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Ein Leben ohne Perspektive

In den vergangenen zwei Wochen starben mindestens elf Menschen bei Auseinandersetzungen in den Kurdengebieten der Türkei sowie in Istanbul. Nach einigen Jahren relativer Ruhe haben die Kämpfe in jüngster Zeit wieder zugenommen. Der Anlass war die Tötung von 14 Kämpfern der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Ende März. Doch hinter den Ausschreitungen stecken vor allem die Armut und Perspektivlosigkeit der Jugendlichen in der Region. Antje Bauer berichtet.

    Ein Musikladen in einem modernen Stadtviertel von Diyarbakir. Drei Männer Anfang 20 unterhalten sich. Der junge Mann, der den Laden führt, beklagt sich:

    "Die Geschäfte laufen nicht. Man verdient nichts. Und wir gehen auch nicht mehr aus wie früher, nirgendwohin. Es ist gefährlich. Es gibt überall Handtaschenräuber."

    Ofis heißt dieser Stadtteil und ist, wie der Name sagt, das Geschäftsviertel von Diyarbakir. Moderne Hochhäuser stehen hier, es gibt Internetcafés, McDonald's, Benetton und alles andere, was eine moderne Großstadt ausmacht. Ende März sind nach der Beerdigung mehrerer Kämpfer der Kurdenguerilla PKK Hunderte Demonstranten aus den Armenvierteln nach Ofis gezogen, haben Schaufenster eingeschlagen und Läden zerstört und geplündert. Politische Forderungen erhoben sie dabei nicht. Es war reiner Vandalismus. Denn Ofis und Yenisehir, die Neustadt, sind zwei reiche Inseln in dem Ozean an Armut, den Diyarbakir darstellt.

    Ilhan Diken, der Vizebürgermeister der Stadt, erläutert anhand von dürren Zahlen, wie es um die größte kurdische Stadt bestellt ist:

    "1992 hatte Diyarbakir 350.000 Einwohner. Heute sind es 1.350.000 Einwohner, darunter viele Flüchtlinge. Allein im Stadtzentrum arbeiten zurzeit 10.000 Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren. Viele dieser Kinder leben auf der Straße. 70 Prozent der Menschen, die im Stadtzentrum leben, sind arbeitslos."

    Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der kurdischen Guerilla PKK und dem türkischen Militär haben in den 90er Jahren etwa eine Million Kurden aus den Dörfern in die Städte getrieben. Diyarbakir war einer der wichtigsten Fluchtorte. Schon vorher eine arme Stadt, hat dieser Flüchtlingsstrom sie an den Rand des Kollapses gebracht. Auch heute noch, zehn Jahre später, drängen sich die Flüchtlinge in winzigen, engen Wohnungen, viele haben kein sauberes Trinkwasser, Zehntausende Kinder gehen nicht zur Schule. Die hohe Arbeitslosigkeit liegt daran, dass die Flüchtlinge Bauern sind und ihre landwirtschaftlichen Fähigkeiten in der Stadt nichts nutzen, aber auch daran, dass es in der Region kaum Arbeitsplätze gibt.

    Ein Teil der Flüchtlinge hat deshalb in den vergangenen Jahren begonnen, die Sommermonate in ihrem ehemaligen Dorf zu verbringen und dort ihre Äcker einzusäen. Da es in den Dörfern jedoch kaum noch intakte Häuser gibt und keine Schulen und Gesundheitszentren, kehren sie im Winter in die Städte zurück. Leyla Budak ist 1991 mit ihrer Familie aus ihrem Dorf bei der Kleinstadt Lice geflohen:

    "Eine Zeit lang bin ich mit meinen Eltern hingefahren, und wir haben dort Tabak eingesät und Gemüse, für unseren Eigenverbrauch. Aber jetzt sind meine Eltern krank, und wir können nicht mehr hin."

    Die Familie Budak lebt heute in einem kleinen Haus in der Altstadt von Diyarbakir. Der 15-köpfigen Familie stehen umgerechnet 300 Euro im Monat zur Verfügung. Das sind 60 Cent pro Person und Tag. Das Wasser ist der Familie soeben abgestellt worden. Strom bezieht sie noch, obwohl sie auch die Stromrechnung schon seit Jahren nicht mehr bezahlen kann. Weil Arbeit so rar ist in Diyarbakir, gibt es unzählige ambulante Verkäufer in der Stadt, schuheputzende Kinder, Lastenträger und eben die Taschendiebe, vor der sich die Jugendlichen im reichen Stadtteil Ofis fürchten. Dass der Mangel an Zukunftsperspektiven auch in Randale umschlagen kann, wie in den letzten Wochen geschehen, erstaunt den Intellektuellen Seyhmus Diken nicht:

    "Wenn sich die Einwohnerzahl innerhalb von zehn Jahren auf eine Million verdreifacht und die Arbeitslosigkeit 70 Prozent erreicht, dann entsteht ein Umfeld, in dem immer mehr Straftaten begangen werden und die Gesellschaft sich polarisiert. Unbedeutende Ereignisse können sich dann zu massiven, gewalttätigen Demonstrationen auswachsen."

    In den letzten Jahren hat es in Bezug auf das Kurdenproblem Verbesserungen gegeben in der Türkei. Es wird inzwischen offiziell eingeräumt, dass es so etwas wie ein Kurdenproblem gibt, die Kurden haben inzwischen ein – wenn auch stark eingeschränktes - Recht auf Kurdischunterricht und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache. Doch auf das Leben der Kurden selbst hatte das wenig Auswirkungen. Ahmet Kalpak ist Vorsitzender der Vertriebenenorganisation Göc-Der. Er macht den türkischen Staat für die Misere verantwortlich:

    "Es gab eine systematische Vertreibungspolitik, aber es gibt keine systematische Politik für die Zeit nach der Vertreibung. Es gibt keine ernsthafte Politik, um den Leuten jetzt die Rückkehr aufs Dorf zu erleichtern. Es sind mehrere Projekte entwickelt worden, aber die haben alle nichts gebracht."

    Politische Deklarationen allein reichen nicht aus, heißt das, konkrete Schritte sind nötig. Der Intellektuelle Seyhmus Diken meint aber, dass die Türkei diese Schritte aus eigener Kraft nicht tun kann, dass Organisationen sich darum bemühen müssen, dass die Flüchtlinge in ihre Dörfer zurückkehren können:

    "Wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, sich auf dem Dorf wieder ein Haus zu bauen, jedem zwei Kühe gibt und dort Schulen und Gesundheitsstationen einrichtet, dann wird man sehen, ob sie zurückkehren wollen oder nicht. Aber die nationalen ökonomischen Ressourcen der Türkei reichen dafür nicht aus, das ist inzwischen ein internationales Problem. Ich meine, darum muss sich auch die UNO kümmern, angefangen vom Hochkommissar für Flüchtlinge. Denn diese Emigranten kommen ja bis zu den Grenzen Europas und schaffen dort Probleme."