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Ein Land am Rande des Bürgerkriegs

Die Plaza Francia im Osten der venezolanischen Hauptstadt Caracas ist seit Wochen der Sammelplatz der Opposition. Hier im Viertel Altamira wohnt der Mittelstand, der zum Generalstreik gegen den gewählten Präsidenten Hugo Chavez aufgerufen hat. Chavez soll zurücktreten, soll Neuwahlen ausschreiben, das fordert die Opposition seit Wochen immer lauter. Doch der Präsident lässt sich nicht zwingen und scheint zu keinem Kompromiß bereit. Und auch die Opposition wird jeden Tag entschiedener..

Jürgen Gressel-Hichert |
    Die Plaza Francia im Osten der venezolanischen Hauptstadt Caracas ist seit Wochen der Sammelplatz der Opposition. Hier im Viertel Altamira wohnt der Mittelstand, der zum Generalstreik gegen den gewählten Präsidenten Hugo Chavez aufgerufen hat. Chavez soll zurücktreten, soll Neuwahlen ausschreiben, das fordert die Opposition seit Wochen immer lauter. Doch der Präsident lässt sich nicht zwingen und scheint zu keinem Kompromiß bereit. Und auch die Opposition wird jeden Tag entschiedener..

    Ende November 2002.

    Die Opposition hat dem Präsidenten des Landes ein Ultimatum gestellt. Wenn er nicht bis Anfang Dezember einem Referendum zustimmt, das über seinen Verbleib im Amt entscheiden soll, dann werde es einen Generalstreik geben. Die Opposition ist über die Frage zerstritten, ob der Ausstand begrenzt sein soll, der radikalisierte Flügel der Erdölgewerkschafter ist für Härte und einen unbegrenzten Streik, der Unternehmerflügel der Opposition ist vorsichtiger. Nach außen aber demonstriert man Einigkeit. Unternehmerverbandspräsident Carlos Fernandez:

    Das einzige, was sicher ist bis zu diesem Moment, ist, dass der Generalstreik am 2. Dezember beginnt um 6.oo Uhr früh.

    Montag 2. Dezember 2002 -

    Beginn des Generalstreiks, des vierten innerhalb eines Jahres. Regierung und Opposition werten den Auftakt unterschiedlich. Die Opposition behauptet, nahezu 80 Prozent wären der Aufforderung zum Ausstand nachgekommen. Die Regierung lässt durch Arbeitsministerin Maria Christina Iglesias genau das Gegenteil verlauten:

    Ungefähr 20 Prozent haben sich < am Streik > beteiligt, 80 Prozent nicht. Venezuela sagt ja zur Arbeit.

    Die Stadt Caracas ist gespalten. Im Ostteil, da wo die etwas besser Verdienenden wohnen, Angestellte und kleine Unternehmer, sind die Geschäfte geschlossen, es ist weniger Verkehr auf den Straßen. Im Westteil und im Zentrum der Stadt hat die Regierung einige Märkte einrichten lassen und bietet besonders günstig Lebensmittel an - hier läuft das Leben fast normal:

    Ich streike nicht, weil ich vom täglichen Verkauf lebe und kein Geld auf der Bank habe.

    Venezuela arbeitet und streikt nicht.

    Fast scheint es , als ob die Regierung auch diesmal leichtes Spiel hat mit einer Opposition, die weder ein eigenes Programm hat noch einen Kandidaten, den sie öffentlich präsentiert. Wenn sich in diesen Tagen der gewählte Präsident des Landes vor seinen Anhängern zeigt, dann bezeichnet er die Opposition immer wieder als Terroristen und Umstürzler und auch für das geforderte Referendum hat er nur Spott übrig:

    Auch unter der Annahme, dass dieses Referendum 90 Prozent der Stimmen erhält, sage ich: Ich werde nicht zurücktreten, vergessen sie es.

    Hugo Chavez - Jahrgang 1954, ehemaliger Fallschirmspringer und Absolvent der nationalen Militärakademie - ist in seinem ganzen Auftreten vor allem Soldat - mit seinem roten Fallschirmspringerkäppi und seinem ungeheuren Mitteilungsbedürfnis - wirkt er selten wie ein großer Staatsmann. Obwohl er sich in diesen Tagen oft in dieser Pose zeigt - am liebsten vor dem Gemälde des südamerikanischen Befreiungshelden Simon Bolivar. Wert legt er dabei immer wieder auf die Verfassung und auf das verfassungsgemäße Handeln seiner Regierung. So geht er auch ganz formal vor bei der Ablehnung des Referendums der Opposition. Das sei nun mal - laut Verfassung - erst nach der Hälfte seiner Amtszeit möglich - und der Termin wäre erst Mitte August. Und als ihn zu Beginn des Streiks auch die amerikanische Regierung auffordert, sich einem Referendum zu stellen, tut er verwundert und schickt dem Sprecher des Weißen Hauses ein Exemplar der venezolanischen Verfassung - mit dem Hinweis, er könne sich nicht vorstellen, dass Washington ernsthaft wolle, dass Chavez die Verfassung bricht.

