Archiv


Ein legendäres Kleidungsstück

Der Autorin Lorenza Foschini ist eine Porträtskizze gelungen, die diskret eine besondere Sammelleidenschaft beschreibt. Dazu gibt sie bislang unbekannte Einblicke in die Familiengeschichte der Prousts und in das Verhältnis der zwei ungleichen Brüder, Marcel und Robert Proust.

Von Jürgen Ritte |
    Madame Marthe Dubois-Amiot, die Ehefrau von Marcel Prousts jüngerem Bruder Robert, hielt nicht gerade große Stücke auf ihren illustren, im November 1922 verstorbenen Schwager. Dessen sonderbarer Lebenswandel schien ihr so suspekt wie sein Werk, wo schließlich auch von Homosexuellen die Rede ist, anrüchig. Und als im Jahre 1935 ihr Gemahl Robert Proust, ein angesehener Professor der Medizin (und im Nebenberuf literarischer Testamentsvollstrecker seines Bruders Marcel), ebenfalls das Zeitliche segnete, hatte sie offenbar nichts Eiligeres zu tun, als sich der von Robert bis dahin gehüteten Hinterlassenschaft des Autors der "Suche nach der verlorenen Zeit" schnellstens zu entledigen:

    Marcel Prousts Schreibtisch, sein – leerer – Bücherschrank, sein Messingbett, sein Spazierstock landeten flugs beim Trödler, und zahlreiche Briefe, Photos und anderer " Papierkram", wie sie recht respektlos Prousts Manuskripte nannte, wurden, so will es die Legende, dem Feuer überantwortet.

    Und so wäre denn von Marcel Proust "nur" sein gedrucktes und bereits veröffentlichtes Werk geblieben, dazu ein paar wenige, vor zwei Jahren bei Sotheby’s unter den Hammer geratene Habseligkeiten (eine Haarsträhne des Schriftstellers, seine goldene Taschenuhr, seine Pillendose, Toilettenartikel…) aus dem Besitz seiner Haushälterin Céleste Albaret (die eine entschieden höhere Meinung von Proust hatte als dessen Schwägerin), wenn, ja wenn da nicht ein junger und betuchter Büchernarr und Sammler gewesen wäre, Jacques Guérin. Dieser 1902 geborene Erbe einer florierenden Parfumfabrik mit opulenten Verkaufsräumen an der Pariser Rue de la Paix widmet schon als junger Mann allem, was in irgendeiner Weise mit Proust zu schaffen hat, einen veritablen Kult. Im Jahre 1935, kurz nach Robert Prousts Tod - Guérin hatte sich Jahre zuvor von ihm am Blinddarm operieren lassen - betritt er in der Rue du Faubourg Saint-Honoré eine Buchhandlung:

    Jacques betrat den Laden und begann die Regale zu mustern. Eifrig näherte sich der Besitzer und fragte: " Kann ich Ihnen behilflich sein? Suchen Sie einen bestimmten Autor?" - " Nichts Bestimmtes, Baudelaire, Apollinaire, Proust… ". Der Buchhändler, der Lefebvre hieß, reagierte erstaunt: "Was für ein merkwürdiger Zufall, erst vor wenigen Minuten habe ich Korrekturbögen und Briefe von Marcel Proust erworben. Der Mann, der sie mir verkauft hat, ist soeben hinausgegangen. Er hat mir auch Prousts Bücherregale und seinen Schreibtisch angeboten, aber ich handle nicht mit Möbeln… jedenfalls wird er gleich zurückkommen, um seinen Scheck abzuholen. Warten Sie doch auf ihn, wenn Sie die Sache interessiert. Ich benötige ein paar Tage, um die Manuskripte zu prüfen und zu katalogisieren, dann verkaufe ich Sie Ihnen gerne…"

