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Ein Land in Bewegung

Einer Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen kommt immer eine außergewöhnliche Bedeutung zu, doch diesmal sind die Wähler an Rhein und Ruhr besonders umkämpft. Denn NRW ist das Zünglein an der Waage im Bundesrat.

Von Stefan Maas |
    Es ist ein kalter Dezemberabend. Der Nieselregen hat für einen Moment aufgehört - schnell huschen einige Besucher die Stufen zur Festhalle empor. Vor dem Eingang steht eine Reihe Personenschützer im Anzug, den Knopf der Funkgeräte im Ohr. Sie mustern die Ankommenden mit strengem Blick, denn gleich soll er ankommen. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers macht Station in Eschweiler. Einer Gemeinde nicht weit von Aachen. Es ist der zweite Stopp auf einer Reise durchs Land, die Rüttgers die "Zuhör-Tour" nennt.

    Das Konzept ist einfach: Der Ministerpräsident kommt, hört sich die Sorgen seiner Landeskinder an und versucht zu helfen.

    Vor der Halle hat eine kleine Gruppe ein Transparent aufgespannt: "Rote Karte für die schwarz-gelbe Bildungspolitik." Es sind die Jusos, die Jugendorganisation der SPD.

    "Wenn Ministerpräsident Rüttgers mit uns diskutieren will, dann stehen wir auf jeden Fall dafür bereit."

    Während nebenan die örtlichen SPD-Frauen ihre Weihnachtsfeier abhalten, ist im großen Saal der Festhalle die CDU-Arena aufgebaut. Stühle an allen vier Seiten, die Reihen steigen nach hinten an. Der Saal ist voll. Viele Ältere, ein paar Junge - auch das Grüppchen Jusos hat einen Platz in der letzten Reihe gefunden. In der Mitte der Arena - ein großer grauer runder Teppich. Dort wird der CDU-Mann Rüttgers während der nächsten anderthalb Stunden stehen. Ganz ohne Rednerpult und Manuskript.

    "Trauen Sie sich. Stellen Sie ihre Fragen. Und wir begrüßen jetzt gemeinsam den Mann, der sich heute Abend ihren Fragen stellt. Der Ministerpräsident des Landes NRW. Jürgen Rüttgers."

    Rüttgers trägt einen grauen Anzug, die bläulich gestreifte Krawatte passt farblich gut zum Hemd. Er lächelt, spricht ein paar kurze Worte und dann legen seine Landeskinder los:

    "Wann kommt es dazu bei uns im Land, das Erzieher in den Kindergärten akademisch ausgebildet werden?"

    "Welche Maßnahmen werden Sie ergreifen, um das europäische Bewusstsein in unserem Land zu stärken?"

    "Ich würde gerne wissen, wie Sie die Steuerausfälle, die sich für das Land ab dem ersten Januar ergeben, auffangen wollen?"

    "Mein Anliegen ist die Römerstraße. In dieser Straße wird derartig gerast, dass es den alten Leuten sehr schwer fällt, über die Straße zu kommen."

    Der Ministerpräsident hört zu. Konzentriert, die Arme angewinkelt, eine Hand in die andere gelegt. Geht auf die Fragenden zu, fragt nach, scherzt und lässt sich auch durch mehrere gleichzeitige Fragen nicht aus dem Konzept bringen:

    "Tun Sie den Zettel nicht weg. Sie müssen mir jetzt helfen. Nee, die Handschrift kann ich nicht. Lesen Sie mir die mal ... Sagen Sie mal, müssen Sie mich nur mal erinnern ... Ich kann nicht alle hintereinander. Nur den Ersten noch mal. Komm. Oder so, mit dem Zettel, wenn ich es lesen kann, dann mache ich mit dem Zettel. Also!"