    Soviel Verfassungskonformität erwartet man bei Hugo Chavez eigentlich eher nicht. Denn er hat selbst bereits 1992 einen Staatsstreich versucht. Der Putsch schlug fehl, Chavez musste ins Gefängnis. Danach begann seine politische Karriere. Er machte sich zum Fürsprecher der Armen, rief zu einer "bolivarianischen Revolution" auf und wurde - für manchen überraschend - 1998 erstmals zum Präsident von Venezuela gewählt. Zwei Jahre später wird er von einer Verfassunggebenden Versammlung für weitere 6 Jahre im Amt bestätigt. Die neue so genannte "bolivarianische" Verfassung stärkt die Stellung des Präsidenten, schwächt den Einfluss der bisherigen Eliten und der alten Parteien, die über 40 Jahre das Land durch Misswirtschaft und Korruption heruntergewirtschaftet hatten. Aber der neue Präsident Hugo Chavez ist auch nicht viel besser - sagen zumindest alte Weggefährten, die heute zur Opposition zählen - zum Beispiel Gabriel Puerta Aponte – Ex-Guerillaführer, der heute für den friedlichen Wechsel in Venezuela plädiert:

    Chavez ist in der Hauptsache ein Projekt. Er selbst ist das Projekt. Dessen Hauptziel ist es, an der Macht zu bleiben. Chavez ist machtbesessen.

    Der Präsident fühlt sich da missverstanden. "Was meine Gegner nicht verstehen" soll er einmal gesagt haben, "ist, dass Hugo Chavez nicht einfach Chavez ist, sondern das Volk von Venezuela".

    Und dieses "Volk von Venezuela" soll endlich auch am Reichtum des Landes teilhaben - und der kommt in erster Linie vom Erdöl. Das südamerikanische Land ist der Welt fünftgrößte Erdölexporteur, mehr als 60 Prozent der Einnahmen fließen dem Staat aus dieser Quelle zu. Hauptabnehmer der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA sind die USA. Die Erdölindustrie ist das wirtschaftliche Herz des Landes.

    4. Dezember 3. Streiktag

    Dem Generalstreik schließen sich große Teile der PDVSA an. Ein mit Benzin beladener Tanker - die Pilin León - versucht mit anderen Tankern die Meerenge zum Maracaibo-See und damit Ein- und Ausfuhren auf dem Seeweg zu blockieren. Chavez reagiert und lässt Installationen der staatlichen Erdölgesellschaft von der Nationalgarde besetzen.

    Wir werden uns aufmachen und in Alarmbereitschaft versetzen in der Verteidigung unseres wichtigsten Unternehmens, Petroleos de Venezuela - und wenn es sein muss auch mit Truppen des Heeres. Wenn es um die Sicherheit der Einrichtungen geht und man uns ruft, dann unterstützt das Heer die Nationalgarde.

    Doch die PDVSA - die staatliche Gesellschaft Petroleos de Venezuela ist mächtig. Die Produktion des Landes geht innerhalb weniger Tage zurück - von 3 Millionen Barrel Öl auf einige 100 000. Die Regierung behauptet zwar immer noch, der Streik habe keine Auswirkungen, aber sie agiert hektisch. Chavez beschimpft die Streikleitung als Saboteure und Vaterlandsverräter, die einen Staatsstreich wollten. Ein Teil der Führung von PDVSA wird entlassen, streikenden Arbeitnehmern werden Strafen angedroht. Venezuelas Autofahrer müssen Schlange stehen vor den Tankstellen. Erstmals in der Geschichte des Öl-Landes Venezuela wird Benzin aus dem Nachbarland Brasilien eingeführt. Für viele Venezolaner steht die Welt Kopf. Und nur die Fahrradhändler im Lande können in dieser Entwicklung noch irgendetwas Gutes sehen. Denn ihr Umsatz stieg in den letzten Wochen beachtlich. Chavez strahlt nach außen immer noch Zuversicht aus. Am Rande des OPEC-Treffens Anfang Dezember in Wien erklärt er:

    Die OPEC weiß, dass dieser Staatsstreich in Venezuela auch gegen sie gerichtet ist und sie hat sich in Verteidigungsbereitschaft versetzt für eines ihrer Mitglieder. Und sie haben gesagt: Gut, Chavez, wenn dir mal irgendwo ein Ingenieur fehlt, wir haben Tausende.

