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Ein Junge, ein Monster und eine kranke Mutter

Das Buch "Sieben Minuten nach Mitternacht" ist ein Roman nach einem Entwurf von Siobhan Dowd. Geschrieben hat es Patrick Ness und illustriert Jim Kay. Es handelt von einem Jungen und einem brüllenden entsetzlichen Monster.

Patrick Ness und Jim Kay im Gespräch mit Tanya Lieske |
    Tanya Lieske: ...habe ihn als erstes gefragt, was passiert, wenn ein Verleger kommt und sagt, eine sehr geschätzte Autorin ist verstorben, aber ihr Werk ist unvollendet – und ob man das betreffende Buch fertig schreiben könnte?

    Patrick Ness: Normalerweise hätte ich eine solche Anfrage abgelehnt. Gute Bücher entstehen nicht so, sie sollen nicht aus der Erinnerung entstehen, sondern eine eigene Geschichte erzählen. Siobhan Dowd hat kaum mehr als einen Anfang hinterlassen, eine kleine Idee, ein paar Figuren. Aber die waren so eindrucksvoll, dass ich sofort eigene Ideen entwickelt habe. Und genau das ist es, was man sich als Autor wünscht.

    Lieske: Wie haben Sie von dieser Geschichte erfahren? Hat Siobhan Dowd ein Notizbuch zurück gelassen?

    Ness: Nein, nur ein paar erste Worte, 800 oder 900, ein paar erste Zeilen und eine Skizze der Struktur. Also nicht wirklich viel, aber genug um anzufangen. Ich habe mir dann vorgestellt, dass sie es ist, die diese Geschichte schreibt. Ich habe es wachsen lassen. Und es hat funktioniert.

    Lieske: Worum geht es in dem Buch?

    Ness: Connor ist 13 Jahre alt, seine Mutter ist sehr krank, und das ist die denkbar schlechteste Nachricht für Connor, denn sein Vater lebt in Amerika, mit seiner Großmutter kommt er nicht zurecht, was soll aus ihm werden, wenn seiner Mutter etwas zustößt? Und dann kommt dieses Monster eines nachts an sein Fenster, er kündigt an, dass er ihm eine Geschichte erzählen will, und im Gegenzug soll Connor ihm die Wahrheit sagen, und das will er auf gar keinen Fall.

    Lieske: Es geht um die Wahrheit, wie haben Sie sich selbst an diese Wahrheit herangetastet?

    Ness: Wenn man schreibt, muss man fühlen, was auch der Leser fühlen soll. Man soll nicht aufhören, bis man selbst die Unruhe, die Tränen und die Trauer spürt. Und das habe ich wieder und wieder versucht, und wenn ich nichts gespürt habe, dann wusste ich, dass ich etwas falsch mache. Vor allem wollte ich die Wahrheit über das sagen, was Connor empfindet, und genau das fällt vielen jungen Menschen schwer. Kaum jemand sagt ihnen die Wahrheit, wie sollen sie selbst die Wahrheit sagen? Ich habe also alles getan, um genau zu dieser Wahrheit zu gelangen.

    Lieske: Es ist eine komplexe Wahrheit, denn natürlich will Connor, dass seine Mutter überlebt, gleichzeitig wünscht ein Teil von ihm, dass sie stirbt, denn ihre Krankheit ist eine wahnsinnige Belastung für ihn. Wie ist es ihnen gelungen, sich noch einmal so in die Seele eines 13-jährigen hineinzuversetzen?

    Ness: Ich konnte nicht direkt aus meiner eigenen Erfahrung schöpfen. Aber es ist mir in allen Büchern ein Anliegen, dass Teenager nicht als einfache, reduzierte Wesen behandelt werden, zu denen man sagt, das ist nur eine Phase, das geht vorbei. Da habe ich mich auf das verlassen, was ich selbst mit 13 empfunden habe. Ich wusste damals, dass ich schon komplexe Emotionen habe, aber niemand ist darauf eingegangen. Ich bin überzeugt davon, dass Teenager komplexe Wesen sind. Man wird erwachsen, man entdeckt die eigenen, manchmal widersprüchlichen Gedanken, und genau so ergeht es Connor, der will dass seine Mutter gesund wird, aber der auch leidet, weil es mit ihrem Sterben so lange dauert. Wie soll man das in Übereinstimmung bringen? Das Bemühen darum macht uns erwachsen. Und genau das ist mein Grundanliegen, die Komplexität eines 13-jährigen Menschen anzuerkennen.

    Lieske: Die Komplexität der Emotionen ist das Eine, die Komplexität der Sprache das Andere. Shiobhan Dowd war eine Autorin, die eine sehr ausgefeilte Prosa hatte, eine klare Rhythmik, sie bevorzugte Erzählungen aus der Ich-Perspektive. Sie selbst, Patrick Ness, sind als Autor von Fantasy-Romanen, in Erscheinung getreten. Wie haben Sie sprachlich gearbeitet, wie haben Sie sich in die Welt von Shiobhan Dowd eingefunden?

    Ness: Ich hoffe, dass es eine Gemeinsamkeit gibt zwischen Siobhan und mir, nämlich dass wir Teenager als voll entwickelte menschliche Wesen anerkennen, als 13-, 14-, 15-jährige Menschen mit ernst zu nehmenden Emotionen und Sorgen. Auch wenn die Sujets unserer Romane recht verschieden sind, hoffe ich doch, dass wir diese eine Gemeinsamkeit haben.

    Lieske: Haben Sie die Bücher von Siobhan Dowd - Ein reiner Schrei, Der Junge, der sich in Luft auflöste – noch mal gelesen?

