Was hat der Mann sich da vorgenommen? Heinrich Wefing, im Hauptberuf politischer Redakteur der ZEIT, hat nicht nur ein Buch über den Prozess gegen John Demjanjuk geschrieben. Ursprünglich hatte er das mal vor. Tatsächlich versucht er nun, dem Leser die Geschichte des Angeklagten samt einer Aufarbeitung der Vorwürfe und des Prozesses zu liefern. Vor rund zwei Jahren, als sich Wefing erstmals intensiv mit Demjanjuk und dessen Geschichte befasste, dachte der Autor noch an eine reine Gerichtsreportage.
"Aber ich hab' dabei festgestellt, dieser Fall ist so komplex und so historisch vielschichtig, und er hat eine so komplizierte Vorgeschichte, dass es wichtig ist, diese Vorgeschichte einmal zu schildern. Und je tiefer Sie einsteigen in das, was vorher geschehen ist, bevor dieser Prozess hier in München angekommen ist, desto mehr kommen Sie ins Zweifeln, desto spannender wird der Prozess, wird der Fall."
Der Fall Demjanjuk – so hat Wefing sein Buch also genannt, und er erzählt die Geschichte folgerichtig auch ab der Geburt Iwan Demjanjuks 1920 in der Ukraine, streift die Familiengeschichte des Mannes und erzählt von einem Rotarmisten, der, um dem Hungertod im deutschen Kriegsgefangenenlager zu entgehen, zum SS-Wachmann, zum Helfer des Holocaust wird. Gleich zu Beginn wirft Wefing eine der für das Münchner Verfahren gegen Demjanjuk zentralen Fragen auf.
Warum muss einem solchen Mann noch einmal der Prozess gemacht werden wegen einer Tat, die bald siebzig Jahre zurückliegt, einer Tat, die er begangen hat (wenn er sie denn begangen hat), als er kaum zwanzig war, ein verhungerter Rotarmist in deutscher Gefangenschaft, ein armer Hund, der nur eines wollte: überleben? Warum wird so einer noch vor Gericht gezerrt?
Grundsätzliche, moralisch-ethische Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Sie sollen den Leser ebenso zweifeln lassen wie den Autoren während seiner Recherchen.
"Das Buch handelt von Zweifeln, von Ambivalenzen, von Ungewissheiten, davon, wie Beweise nach so vielen Jahren, juristische Beweise, immer schwerer zu erbringen sind."
Wefing kommt wie die Mehrheit der Beobachter des Demjanjuk-Verfahrens und anders als die Verteidigung zu dem Schluss, der Angeklagte sei zu Recht angeklagt und auch verurteilt worden.
Das Urteil signalisiert nämlich auch den Tyrannen und Folterknechten unserer Zeit, den Völkermördern und ihren Handlangern, dass die Welt entschlossen ist, nicht zu vergessen, dass sie auch nach Jahrzehnten noch versucht, die Straftäter zur Verantwortung zu ziehen, die Unterlinge genauso wie die Befehlshaber.
Zuvor zeigt Wefing, und das ist eine Stärke dieses Werks, alle Stationen Demjanjuks auf dem lebenslangen Weg bis in den Münchner Gerichtssaal auf: Vom Dienst für die Deutschen über die Migration in die USA und die ersten Ermittlungen gegen ihn dort, die schließlich zur Abschiebung nach Israel führen.
"Es gab immer wieder Punkte, wo ich gedacht habe: Das kann nicht wahr sein. Das größte Entsetzen, die größte Verstörung war für mich, als ich im Detail nachvollzogen habe, wie ihm in den Vereinigten Staaten mitgespielt worden ist. Das ist ein, wie ich finde, echter Justizskandal. Die amerikanischen Behörden haben wissentlich oder versehentlich entlastendes Material in den Prozessen gegen Demjanjuk zurückgehalten."
Der Mann aus der Ukraine wurde nach Israel abgeschoben auf Grundlage von Vorwürfen, von denen die US-Ermittler bereits wussten, dass sie nicht stimmen konnten. Schon damals gab es deutliche Hinweise, Demjanjuk sei Wachmann in Sobibor gewesen und nicht in Treblinka, wie ihm die Israelis vorwarfen. Trotzdem wird er nach Israel gebracht, dort von Treblinka-Überlebenden erkannt und zum Tode verurteilt. Doch neue Beweise machen klar: "Iwan der Schreckliche" in Treblinka war ein Anderer. Demjanjuk kommt frei und kann in seine US-Wahlheimat zurückreisen. Das Kapitel über die fehlerhaften US-Ermittlungen ist das mit Abstand stärkste des Buches. Auch der Beschreibung der Vorgänge in Israel folgt man als Leser interessiert und teils gefesselt. Welche Wendung wird das Schicksal dieses Mannes nun nehmen? Die US-Ermittler lassen nicht locker, und die deutsche Justiz erklärt sich nach jahrelangem Zögern bereit Demjanjuk anzuklagen. Der Prozess in Deutschland ist der eigentliche Mittelpunkt des Wefing-Buches und leider auch der Schwachpunkt. Es wird deutlich, dass der in Hamburg lebende Wefing das in München laufende Verfahren eben nur sporadisch besuchen konnte. So gelingt es ihm nicht, die Atmosphäre des Prozesses zu erfassen. Stattdessen greift er zu nebensächlichen Beschreibungen. Wefings Kapitel über das Urteil nach anderthalb Jahren Prozess beginnt wie folgt:
Der 12. Mai ist ein milder, sonniger Morgen in München. Ein paar Kastanien blühen noch, vor den Cafes sitzen die Menschen in leichten Kleidern, die Sonnenbrillen im Haar. Nur John Demjanjuk wird nicht viel von dieser frühsommerlichen Heiterkeit registriert haben. Für ihn ist dies nicht irgendein Tag im Mai. Es ist der Tag der Entscheidung.