    Der Präsident erklärt öffentlich, das Problem schon bald im Griff zu haben und kündigt die Zerschlagung der "alten korrupten PDVSA" an, wie er sie nennt. Und bald werde wieder alles normal. Gewerkschaftsgeneralsekretär Manuel Cova hält das allerdings für unwahrscheinlich:

    Die Regierung lügt beim Thema Generalstreik in der Erd-Ölindustrie, Zwischen 80 und 90 Prozent der Arbeiter haben ihre Arbeit niedergelegt. Die Erdölproduktion ist von 3.1 Millionen Barrel Öl ist auf 400 Tausend Barrel zurückgefahren worden.

    Samstag 6. Dezember 5. Streiktag

    Auf der Plaza Francia im Stadtteil Altamira fallen Schüsse. Drei Menschen sterben, viele werden verletzt. Wenig später nimmt die Polizei einige Verdächtige fest. Wenigstens einer von ihnen soll Anhänger von Chavez sein, zu einem der vielen sogenannten circulos bolivarianos gehören, die bei der Opposition einfach nur "Terrorzirkel" genannt werden. Am Abend äußet sich der Vizepräsident Jose Vicente Rangel und mahnt zur Ruhe, denn die Situation droht zu eskalieren:

    Wir bedauern zutiefst die Tat, wir bedauern die Gewalt. In einer Demokratie und einem Rechtsstaat wollen wir, dass diese Dinge verantwortungsbewusst aufgeklärt werden. Die Regierung will ihren Teil zur Verständigung unter den Venezolanern beitragen.

    Und auch der Generalsekretär der Organisation amerikanischer Staaten - Cesar Gaviria - äußert sich besorgt.

    Außer der schnellen Aufklärung muss man festhalten, dass es dringend notwendig ist schnellstmöglich an den Verhandlungstisch zurückzukehren und Resultate zu produzieren, die die Venezolaner erwarten.

    Doch beides passiert nicht. Die versprochene Aufklärung durch die Regierung bringt keine Resultate und auch die Verhandlungen bringen keine wirklichen Lösungen. Cesar Gaviria, der seit Wochen vergeblich versucht, über vorgezogene Wahlen als Lösungsmöglichkeit zu verhandeln, läuft regelmäßig mit seinen Vorschlägen gegen eine Wand von Ignoranz:

    Die Unterschiede zwischen den Konfliktparteien sind größer geworden. Und vor allem differiert ihre Wahrnehmung der Realität. Die Regierung glaubt weiterhin, dass es sich hier um ein handhabbares Problem handelt, dass der Streik keine größere Auswirkung hat, dass einige in der Erdölindustrie lediglich auf Sabotage aus sind. Die Opposition hält dagegen den Streik für sehr weitreichend und glaubt, dass das Land zu großen Teilen paralysiert ist.

    Beigetragen zu diesem Bild haben auch die privaten Medien, die sich mit ihren großen Fernsehketten dem Streik angeschlossen haben und rund um die Uhr von den Aufmärschen der Opposition berichten. Beigetragen hat dazu auch, dass die Opposition bis heute kein wirkliches Konzept für die Zeit nach Chavez hat. Es klingt reichlich vage, was Gewerkschaftsführer Manuel Cova sich überlegt hat:

    Wenn wir das Problem Chavez gelöst haben, braucht das Land Einigkeit auf allen Sektoren, die Anhänger von Chavez eingeschlossen - um der Krise, die uns bleibt, zu begegnen. Die sozialen, ökonomischen und politischen Probleme werden wir nur mit einer Regierung der Einheit lösen können, die unter anderem die Aussöhnung aller Venezolaner vorantreibt.

    Das klingt versöhnlich und auf den ersten großen sogenannten Megamärschen der Opposition schien denn auch alles nach einem friedlichen Wechsel auszusehen. Doch trotz einer Kundgebung am 3. Streikwochenende mit schätzungsweise ein bis eineinhalb Millionen Teilnehmern blieb die Regierung unbeweglich. Mehr noch: In mehreren Kommandoaktionen wurden die bis dato anhaltende Blockade im Maracaibo-See gebrochen, Kapitäne und Besatzungen festgenommen. Die Opposition verlor eines ihrer Embleme, das Streikschiff Pilin León. Über Weihnachten ließ die Streikbereitschaft nach, ein Sektor der Opposition erklärte zu Beginn des neuen Jahres sogar, die kleinen und mittleren Unternehmen würden aus der Streikfront ausbrechen und ihre Läden wieder öffnen. Ende des Generalstreiks?

