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Ein Leben in Israel

David Grossman erzählt in seinem neuen Roman die Geschichte einer israelischen Frau, die sich nichts mehr wünscht, als in einem ewig umkämpften Land ein "kleines unheroisches" Leben zu führen.

Von Christiane Wirtz |
    David Grossman erzählt in seinem neuen Roman die Geschichte einer Familie. Einer israelischen Familie: Mutter, Vater und zwei Söhne. Er erzählt die Geschichte einer Dreiecksbeziehung. Und er erzählt die Geschichte einer Frau - Ehefrau, Mutter und Geliebte -, die sich nichts mehr wünscht, als in einem ewig umkämpften Land ein "kleines unheroisches" Leben zu führen.

    "Ich habe versucht zu zeigen, wie die äußere Wirklichkeit, wie der Konflikt abstrahlt in die sehr zarten Familienbande. In diese geschützte Sphäre von Privatheit, von Wärme, in der man auf die Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder achtet. Was passiert mit diesem Bubble des Privaten, wenn man ihn diesem Katastrophen-Gebiet des israelisch-arabischen Konflikts aussetzt. Wie dieser Konflikt die Privatheit vergiftet, wie er sie manchmal zerstört."

    20 Jahre lang ist es Ora, der Protagonistin des Romans, vergönnt, dieses ruhige, private Leben. Bis Ofer, ihr zweitgeborener Sohn, sich für eine militärische Operation im Westjordanland meldet. Kaum ist er in den Krieg gezogen hält es Ora nicht mehr aus, zu Hause, sie erträgt das Warten nicht und auch nicht die Ahnung. "Eine Frau flieht vor einer Nachricht", so hat David Grossman sein Buch genannt. Ora flieht, macht sich auf den Weg durch Galiläa - gemeinsam mit ihrem Jugend- und Seelenfreund Avram, der sich seit seiner Zeit in ägyptischer Gefangenschaft in sich selbst zurückgezogen hat. Auf der gemeinsamen Wanderung durch Galiläa erwacht Avram zu neuem Leben, Schritt für Schritt.

    "Wissen Sie, das ist eine Walkie-Talkie-Story: Sie laufen und sprechen. Und als ich die Geschichte geschrieben habe, bin ich selbst gewandert. Ich bin die ganzen 500 Kilometer gelaufen, von Galiläa bis zu mir nach Hause, in der Nähe von Jerusalem. Und das war wunderbar, das war der beste Teil des Schreibens."

    Der Nahost-Konflikt, das Militärische ist in dieser Geschichte allgegenwärtig. Die politische Lage ist eng verwoben mit dem persönlichen Schicksal der Charaktere. In der Natur versucht Ora dieser Realität für eine Zeit lang zu entfliehen. Auf dem gemeinsamen Weg erzählt sie ihrem Freund und früheren Geliebten Avram, der nie eine Familie hatte, was es bedeutet eine Familie zu haben. Was es heißt, Kinder großzuziehen, in den verschiedenen Etappen des Heranwachsens. Sie erzählt von ersten Schritten und ersten Worten, von Mathematik-Aufgaben und Liebeskummer. Aber auch davon, was es heißt, im Nahen Osten Kind zu sein.

    "Was antwortest du einem Sechsjährigen, dem mickrigen Ofer, wenn er sich eines Morgens auf dem Weg mit dem Fahrrad in die Schule fest an deinen Rücken klammert und vorsichtig fragt: Mama, wer ist gegen uns? Du versuchst herauszubekommen, was genau er meint, und er fragt ungeduldig, wer auf der Welt hasst uns, welche Länder sind gegen und, und du willst natürlich, dass seine Welt noch sorglos und frei von Hass bleibt, und sagst ihm, die, die gegen uns sind, hassen uns nicht unbedingt, wir haben eben mit einigen Nachbarländern so eine Art langen Streit über verschiedene Sachen, genauso wie die Kinder bei dir in der Schule sich manchmal streiten und sogar schlagen."

    Alles, was die Charaktere in diesem Roman erleben, erleben sie in großer Intensität. Sie lieben und leiden, als seien sie vollkommen ungeschützt, als hätte man sie nicht gewarnt vor den Gefahren des Lebens. David Grossman entwirft Szenen, in die er seine Leser wie in einen Strudel hineinzieht. Etwa, ganz zu Anfang des Buches, wenn Ora und Avram, beide mit hohem Fieber, in ihren Krankenbetten die Liebe zu Geschichten und die Liebe zueinander entdecken. Oder später, wenn Avram sich in einem Erdloch vor den anrückenden Ägyptern versteckt - über Funk eine Geschichte erzählt, um nicht verrückt zu werden, um am Leben zu bleiben. Durch diese Erzählweise kommen die Figuren dem Leser sehr nahe. Er hat das Gefühl, ihnen bis tief in die Seele zu blicken. Ein israelisches Lebensgefühl.

    "Ich glaube, unser Leben ist sehr intensiv, sehr extrem, weil die Bedingungen extrem sind, weil wir am Rande des Abgrundes leben, die ganze Zeit."

