Es offenbart einen Blick in den Himmel: Das Bild des deutsch-niederländischen Malers Hans Memling zeigt Christus umringt von musizierenden Engeln und gehört zu den bedeutendsten Tafelmalereien des späten Mittelalters. Eine neue CD mit dem Tiburtina Ensemble und dem Ensemble Oltremontano, die gerade beim Label Accent erschienen ist, begibt sich auf die Spurensuche nach dem Klang von Memlings musizierenden Engeln.
Musik: Guillaume Dufay - "Gloria ad Modum tubae"
Ohrenöffner für die Musik des 15. Jahrhunderts
Das "Gloria ad Modum tubae" gehört zu den bekanntesten Werken von Guillaume Dufay – wenn man bei einem spätmittelalterlichen Komponisten überhaupt von "bekannt" sprechen kann. Mit seiner faszinierenden Motorik ist das Stück ein wahrer "Ohrenöffner" für die Musik des 15. Jahrhunderts. Kein Wunder, dass Oltremontano und das Tiburtina Ensemble es auf ihrer ersten gemeinsamen CD präsentieren.
"Paradisi Porte" – "Pforte zum Paradies", so haben sie ihr Programm nach einem der eingespielten Gesänge genannt. Ein trefflicher Titel, denn das Tafelbild von Hans Memling, das den Belgier Wim Becu – Posaunist und Leiter von Oltremontano – zu dieser CD inspiriert hat, führt tatsächlich in himmlische Sphären. Es war einst Teil eines großen Flügelaltars, den der in Brügge lebende Maler um 1490 für das spanische Kloster Santa María la Real de Nájera schuf.
Zu sehen ist der in den Himmel aufgefahrene Christus in Siegerpose. Links und rechts von ihm gruppiert Memling je drei singende Engel. Daran schließen sich auf jeder Seite noch einmal fünf Engel mit allerlei Instrumenten an.
Heute gehört das Bild einmal zur Sammlung des "Königlichen Museums der Schönen Künste" in Antwerpen. Vor kurzem wurde es restauriert, und Becu nutzte diese Gelegenheit, um das Bild einmal aus musikalischer Warte näher zu beleuchten.
Interdisziplinäres Projekt lässt Engelskonzert erklingen
Er rief ein interdisziplinäres Projekt ins Leben, um die erstaunlich realistisch dargestellten Tasten-, Zupf-, Streich- und Blasinstrumente zu rekonstruieren und zum Klingen zu bringen. Dazu arbeitete er mit Kunsthistorikern und vor allem mit Experten für historischen Instrumentenbau zusammen. Außerdem erweiterte er sein auf historische Blechblasinstrumente spezialisiertes Ensemble Oltremontano. Denn Memling präsentiert in seinem "spätmittelalterlichen Orchester" unter anderem eine Harfe, ein Organetto – eine Art Miniaturorgel – und ein frühes Hackbrett, ein Psalterium.
Musik: Guillaume Dufay - Proles de caelo (Hymnus)
In einer Fassung für Organetto, Psalterium und Harfe gestaltet Oltremontano den Hymnus "Proles de caelo" von Guillaume Dufay. Die mittelalterliche Systematik ordnet diese Instrumente der so genannten "Bassa capella" zu. Aus dieser "leisen Instrumentengruppe" bildet Memling außerdem eine Fidel ab, eine Laute und eine so genannte "Tromba marina". Dieses vergleichsweise große Streichinstrument – auch Trumscheit genannt – ist mit nur einer Saite bespannt und erzeugt einen reizvoll schnarrenden Ton.
Musik Traditionell - Ave mundi spes Maria (Sequenz)
Fürs Vokale holte Wim Becu Barbora Kabátková und ihr Tiburtina Ensemble ins Boot. Die sechs Sängerinnen aus Tschechien machen schon seit einiger Zeit mit kenntnisreichen und ausnehmend klangschönen Interpretationen mittelalterlicher Musik von sich reden.
Hier erweisen sie sich mit ihrer reinen – "engelsgleichen" – Tongebung als geradezu ideale Besetzung, um Hans Memlings "singenden Engeln" klingendes Leben einzuhauchen.
Wohlüberlegte Stückauswahl mit Musik aus Brügge
Barbora Kabátková und Wim Becu haben für ihr Memling-Projekt eine wohlüberlegte Stückauswahl zusammengestellt. Sie konzentrieren sich auf Musik, die im späten 15. Jahrhundert in Brügge zu hören gewesen sein könnte. Denn dort verbrachte der in Seligenstadt bei Frankfurt am Main geborene Maler den größten Teil seines Lebens. In Brügge dürfte Memling auch die verschiedenen Instrumente kennengelernt haben, die er seinen Engeln an die Hand gibt.
Seine Darstellung legt nahe, dass er sich dabei an realen Vorbildern orientierte, und zumindest aus der Beobachtung mit deren Spielweise vertraut war. Neben den leisen Instrumenten der "Bassa capella" zeigt er auch einige "laute Instrumente" der so genannten "Alta capella". Drei trompetenartige Blechblasinstrumente sind darunter: eine "Clareta" und eine "Trompette de menestrel" mit gewundenen Rohren, eine "Busine" mit geradem Rohr. Dazu kommt als Holzblasinstrument eine Schalmei.