    Das Publikum ist begeistert, der Ministerpräsident ist ganz in seinem Element. Ist ganz Landesvater mit einem offenen Ohr für die Sorgen seiner Mitbürger. Rüttgers und der kleine Mann. Den hat er spätestens im Auge, seit er nach der gewonnenen Landtagswahl 2005 erklärte:

    "Der Vorsitzende der Arbeiterpartei in NRW bin ich."

    Und der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU wird nicht müde, das auch immer wieder zu zeigen, indem er sich bemüht, seine Parteifreunde links zu überholen und sich als soziales Gewissen der CDU zu positionieren. Auch bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin, bei denen er mit am Tisch saß.

    "Ich bin froh, dass es klar ist, dass es keine Veränderungen beim Kündigungsschutz gibt, keine Veränderungen bei der Mitbestimmung gibt, dass auch das Tarifvertragsgesetz so bleibt, wie es ist. Weil ja glaube ich, die Krise auch jedem vor Augen geführt hat, dass die soziale Partnerschaft ein Standortvorteil und kein Standortnachteil ist."

    Auch mit der der Erhöhung des Schonvermögens für Langzeitarbeitslose ist der nordrhein-westfälische Ministerpräsident zufrieden. Denn nicht zuletzt durch den Strukturwandel im Ruhrgebiet hat NRW mit hohen Arbeitslosenzahlen zu kämpfen. Und Rüttgers kann es sich - neben aller persönlichen Überzeugung - nicht leisten, potenzielle Wähler zu verprellen. Denn im Mai wird in NRW der neue Landtag gewählt. Für Rüttgers geht es um den Machterhalt. Und die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass die schwarz-gelbe Regierung in Düsseldorf für das wird bezahlen müssen, was die Koalition in Berlin den Bürgern aufbürdet.

    Das könnte vor allem die FDP treffen, sagen Beobachter. Denn die hält im Bund hartnäckig an der Umsetzung der Steuergeschenke fest, die Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zwingen, für dieses Jahr eine bislang nie da gewesene Neuverschuldung anzupeilen. Kein Wunder, dass viele Wähler über kurz oder lang höhere Abgaben auf sich zukommen sehen. Rüttgers Koalitionspartner, der FDP-Landesvorsitzende Andreas Pinkwart, ist dennoch optimistisch, dass er am Wahlabend nicht die Quittung dafür bekommen wird. Immerhin habe seine FDP im vergangenen Jahr bei drei Wahlen hervorragende Ergebnisse eingefahren:

    "Eine erfolgreiche Ausganglage, um so stark zu werden, dass wir auch eine erfolgreiche Politik in Nordrhein-Westfalen fortsetzen können."

    Solche vollmundige Prognosen sind allerdings nicht auf Umfragewerte gestützt. Mal reicht es danach gerade noch für Schwarz-Gelb, mal aber eben auch nicht. Was dann? Würde Jürgen Rüttgers wie Parteifreund Peter Müller im Saarland Richtung Jamaica segeln? Eher unwahrscheinlich, die Grünen würden wohl kaum mit an Bord gehen. Also eine Große Koalition in NRW? Warum sollte Rüttgers mit der SPD koalieren, die genug mit sich selbst zu kämpfen hat? Also vielleicht, und darüber wird in Düsseldorf heftig spekuliert, ein Schwarz-Grünes Bündnis in Nordrhein-Westfalen? Das hätte eine ganz andere Strahlkraft als im vergleichsweise kleinen Stadtstaat Hamburg. Und brächte seinem Frontmann einen völlig neuen Stellenwert innerhalb der CDU.

    Der hätte mit den Grünen kein Problem, heißt es in NRW immer wieder über Jürgen Rüttgers. Ein Problem hätte damit aber die Bundeskanzlerin, die auf die Stimmen der schwarz-gelben Landesregierung im Bundesrat angewiesen ist. Deshalb werden von Berlin derzeit alle Entscheidungen auf die Zeit nach der NRW-Wahl verschoben, die für die Bürger unangenehm werden könnten. Jürgen Rüttgers dementiert das entschieden:

    "Die Koalitionsvereinbarung sagt klar, was gemacht wird und was nicht. Insofern weiß jeder Bescheid."

    Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz zum Beispiel reißt den Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr ein Loch von mehr als 880 Millionen in die Kassen, sagt die Opposition. Stimmt nicht, sagt Rüttgers, es seien lediglich 360 Millionen:

    "Die werden wir durch Einsparungen aufbringen. Das heißt, da werden die Schulden nicht durch erhöht. Wir haben eine hohe Verschuldung, da will ich nicht so tun. Die könnten wir ja auch zurückführen, aber wir müssen keine neuen machen."

    Einsparungen? Die halten die meisten Städte und Gemeinden zwischen Rhein und Weser für unmöglich. Den Unternehmen geht es schlecht, die Einnahmen aus der Gewerbesteuer brechen ein. Gleichzeitig steigt die Zahl der Arbeitslosen und damit die Höhe der Sozialausgaben, an denen die Kommunen beteiligt sind. Nach Angaben des Städtetages NRW läuft in den nächsten Jahren jede zweite Mitgliedsstadt Gefahr, sich zu überschulden. Dann ist es vorbei mit der finanziellen Selbstständigkeit. Ab diesem Zeitpunkt greift die Kommunalaufsicht ein und prüft jede Ausgabe und Einnahme. Die Landesregierung habe die Situation der Kommunen noch verschlechtert, beklagt die Vorsitzende der NRW-SPD, Hannelore Kraft. Und zwar mit Beschlüssen,

    "die die Kommunen in NRW 2,1 Milliarden gekostet haben. Entweder sind sie mit zusätzlichen Aufgaben belastet worden. Oder man hat Ihnen Zahlungen weggenommen. Beispiel. Die Finanzierung von kommunalen Krankenhäusern. Mal eben den Satz verändert. Beispiel Solidaritätspakt. Das Land hat zu wenig bezahlt, die Kommunen zu viel."

    Die SPD-Vorsitzende spricht vor Genossen in einer Schulaula in Overath bei Köln. Viel Beton und dunkles Braun, sechs Reihen Tische, voll besetzt, das Licht ist grell. Sie selbst ist auf der Bühne in milderes Licht getaucht. Hannelore Kraft steht hinter einem Rednerpult, die mannshohe SPD-Fahne im Rücken. Hin und wieder ballt sie die Hand zur Faust, beugt sich vor, verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Kämpferisch.

    "Wir wollen den Zusammenhalt und wir wollen eine solidarische Gesellschaft. Und dafür lohnt es sich zu streiten."

    Hannelore Kraft steht vor einer gewaltigen Herausforderung. Bei der Landtagswahl 2005 fegten CDU und FDP nicht nur die letzte rot-grüne Landesregierung aus dem Amt. Jürgen Rüttgers beendete auch 39 Jahre SPD-Herrschaft in Nordrhein-Westfalen.

    Ein historischer Sieg für die CDU, eine bittere Niederlage für den damaligen Ministerpräsidenten Peer Steinbrück und seine SPD. Die CDU ließ mit fast 45 Prozent der Stimmen die Sozialdemokraten mit ihren 37 Prozent weit hinter sich. Das Beben war bis nach Berlin zu spüren, wo Bundeskanzler Gerhard Schröder noch am selben Abend Neuwahlen ankündigte - und wenige Monate später verlor. Die Gründe laut Richard Hilmer von Infratest dimap:

    "Das war die gestiegene Arbeitslosenzahl auf über fünf Millionen. Und das zusammen mit der Agendapolitik hat dann sicherlich zu einer großen Wegbewegung von der SPD geführt."