    Ness: Ja. Siobhan ist eine fantastische Autorin, sie hat vier recht verschiedene Bücher hinterlassen, und die sind scharfsinnig, auch verschmitzt, obwohl sie ernst sind, und genau das gefällt mir. Ihr sitzt der Schalk im Nacken. Es ist ein schönes Ergebnis meiner Arbeit, dass man weiter über Siobhan spricht und ihre Bücher liest.

    Lieske: Es gibt in diesem Buch auch eine fantastische Ebene. Da kommen Sie, Jim Kay ins Spiel. Der 13-jährige Connor leidet unter Albträumen, aus gutem Grund, schließlich stirbt seine Mutter. Zusätzlich bekommt er noch von einem Monster Besuch. Kein niedliches Monster, sondern ein Brüllendes, Entsetzliches, das Häuser zertrümmert. Ihre Illustrationen sind schwarz-weiß erinnern an alte Fototechniken, an Quecksilber auf Glas, an explosionsartige Zustände. Ich habe da an alte Nosferatu-Filme gedacht. Es gibt auch der Natur entlehnte Ornamente von großem Reiz – wie sind Sie vorgegangen? Was wollten Sie darstellen?

    Jim Kay: Nosferatu hatte ich mir gerade zugelegt, als ich mit den Illustrationen zu diesem Buch beschäftigt war. Ich liebe die Filme des deutschen Expressionismus. Das Licht darin ist wunderbar. Die Regisseure hatten ein sehr kleines Budget, und so haben sie sich genau überlegt, was sie ausleuchten wollten. Und das gilt auch für meine Illustrationen, ich habe mir genau überlegt, was vom Licht erfasst werden sollte. Ich liebe diese alte Schule der Fotografie und des Films. Wenn man Dinge im Dunkeln lässt, dann darf der Leser die Szene selbst erschaffen, der Illustrator setzt ihm dann nichts vor.

    Lieske: Wenn ich richtig informiert bin, war es ihre erste Illustration, was haben Sie zuvor getan?

    Kay: Es ist das erste vollständig illustrierte Buch. Vorher habe ich schon mit ein paar Bleistiftzeichnungen zu einem anderen Jugendbuch beigetragen, und noch davor habe ich in Museen und Kunstgalerien gearbeitet. Ich arbeite erst seit etwa fünf Jahren als Illustrator, und ich glaube, ich profitiere heute von den verschiedenen Jobs, die ich schon hatte. Man sammelt Erfahrungen, nichts geht verloren. Und ich hatte großes Glück, dass ich dieses fantastische Manuskript illustrieren durfte.

    Lieske: Wie experimentell war die Technik für sie selbst?

    Kay: Am Anfang habe ich nur experimentiert, auf Patricks Worte reagiert. Und ich hatte das Glück, dass der Verleger mich dabei gewähren ließ. Ich habe mit allem Möglichen gearbeitet, ich habe alles verwendet, was einen schwarzen Abdruck auf Papier hinterlassen hat.

    Lieske: Entstanden ist ein sehr schönes, ein haptisches und auch visuelles Buch – geht der Trend auch in Großbritannien wieder hin zu schönen Büchern, gerade vor dem Hintergrund des Electronic Publishings?

    Ness: Das glaube ich schon. Ich habe kein Problem mit elektronischen Büchern, Hauptsache, es wird überhaupt gelesen. Aber unser englischer Verleger ,Walker Publishing, macht besonders schöne Bücher, das galt auch für meine Trilogie. Und warum auch nicht? Es gibt unzählige Leser, für die das Buch ein wertvoller Gegenstand ist, also warum sollte man ihn nicht so schön wie möglich gestalten? Und genau das sagen uns die Leute, das ist mit Sieben Minuten nach Mitternacht gelungen.

    Lieske: Lassen Sie uns kurz noch mal über das Monster sprechen. Es ist ja halb Monster, halb Baum!

    Ness: Siobhan hatte die Idee, dass das Monster auf einer Eibe beruhen sollte. Ein Baum dessen Rinde man derzeit in der Behandlung von Krebs einsetzt. Sie wusste das, weil sie selbst an Krebs erkrankt war. Es gibt auch diesen alten englischen Mythos des Grünen Mannes, der seit Urzeiten, noch bevor es die ersten Menschen gab, schon zur Landschaft gehörte. Eine eindrucksvolle Verbindung aus Mythos und modernen Medizin, und mir gefällt dieses Monster, das manchmal halb Baum ist, es ist ein Gestaltwandler.

    Lieske: Ein Baum, der auch in der keltischen Mythologie verwurzelt ist, es wurden ihm schon von den Druiden Heilkräfte zugesprochen. Ich möchte Sie bitten, dazu eine Passage zu lesen.

    Ness: (liest)

    Lieske: Patrick Ness mit einer Lesung aus "Sieben Minuten nach Mitternacht", ein Roman nach einem Entwurf von Siobhan Dowd. Patrick Ness, wo haben sie Deutsch gelernt? Sie sind in den USA geboren?

    Ness: Im Gymnasium. Mein Deutsch ist ok, aber es ist einfacher zu lesen als etwas spontan zu sagen.

    Lieske: Wird es weitere gemeinsame Projekte geben?

    Ness: Das würde mir gefallen. Das hoffe ich sehr.

    Kay: Einmal ist keinmal. Hab ich das richtig gesagt?


    Siobhan Dowd, Patrick Ness, Jim Kay, Bettina Abarbanell: "Sieben Minuten nach Mitternacht" (cbj).