    Es sind Vergangenheit und Gegenwart, die das Leben in Israel ausmachen. An die Zukunft denkt man hier weniger. Weil keiner weiß, was die Zukunft in der Region mit sich bringt. Und so taucht in David Grossmans Roman auch der Gedanke auf, das gelobte Land zu verlassen, dem ewigen Kampf zu entfliehen. Es sind die letzten Worte, die Ofer seiner Mutter Ora zuflüstert, als sie sich vor dem Militäreinsatz, an der Sammelstelle voneinander verabschieden.

    "Wenn ich umkomm, hatte Ofer ihr zugeflüstert, dann verlasst ihr das Land. Macht, dass ihr wegkommt. Dann habt ihr hier nichts mehr verloren."

    "Ich weiß, dass es für viele Israelis ein schockierender Punkt in dem Buch war. Aber für mich ist es keine Option. Ich will in Israel bleiben. Israel war ein Traum von Dutzenden und Dutzenden von jüdischen Generationen. Bei aller Kritik, die ich habe, an dem Verhalten unserer Regierung, an der Art und Weise, vergesse ich niemals, keinen Augenblick, dass es fast ein Wunder ist, dass wir diesen Staat haben. Und ich glaube, wir sollten viel respektvoller sein - im Hinblick auf dieses Wunder. Ich weiß nicht, ob die Geschichte uns noch einmal ein Wunder wie dieses gewährt."

    David Grossman begann dieses Buch zu schreiben, als sein erster Sohn Jonathan schon beim Militär war. Sein zweitgeborener Sohn Uri stand kurz davor, eingezogen zu werden. Beide dienten beim Panzercorps. Uri starb im August 2006, in den letzten Stunden des Zweiten Libanon-Krieges.

    "Das Buch zu schreiben, war mein Weg, bei ihm zu sein."

    Und so muss man, während man den Roman liest, immer auch an den Tod des Sohnes denken. Hofft, dass wenigstens die Geschichte ein gutes Ende nimmt. Auf grausame Weise haben sich hier Realität und Fiktion miteinander vermischt.

    "Und ich hatte das Gefühl, ich wollte ihn begleiten, soweit ich das kann. Und er hat mir wirklich viel geholfen, es gibt so viele Details des täglichen Lebens, über die Gefühle der Soldaten dort, von denen er mir erzählt hat."

    Von der Unaussprechlichkeit des Krieges spricht David Grossman in seinem Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht". Er erzählt von der militärischen Welt, die in Israel der zivilen Welt so nah ist - und doch so unendlich weit entfernt. Weil man kaum leben könnte, in diesem Land, wenn man nicht auch zu verdrängen wüsste - das aber nur noch schwer kann, wenn die eigenen Kinder zum Militär gehen, am Wochenende vom Militär nach Hause kommen. So wie Ofer, die Roman-Figur.

    "Sogar von der stinkenden Uniform trennt er sich widerwillig, wie auch von dem Dreck, der an ihm klebt und ihn vielleicht ein bisschen schützt, nimmt sie an. ( ... ) Sein Geruch ist gewaltig. Seine Finger sind rau, mit vielen Wunden, seine Nägel schwarz, die Lippen sehen immer aus, als bluteten sie. Sein Blick ist zerstreut. Sie sieht das Haus mit seinen Augen. Die Sauberkeit, die Symmetrie der Teppiche, die Bilder an den Wänden, der schmucke Kleinkram, er kann es kaum glauben, dass es irgendwo auf der Welt eine derart liebevolle Sorgfalt gibt. Die ist für ihn kaum zu ertragen."

    Eindringlich beschreibt David Grossman in seinem Buch das Lebensgefühl in Israel. Den Alltag, in dem man sich einrichtet, zwischen Verdrängen und Befürchten. Die Biografien, in die das Militärische immer wieder einbricht. Und trotz alledem ist es nicht nur ein tragischer Roman. Denn während des Laufens, während Ora schon um ihren Sohn Ofer trauert, von dem sie gar nicht weiß, ob er tot ist - während sie von ihm erzählt, erschafft sie ihn zugleich mit Worten neu. Für Avram. Und während Avram Ora zuhört, eine ganze Wanderung lang, kehrt auch er langsam ins Leben zurück.

    "Es ist ein Buch darüber, sich wieder für das Leben zu entscheiden. Selbst nachdem, was mir passiert ist. Es ist eine Geschichte darüber, das Leben zu bejahen und das Leben wieder wichtig zu nehmen. Und nicht nachzugeben - den Versuchungen der Verzweiflung, des Fatalismus oder Zynismus. Aber auch, um mich immer wieder selbst daran zu erinnern, was das Leben ausmacht. Und was das Leben ausmachen sollte."

    Mehr als 700 Seiten lang flüchtet Ora vor einer Nachricht. Und zugleich stellt sie sich dem Leben, der Liebe und dem Schmerz - indem sie erzählt. Mit viel Zärtlichkeit, mit großer Aufmerksamkeit fürs Detail lässt David Grossman seine Protagonistin über das Leben einer israelischen Familie sprechen. Und von der Verletzlichkeit des menschlichen Lebens.

    David Grossman: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
    Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer
    Carl Hanser Verlag, München 2009, 727 Seiten, 24,90 Euro