Archiv


Ein kleines Stück Selbständigkeit

Medizin. - Rund 60.000 Menschen in Deutschland sind querschnittgelähmt. Jedes Jahr kommen etwa 1800 neue Fälle hinzu, und jeder Zweite ist sogar vom Hals ab gelähmt. Am meisten vermissen Betroffene die fehlende Funktion der Hand. Forscher aus Heidelberg und Karlsruhe wollen ihnen mit einer Jacke, die gleich zwei Neuroprothesen in sich vereint, zumindest ein wenig Bewegung zurückgeben.

Von Marieke Degen |
    Vor zehn Jahren haben Ärzte an der Uniklinik Heidelberg eine vielversprechende Neuroprothese getestet. "Freehand" hieß das System, und es sollte querschnittgelähmten Patienten dabei helfen, ihre Hand wieder zu bewegen. Die Ärzte pflanzten dafür Elektroden unter die Haut, und mit Hilfe der Elektroden konnten die Patienten wieder zugreifen und loslassen. Das System war das Beste, was die Neuroprothetik zu bieten hatte. Und doch habe man nur wenigen Patienten helfen können, sagt Rüdiger Rupp, Ingenieur und Forschungsleiter am Querschnittzentrum der Uniklinik Heidelberg:

    "Nun ist das Problem, dass wir nur einen Griff herstellen können. Das heißt, der Patient muss selber noch in der Lage sein, seine Hand zu dem Objekt hinzubewegen und auch das Objekt entsprechend zu bewegen. Das heißt, er muss über aktive Ellebogenfunktion verfügen und aktive Schulterfunktion."

    Von 70 Gelähmten seien damals nur drei für das Implantat in Frage gekommen. Alle anderen waren zu schwer verletzt, sie konnten ihre Hände und ihre Arme nicht mehr bewegen.

    "Und dann sitzen Sie vor einem Patienten, und müssen ihn wieder heimschicken. Und Sie wissen ganz genau, dass er zu Hause wieder in seine Unselbständigkeit rutscht. Und das ist genau der Grund gewesen, wo ich sagte: Meine Güte, es muss doch möglich sein, für diese Patienten, die nicht nur nicht greifen können, sondern auch nicht die Hand an den Ort des Geschehens bewegen können, denen auch noch etwas anbieten zu können. Und das war die Idee für 'Orthojacket'."

    Orthojacket ist eine Jacke, die zwei Neuroprothesen vereint, und dabei angenehm zu tragen ist wie Skiunterwäsche.

    "Ein aktiv angetriebener Ärmel, so kann man sich es eigentlich vorstellen."

    Die Patienten bekommen Elektroden außen auf den Arm geklebt. Die Elektroden übernehmen die Funktion der geschädigten Nerven. Wenn der Patient die Hand bewegen will, sendet sein Gehirn Nervenimpulse zu den Muskeln - allerdings sind die Impulse zu schwach, um die Muskeln zum Zucken zu bringen. Hier kommen die Elektroden ins Spiel. Sie messen die Impulse und registrieren, wenn der Patient zugreifen möchte. Die Impulse werden dann durch Strom von außen verstärkt, so dass der Patient tatsächlich wieder zugreifen kann. Die zweite Komponente der "Orthojacket" sind Orthesen: Kunststoffteile, die an den Arm angepasst sind und die mit besonderen Motoren angetrieben werden.

    "Das sind so genannte Fluidik-Antriebe. Diese Fluidik-Antriebe, das ist ein Balg, der, wenn man ihn mit Wasser oder mit Luft füllt, der sich aufbläst und dadurch eine Bewegung erzeugen kann, also auch eine Drehbewegung im Gelenk. Der Vorteil von diesen Motoren ist, sie enthalten kein Eisen, sondern das sind Kunststofffolien. Das heißt, sie sind unglaublich leicht."

    Der Flüssigkeit für die Motoren soll in einem kleinen Tank am Rollstuhl aufbewahrt werden. Der Strom für die Elektroden kommt aus der Rollstuhlbatterie. Ein kleiner Computer sorgt dann dafür, dass die Muskeln, Elektroden und Orthesen koordiniert zusammenarbeiten. Ein 17-Jähriger soll "Orthojacket" als erster testen.

    "Er ist soweit, dass er über diese Stimulation einen Griff hat, wir sind gerade dabei, die Orthesenkomponenten mit den wenigen Fluidaktoren zusammenzubringen, damit wir seine Ellebogenfunktion unterstützen können und dann haben wir ein erstes Zwischenergebnis. Und es sieht so aus, als ob wir damit auch in den nächsten Wochen die ersten Patientenversuche starten können."

    Acht Stunden am Tag sollen die Patienten die Jacke tragen können, das ist das Ziel. Bis dahin muss das Team um Rüdiger Rupp noch einige technische Hürden nehmen. Eine davon ist, alle Teile der Jacke aus Stoff herzustellen. Im Moment bestehen die Orthesen noch aus Plastik. Und dann machen die Elektroden noch Schwierigkeiten. Sie müssen jedes Mal exakt auf dieselben Stellen am Arm angeklebt werden, damit die Patienten auch immer wieder die gleichen Bewegungen machen können. Doch in ein paar Jahren, so hoffen die Entwickler, könnte die Jacke den Patienten für acht Stunden am Tag ein kleines bisschen Selbständigkeit zurückgeben.