    Der Machtverlust an Rhein und Ruhr ließ auch die Mitgliederkartei der SPD zusammenschrumpfen. Allein in Nordrhein-Westfalen hat die Partei seit dem Jahr 2002 mehr als 60.000 Mitglieder verloren. Mehr noch: Der Machtverlust hat das Parteiensystem in NRW einschneidend verändert. Die Partei die Linke konnte selbst im einstigen Kernland der SPD erstarken, kommt derzeit bei Umfragen auf etwa acht Prozent. Alle Wahlen seit 2005 haben sich für die SPD - auch an Rhein und Ruhr - zum Desaster entwickelt: Bei der Europawahl im Mai 2009 schafften die Sozialdemokraten nur knapp 21 Prozent, die Bundestagswahl im September brachte mit knapp 23 Prozent das schlechteste Ergebnis in der Partei-Geschichte, und bei der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen Ende August konnte die SPD die 30-Prozenthürde nicht überspringen. Immerhin bleibt das Ruhrgebiet auf der politischen Landkarte weitgehend rot. Und die SPD konnte einige wichtige Oberbürgermeisterposten zurückgewinnen. Keine Frage: Hannelore Krafts Mission der Rückeroberung der Macht gleicht einer Herkulesaufgabe. Sie aber gibt sich optimistisch:

    "Der Patient ist auf der Aufwachstation und insofern wird er bis Mai 2010 wieder zu vollen Kräften gekommen sein."

    Und Richard Hilmer von Infratest dimap macht für die SPD sogar ein Zeichen der Hoffnung aus:

    "Es gibt ein Feld, das zuletzt bei Landtagswahlen immer eine erhebliche Rolle gespielt hat. Das ist die Bildungspolitik, da ist die SPD durchaus auf Augenhöhe mit der Union, das wird einer der Bereiche sein, der mit über den Ausgang der Landtagswahl entscheiden wird."

    Wie in anderen Bundesländern ist auch hier das Schlachtfeld abgesteckt. Es geht um das dreigliedrige Schulsystem und die Frage, bis zu welchem Alter Kinder gemeinsam unterrichtet werden sollen. Die SPD will gemeinsamen Schulunterricht bis zur sechsten Klasse. Und die Forderungen der Grünen sind ganz ähnlich:

    "Also aus meiner Sicht ist das, was die machen in der Bildungspolitik ausgerichtet auf Selektion. Man kann Kartoffeln nach Qualitäten sortieren, aber nicht zehnjährige Kinder", "

    sagt Reiner Priggen, stellvertretender Vorsitzender der Grünen-Landtagsfraktion. Aus dieser inhaltlichen Nähe von Grünen und SPD gleich abzuleiten, die beiden wären natürliche und alternativlose Bündnispartner, wäre jedoch völlig falsch. Genüsslich verweisen die Grünen darauf, dass nirgendwo im Land das Interesse an neuen Gesamtschulen derzeit so groß sei wie im tiefschwarzen Münsterland. Soll heißen: Die CDU nähert sich im Schnellzugtempo der grünen Bildungspolitik an.

    Und in der Energiepolitik endet die rot-grüne Gemeinsamkeit beim Thema Kohlekraft. Die Grünen-Landesvorsitzende Daniela Schneckenburger:

    " "Das ist das Land der Kohlekraftwerke und wir wissen, was das bedeutet. Nämlich, für erneuerbare Energien die Tür zuzumachen und andererseits auch mehr CO2-Ausstoß zu produzieren."

    Gerade erst hat die schwarz-gelbe Landesregierung das Landesentwicklungsgesetz geändert, um eine milliardenschwere Investition in ein Kohlekraftwerk zu retten. 1,5 Milliarden hatte der Energieversorger E.ON bereits in eine neue Stromfabrik in Datteln investiert, als im September das Oberverwaltungsgericht in Münster den Bau stoppte. Wegen eines Verstoßes gegen das Landesgesetz. Jetzt wird das Gesetz eben dem Großprojekt angepasst - was Andreas Pinkwart, FDP-Landeschef und Minister für Innovation, Forschung und Technologie verteidigt:

    "Ich denke, es ist eine kluge Politik für unser Land, die gesetzlichen Bestimmungen auch so zu fassen, dass wichtige Großvorhaben wie dieses in einem Industrie- und Innovationsland noch realisiert werden können. Das Zweite ist aber das Thema Klimawandel. Wenn Sie nach Datteln mal fahren, dann sehen Sie, dass dort ein altes Kohlekraftwerk steht, mit hohen CO2-Emissionen und dass nun daneben ein neues entsteht, das die weltweit besten Effizienzwerte aufweist. Und das Unternehmen E.ON hat sich auch verpflichtet, mit Fertigstellung der neuen Anlage die alte abzuschalten. Und da kann ich nur sagen, das ist Umweltschutz pur."


    Zwar kritisieren SPD und Grüne einmütig den Griff in die politische Trickkiste, um den Kraftwerksneubau zu retten. Doch weiter reicht die energiepolitische Übereinstimmung nicht. Die Grünen ziehen gegen den Neubau von Kohlekraftwerken zu Felde. Die Genossen haben prinzipiell nichts gegen neue Kohlekraftwerke. Mehr noch: Anders als CDU, FDP und Grüne wollen sie sogar den Steinkohlebergbau über das Jahr 2018 hinaus erhalten. Kein Wunder also, dass im Mutterland von Rot-Grün derzeit keiner von einem neuen rot-grünen Projekt spricht.

    Auch nicht beim Landesparteitag der Grünen in Hamm Anfang Dezember. Hier feiern die Grünen erst einmal sich selbst. Die Umfragewerte stimmen, die Grünen liegen etwa gleichauf mit der FDP. Funktionäre und Basis sind mit sich im Reinen. Und so sitzt die gerade frisch gewählte Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann in der alten Industriehalle entspannt auf dem Sofa neben einem Tannenbaum, der mit grünen Karten geschmückt ist. "Meine Wünsche" -steht darauf:

    "10 plus x. Auf jeden Fall glaube ich, dass wir alle Chancen haben, ein zweistelliges Ergebnis zu holen und mit einer sehr viel stärkeren grünen Fraktion in den Landtag einzuziehen."

    Auf jeden Fall will ihre Partei künftig wieder mitregieren. Am liebsten in einer rot-grünen Partnerschaft, wie sie beteuert, notfalls aber auch in einem anderen Bündnis. Für Rot-Grün allein wird es jedoch wohl kaum reichen, ohne die Dunkelroten von der Links-Partei. Die aber halten viele Grüne für nicht regierungsfähig. Und dies, obwohl sich der NRW-Landesverband der Linken zum größten Landesverband im Westen gemausert hat. Bald will er an Mitgliederzahlen sogar die Landesparteien im Osten überflügeln. Doch Größe ist nicht alles. Der Wille zur Opposition sei bei vielen stärker als der zu regieren, heißt es sogar aus dem Landesverband. Im Wahlprogramm findet sich zum Beispiel die Forderung nach der Verstaatlichung der großen Energieversorger. Und das sei unverhandelbar, sagt der Vorsitzende der NRW-Linken, Wolfgang Zimmermann - so wie andere Programmpunkte auch:

    "Die Privatisierung öffentlichen Eigentums ist für uns nicht verhandelbar. Mit uns kann es keine weitere Verschlechterung der sozialen Sicherungssysteme geben, die ohnehin sehr durchlöchert sind. Mit uns kann es keinen Stellenabbau im öffentlichen Dienst geben. Und mit uns gemeinsam, aber das ist wahrscheinlich realisierbar, muss es eine Schule für alle in Nordrhein-Westfalen geben."

