Scham.
Denn nach einem Jahrhundert der Tabuisierung glaubten viele Nachkommen der zwangsislamisierten Assyrer heute selbst, sich ihrer Herkunft schämen zu müssen. Auch für Demir selbst kam die Wende erst durch eine Begegnung mit einem Assyrer aus der Diaspora, der ihn über seine Kultur aufklärte.
"Erst von ihm habe ich erfahren, dass die Assyrer in Wahrheit ein altes Kulturvolk sind, das Kunsthandwerker und Philosophen hervorgebracht hat. Das war für mich eine Offenbarung: Wir sind also keine Barbaren, wie uns immer gesagt worden ist. Wir müssen uns unserer Herkunft nicht schämen, wir können sogar stolz darauf sein."
"Ich will meine Wurzeln bewahren"
Ein assyrischer Archäologe aus Schweden war es, der Demir über seine Kultur aufklärte. Das war die Initialzündung für den "Verein für Assyrische Kultur in Diyarbakir", den Murat Demir mit einigen Gleichgesinnten gegründet hat. Der Verein hat inzwischen 70 aktive Mitglieder und mehrere tausend Anhänger in den sozialen Medien, wo er über die Geschichte und Kultur der Assyrer in Anatolien informiert. Sein Ziel ist es, die verlorenen Assyrer von Anatolien für ihre Kultur zu erwecken, bevor es zu spät ist, sagt Demir. Denn heute ist Diyarbakir eine kurdische Stadt.
"Wir sind fast vollständig assimiliert. Ich kann kein Aramäisch, ich spreche Kurdisch als Muttersprache und bin in der kurdischen Gesellschaft aufgewachsen. Aber ich will meine Wurzeln bewahren."
Manchmal besuchen die Vereinsmitglieder die Marienkirche in Diyarbakir, trinken einen Tee mit dem Priester und plaudern mit ihm über die assyrische Geschichte und Kultur in Diyarbakir. Zu hohen Festen wie Weihnachten besuchen einige von ihnen auch den Gottesdienst. Zum christlichen Glauben ihrer Vorfahren zurückzukehren, kommt für ihn aber nicht in Frage, sagt Demir:
"Uns wird oft unterstellt, wir wollten Muslime missionieren, damit sie zum Christentum konvertieren. Gegen diesen Vorwurf müssen wir uns wehren, denn das kann schlimme Folgen haben. Nein, erkläre ich den Leuten immer, ich bin genauso Muslim wie du auch. Ich will nur meine Herkunft nicht vergessen."
Auch wenn es für eine Rückkehr zum christlichen Glauben nach einem Jahrhundert im Islam wohl zu spät ist, könnten die verlorenen Assyrer noch immer zu ihrer kulturellen Identität zurückfinden, meint Demir. Schließlich gebe es die Assyrer als Volk schon länger als das Christentum.