Musik: Traditionell - Danse de Cleves
Dieser "Danse de Cleves" ist in einem Brüssler Manuskript überliefert. Aber mit ähnlichen Stücken haben sicher auch die Musiker und Spielleute in Brügge zum Tanz aufgespielt. Für ihr vor allem weltliches Repertoire stehen hier einige Tänze und eine instrumental ausgeführte Chanson von Jacob Obrecht. Oltremontano spielt diese Sätze in farbig wechselnden Besetzungen und mit viel Esprit.
Plädoyer für Instrumente in der Kirche
Dass Instrumente auch in den Kirchen zum Einsatz kamen, war im 15. Jahrhundert noch nicht selbstverständlich. Im Gegenteil, vielerorts waren sie offiziell verboten.
Für Brügge gibt es aber Belege, dass Spielleute in besonders feierlichen Vespergottesdiensten einer geistlichen Bruderschaft zu hören waren. Und auch Memlings Engelskonzert ist ja zumindest indirekt ein Plädoyer für Instrumente in der Kirche.
Die "Memling-Besetzung", wie Wim Becu sie nennt, ist auf dieser CD also auch im geistlichen Repertoire zu hören. In vielfältigen Kombinationen variieren die Instrumente einstimmige liturgische Melodien oder übernehmen einzelne Partien in mehrstimmigen Sätzen.
Für die Auswahl der geistlichen Stücke hat Barbora Kabátková etliche spätmittelalterliche Musikmanuskripte aus Brügge durchgesehen. Ihre wichtigste Quelle war ein Graduale von 1506.
Darin finden sich reizvolle lokale Eigenheiten, zum Beispiel in der Sequenz "Ave Maria gracia plena". Das berühmte Gebet wird hier mit einem frei gedichteten Text zu Ehren der Jungfrau Maria kombiniert:
Musik: Traditionell - Ave Maria gracia plena
Das Gebet "Ave Maria gracia plena", mit der die CD eröffnet, ist nicht das einzige marianische Stück des Programms. Denn Barbora Kabátková und Wim Becu haben vor allem Stücke zu den Festen Christi und Mariae Himmelfahrt ausgewählt. Auch damit greifen sie das Bildprogramm von Hans Memling auf, das neben dem Engelskonzert ursprünglich vor allem Marias Aufnahme in den Himmel thematisierte.
Allerdings sind diese Teile des Altars verlorengegangen. Aber auf den Gewändern der Engel finden sich die Worte "Maria" und "Jesus". Und auch der Kragen des Christus-Gewandes trägt eine theologische Botschaft. Dort prangen die griechischen Worte "Hagios o Theos", "Heiliger Gott". Dieser Ausruf ist Teil der sogenannten "Improperien" aus der Karfreitagsliturgie.
Eine dieser eindrucksvollen "Heilandsklagen", das "Popule meus", singt Tiburtina ganz unbegleitet. Umgeben von vielen instrumentalen Klängen wirken die klaren Frauenstimmen hier besonders berückend.
Musik: Traditionell - Popule meus
Entstanden ist die CD im AMUZ-Musikzentrum in Antwerpen, einer ehemaligen Kirche, die zum modernen Konzertsaal umgebaut wurde. Die Aufnahme wirkt klar und transparent, was bestens mit der facettenreichen, mal filigranen, mal klangvollen Gestaltung von Tiburtina und Oltremontano korrespondiert. Alles wirkt duftig, frisch und gut durchhörbar.
Klare Frauenstimmen reizvoll kombiniert
Inspiriert von Hans Memlings Engelskonzert ist hier eine farbige und beeindruckend abwechslungsreiche CD auf höchstem Niveau entstanden. In den vergangen Jahren hat es immer wieder einmal ähnliche Projekte gegeben. Dieses ist besonders gelungen, nicht nur, weil die Besetzung der CD Memlings 16 musizierende Engel wirklich ein zu eins abbildet.
Die Gegenüberstellung von älterer Einstimmigkeit und damals topaktuellen mehrstimmigen Kompositionen, die oft überraschende Kombination der klaren Frauenstimmen mit den bisweilen durchaus herben Klängen der Instrumente, all das macht diese CD zu einem Hörgenuss für alle, die sich auf die vermeintlich ferne Musik des 15. Jahrhunderts einlassen möchten. Und so bereichert diese Produktion letztlich auch Memlings Engelskonzert um eine weitere, eine "klingende" Dimension.
Als krönenden Abschluss präsentieren Oltremontano und Tiburtina ein dreistimmiges Magnificat des englischen Komponisten John Dunstable, dessen Werke im 15. Jahrhundert nachweislich auch in Brügge aufgeführt wurden. In diesem, mit insgesamt 8 Minuten längsten Stück der CD, kommen noch einmal alle Musikerinnen und Musiker in wechselnden Besetzungen zusammen
Musik: John Dunstable - Magnificat
Paradisi Porte
Hans Memlings Engelskonzert
Tiburtina Ensemble
Leitung: Barbora Kabátková
Oltremontano
Leitung: Wim Becu
Label: Accent
Hans Memlings Engelskonzert
Tiburtina Ensemble
Leitung: Barbora Kabátková
Oltremontano
Leitung: Wim Becu
Label: Accent