    Rot-Rot-Grün, das scheint vor der Landtagswahl eher ein Konzept für Utopia denn für NRW zu sein. Und selbst eine Wiederauflage von Rot-Grün scheint unabhängig von den Umfragen zumindest bei den Grünen auf wenig Gegenliebe zu stoßen. Sie haben nicht vergessen, wie sehr sie bis 2005 von ihrem großen Koalitionspartner, von den Matthiesens und Clements, gedemütigt worden sind. Und mittlerweile haben die Grünen in den Kommunen des Landes gute - für sie überraschend gute - Erfahrungen mit der CDU gemacht:

    "Da ist was passiert. Die CDU hat ja noch 1989 einen Beschluss gefasst, nie mit Grünen und Republikanern. Und ich weiß aus der Anfangszeit, als ich zu den Grünen kam, da waren wir für die CDU-Leute der parlamentarische Arm der RAF", "

    erinnert sich Rainer Priggen. Heute machen sie gemeinsam Politik, Grüne und Schwarze. Nicht nur in Aachen, seiner Heimatstadt. Auch in Essen. Und in Bonn, einer Stadt mit einer sehr konservativen CDU und einem sehr linken grünen Ortsverein haben Mitte Dezember beide Parteien einer Koalition zugestimmt. Wenn auch mit Bauchschmerzen, sagen einige Grüne. Aber, so ist auch immer wieder zu hören: Schlimmer als mit der SPD könne es mit der CDU auch nicht werden. Schwarz-Grün also eher Notlösung als Projekt? Keines von beidem sagt Anna Caelers, die Vorstandsprecherin der Bonner Grünen:

    " "Wir haben in Verhandlung mit der Ampel gestanden, da hat sich aber gezeigt, dass da, für mich überraschend, die inhaltliche Tiefe der Verhandlungen nicht so stark war, wie wir sie in Verhandlungen mit der CDU erlebt haben. Von der SPD ist leider wenig an Inhalten, an Vorschlägen gekommen, wie man die Stadt Bonn nach vorne bringen kann."

    Das sei bei der CDU ganz anders gewesen - auch was das Interesse an originär grünen Themen angeht. Und ähnlich Positives ist auch von der Bonner CDU zu hören:

    "Es hat zwar lange gedauert, aber es waren durchweg verantwortungsvolle und faire Gespräche. Und wir waren allesamt, sowohl auf unserer Seite als auch bei den Grünen überrascht, dass es so konfliktfrei lief", "

    sagt Philip Lerch, der am Tag seiner Wahl zum Kreisvorsitzenden erleben durfte, wie seine CDU ohne Aussprache und mit nur drei Gegenstimmen dem 42-seitigen Koalitionsvertrag mit den Grünen zustimmte. Ein Vorbild für das, was bei entsprechenden Wahlergebnissen auch auf Landesebene möglich wäre?

    Zumindest die grüne Landesspitze liebäugelt mit dieser Konstellation. Zum offenen Werben mag sie aber noch nicht übergehen. Zu groß sind die Vorbehalte gegenüber Schwarz-Grün zumindest bei Teilen der eigenen Basis. Deshalb gilt noch immer die Parole: "Über Schwarz-Grün im Land redet man nicht. Schwarz-Grün macht man." Vielleicht jedenfalls. Fragt sich nur, wie die Schwarzen dazu stehen. Die Frage bleibt unbeantwortet. Jedenfalls vom schwarzen Spitzenmann. Es sei besser, Jürgen Rüttgers heute nicht auf diese Farbkombination anzusprechen, sagen seine Sprecher am Rande der Zuhör-Veranstaltung im rheinischen Eschweiler. Er sei gerade zu gut gelaunt. Denn der Abend war ein voller Erfolg. Von Juso-Protesten keine Spur, die Jung-Sozis hätten sogar hin und wieder applaudiert, beteuern die Mitarbeiter des Ministerpräsidenten. Der nimmt unterdessen noch schnell ein Bad in der Menge, bevor er wieder in seinen Dienstwagen steigt:

    " "So, mir hat's Spaß gemacht. War schön hier bei euch in Eschweiler."