    Tatsächlich stellte sich wenige Minuten später der Lieferant dieser außerordentlichen Fundstücke ein, ein gewisser Monsieur Werner, seines Zeichens Faktotum der Madame Dubois-Amiot und Trödler. Und damit beginnt die Geschichte eines Sammlerglücks und einer schon romanesk anmutenden Rettungsaktion, die die italienische Journalistin Lorenza Foschini in ihrem kurzweiligen Buch "Prousts Mantel" nacherzählt. Im Schuppen des "Monsieur Werner" stellt Guérin neben den Möbeln noch weitere, dem Feuer entgangene Manuskripte sicher (sie finden sich mit Familienphotos, Zeichnungen – u.a. von Jean Cocteau - und Briefen in einer Hutschachtel), sowie, im Laufe der Zeit, andere Devotionalien (Prousts Orden der "Légion d’honneur", das Porträt, in Öl, des Vaters Adrien Proust und so weiter). Auch Prousts berühmte "Cahiers", seine für das Verständnis der Entstehungsgeschichte der "Recherche" so wichtigen Notizbücher, geraten in seinen Besitz. Einen eifersüchtig gehüteten Besitz, den Guérin lange den Blicken der Öffentlichkeit entzog.

    Jacques Guérin hat im Laufe seines langen Lebens (er starb als 98 jähriger im Jahre 2000) eine der bedeutendsten französischen Bücher- und Autographensammlungen zusammengetragen, die neben Proust auch wichtige Manuskripte von Apollinaire, Baudelaire oder Rimbaud umfasste. Erst wenige Jahre vor seinem Tod konnte er sich dazu entschließen, große Teile der Sammlung an staatliche Institutionen zu vermachen, beziehungsweise zu veräußern oder auch versteigern zu lassen, so etwa im Mai 1992, als gewichtige Teile seiner Proust-Sammlung (darunter der inzwischen berühmte Bericht von einem missglückten Bordellbesuch des 17jährigen Proust) in Paris unter den Hammer kamen. Prousts Bett und sein Bücherschrank standen da schon seit einiger Zeit im Pariser Stadtmuseum, dem Musée Carnavalet.
    Und Prousts Mantel, was hat es damit auf sich?

    Eines Abends nach einem Besuch bei Jacques, ließ Werner sich, schon an der Tür stehend, als sei er es müde, einen banalen kleinen Diebstahl noch länger zu verheimlichen, beiläufig entschlüpfen : " Ich muss Ihnen etwas gestehen, Monsieur Guérin, aber ich schäme mich ein bisschen…. Wissen Sie, ich angle gern, also gehe ich jeden Sonntagmorgen an die Marne, wo ich ein Boot liegen habe. Eines Tages hat Madame Proust in ihrer Herzensgüte gesagt: ‘Sie sind ja verrückt, so leicht bekleidet bei dieser Kälte und der Feuchtigkeit am Fluss zu angeln. Hier nehmen Sie diesen alten Mantel von Marcel, den können Sie sich über die Beine legen’. Nun, seither wickle ich mir den Mantel um die Beine und bedecke meine Füße damit. Ich erzähle Ihnen das nur, um mein Gewissen zu erleichtern…"

    Bei dem alten, abgewetzten Mantel handelte es sich tatsächlich um das legendäre, taubengraue, pelzgefütterte, schwere Kleidungsstück, mit dem Proust sommers wie winters ausging und das ihm auch noch als Decke diente, wenn er, nicht weniger fröstelnd als Monsieur Werner beim Angeln, in seinem Bett saß und an der "Suche nach der verlorenen Zeit" schrieb. Prousts Mantel war die letzte Trophäe, die Jacques Guérin aus den Händen des Monsieur Werner erhielt, diesmal ohne Bezahlung.

    Lorenza Foschini ist, über die Geschichte einer Sammlerleidenschaft hinaus, in der Fetischismus und Bibliophilie, antiquarisches Hüten und philologisches Wissen sich gegenseitig befeuern, eine hübsche Porträtskizze des so diskreten wie besessenen Jacques Guérin gelungen. Und die Einblicke, die sie dabei in die Familiengeschichte der Prousts gewährt, insbesondere in das Verhältnis der beiden ungleichen Brüder untereinander, beschränken sich, ebenso zurückhaltend, auf das Wesentliche.

    Prousts Mantel liegt heute, gut verpackt, im Dépôt des Musée Carnavalet. Eine unsichtbare Reliquie, das Schweißtuch des großen Romans. An Letzterem, dem Roman, haben wir indes bedeutend mehr.

    Lorenza Foschini: Prousts Mantel. Die Geschichte einer Leidenschaft, aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki, München, Verlag Nagel & Kimche, 2011, 126 Seite.