    Der Generalstreik ist nicht aufgehoben. Der Generalstreik war erfolgreich und geht weiter.

    Jesus Torrealba als Sprecher der oppositionellen "Coordinadora Democratica" musste diese Sätze immer wieder unterstreichen. Denn was Oppositionsmitglied Americo Martín da angekündigt hatte, dass nämlich kleinen und mittleren Unternehmen langsam die finanziellen Mittel ausgingen, sorgte für Unruhe.

    Jenseits der Ankündigung von Herrn Martín ist es ja sicher, dass der Streik von der Coordinadora Democratica bisher so geführt wurde, dass er im Wesentlichen die Regierung trifft, aber nicht die Lebensqualität der Bevölkerung.

    Die Opposition kündigt an, sie wolle den Streik jetzt "fester" führen und neue Formen des Protestes hinzufügen

    3. Januar 2003 - 33. Streiktag

    Die angekündigte Radikalisierung findet ihren vorläufigen Höhepunkt in einer Straßenschlacht. Ein Marsch der Opposition - angekündigt als "große Schlacht" - soll einen oppositionellen General unterstützen. Carlos Alfonso Martinez gehört zu einer kleinen Gruppe von Militärs, die sich der Opposition angeschlossen haben. Der Marsch soll zur größten Garnison führen, die zuvor zur militärischen Sperrzone erklärt wurde. Der Zug der Opposition - einige ihrer Teilnehmer sind bewaffnet - wird von Chavez-Anhängern attackiert. Daraufhin greifen Polizei und Militär mit Tränengas und Gummigeschossen ein, um die Gegner zu trennen. Dann fallen Schüsse. Zwei Männer erliegen wenig später ihren Verletzungen im Krankenhaus. Ein Video soll angeblich eindeutig belegen, dass die Schüsse von der Polizei der Hauptstadt ausgingen. Die wird von Alfredo Peña angeführt, einem der Gegner von Chavez. Und: bei den Toten handelt es sich um Anhänger von Chavez. Wieder brennt die Luft in Caracas und der Präsident denkt öffentlich über den Ausnahmezustand nach:

    Wir haben mit großer Ernsthaftigkeit und mit Selbstbewusstsein die Situation untersucht. Bisher müssen wir - nach allem, was passiert ist - keine Ausnahmemaßnahmen ergreifen, so wie sie die Verfassung vorschreibt, aber wenn ich dazu verpflichtet wäre, das Volk zu schützen und die öffentliche Ordnung, die Sicherheit und Souveränität des Staates aufrechtzuerhalten, müsste ich es tun. Es ist eine Verpflichtung. Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.

    Zu Beginn der Woche wird der Generalstreik ausgeweitet, kurz nachdem die Regierung angekündigt hat, die Erdölgesellschaft PDVSA endgültig zu zerschlagen. Ein Steuerboykott der Besserverdienenden soll das Finanzdesaster der Regierung und damit den Druck auf Chavez erhöhen. Auch die Bankangestellten schließen für 48 Stunden ihre Schalter. Die Regierung kündigt daraufhin Sanktionen für Steuerboykotteure an. Immer öfter kommt es jetzt zu Übergriffen von beiden Seiten. Das Land bewegt sich am Rande eines Bürgerkrieges.

    Das für den 2. Februar angekündigte Referendum der Opposition soll zwar stattfinden, aber Hugo Chavez gibt sich davon immer noch unbeeindruckt. Und genauso unbeeindruckt zeigt sich der radikalere Teil der Opposition. Der erklärte Anfang der Woche, er werde Anordnungen über einen Ausnahmezustand nicht akzeptieren. Und erneut kündigte er einen immer wieder verschobenen Marsch auf Miraflores an, den Amtssitz des Präsidenten. Dann könnte es mehr Tote geben. Doch das scheint einige Strategen auf beiden Seiten nicht weiter zu stören. Hofft man damit auf größere internationale Aufmerksamkeit? Gar auf ein Einschreiten der USA?

    In Venezuela herrscht der Irrsinn - sagen Beobachter. Das könnte stimmen. Und wenn es nicht so ernst gemeint wäre, könnte man über so manches Gerücht einfach nur lachen - wie etwa darüber, dass das importierte Benzin mit Zuckerrohr versetzt sei oder dass sowohl Regierung als auch Opposition sich schwarz-magischer Rituale bediene, um ihre Ziele zu erreichen. Lächerlich? Vielleicht. Aber zum Lachen darüber ist in Venezuela zur Zeit den wenigsten zumute.