Weniger Theatralik wäre gut gewesen und weniger Redundanz auch. Natürlich sind es die großen Fragen, die den Fall Demjanjuk spannend machen. Fragen nach dem Recht der deutschen Justiz einen untergeordneten Wachmann anzuklagen, während man die deutschen Täter in der Vergangenheit gar nicht oder nur milde bestrafte. Fragen nach der Durchführbarkeit eines solchen Verfahrens so viele Jahre nach den Taten. Es ist auch richtig und nötig, dass Wefing alle Zweifel an den Beweisen gegen Demjanjuk aufführt. Allerdings werden diese Fragen und Zweifel im Buch so oft wiederholt, immer und immer wieder aufgeworfen, dass der Leser darüber müde wird. Wach bliebe er wahrscheinlich, wenn er das Gefühl bekäme, über die ganze Dauer des Prozesses Teil des Verfahrens zu sein, mit im Gerichtssaal zu sitzen. Doch das leistet das auf Momentaufnahmen basierende Buch nicht. So bleibt "Der Fall Demjanjuk" von Heinrich Wefing in der Tat eine teils spannende, manchmal etwas zu knappe Zusammenfassung. Eine gelungene, umfassende Auseinandersetzung mit dem, wie es im Untertitel heißt, "letzen großen NS-Prozess" ist das Buch aber leider nicht. Der Autor hat sich bedauerlicherweise zu viel vorgenommen.
Heinrich Wefing: "Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess",
Verlag C.H. Beck
240 Seiten, Euro 19,95
ISBN: 978-3-406-60583-3
"Aber ich hab' dabei festgestellt, dieser Fall ist so komplex und so historisch vielschichtig, und er hat eine so komplizierte Vorgeschichte, dass es wichtig ist, diese Vorgeschichte einmal zu schildern. Und je tiefer Sie einsteigen in das, was vorher geschehen ist, bevor dieser Prozess hier in München angekommen ist, desto mehr kommen Sie ins Zweifeln, desto spannender wird der Prozess, wird der Fall."
Der Fall Demjanjuk – so hat Wefing sein Buch also genannt, und er erzählt die Geschichte folgerichtig auch ab der Geburt Iwan Demjanjuks 1920 in der Ukraine, streift die Familiengeschichte des Mannes und erzählt von einem Rotarmisten, der, um dem Hungertod im deutschen Kriegsgefangenenlager zu entgehen, zum SS-Wachmann, zum Helfer des Holocaust wird. Gleich zu Beginn wirft Wefing eine der für das Münchner Verfahren gegen Demjanjuk zentralen Fragen auf.
Warum muss einem solchen Mann noch einmal der Prozess gemacht werden wegen einer Tat, die bald siebzig Jahre zurückliegt, einer Tat, die er begangen hat (wenn er sie denn begangen hat), als er kaum zwanzig war, ein verhungerter Rotarmist in deutscher Gefangenschaft, ein armer Hund, der nur eines wollte: überleben? Warum wird so einer noch vor Gericht gezerrt?
Grundsätzliche, moralisch-ethische Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Sie sollen den Leser ebenso zweifeln lassen wie den Autoren während seiner Recherchen.
"Das Buch handelt von Zweifeln, von Ambivalenzen, von Ungewissheiten, davon, wie Beweise nach so vielen Jahren, juristische Beweise, immer schwerer zu erbringen sind."
Wefing kommt wie die Mehrheit der Beobachter des Demjanjuk-Verfahrens und anders als die Verteidigung zu dem Schluss, der Angeklagte sei zu Recht angeklagt und auch verurteilt worden.
Das Urteil signalisiert nämlich auch den Tyrannen und Folterknechten unserer Zeit, den Völkermördern und ihren Handlangern, dass die Welt entschlossen ist, nicht zu vergessen, dass sie auch nach Jahrzehnten noch versucht, die Straftäter zur Verantwortung zu ziehen, die Unterlinge genauso wie die Befehlshaber.
Zuvor zeigt Wefing, und das ist eine Stärke dieses Werks, alle Stationen Demjanjuks auf dem lebenslangen Weg bis in den Münchner Gerichtssaal auf: Vom Dienst für die Deutschen über die Migration in die USA und die ersten Ermittlungen gegen ihn dort, die schließlich zur Abschiebung nach Israel führen.
"Es gab immer wieder Punkte, wo ich gedacht habe: Das kann nicht wahr sein. Das größte Entsetzen, die größte Verstörung war für mich, als ich im Detail nachvollzogen habe, wie ihm in den Vereinigten Staaten mitgespielt worden ist. Das ist ein, wie ich finde, echter Justizskandal. Die amerikanischen Behörden haben wissentlich oder versehentlich entlastendes Material in den Prozessen gegen Demjanjuk zurückgehalten."
Der Mann aus der Ukraine wurde nach Israel abgeschoben auf Grundlage von Vorwürfen, von denen die US-Ermittler bereits wussten, dass sie nicht stimmen konnten. Schon damals gab es deutliche Hinweise, Demjanjuk sei Wachmann in Sobibor gewesen und nicht in Treblinka, wie ihm die Israelis vorwarfen. Trotzdem wird er nach Israel gebracht, dort von Treblinka-Überlebenden erkannt und zum Tode verurteilt. Doch neue Beweise machen klar: "Iwan der Schreckliche" in Treblinka war ein Anderer. Demjanjuk kommt frei und kann in seine US-Wahlheimat zurückreisen. Das Kapitel über die fehlerhaften US-Ermittlungen ist das mit Abstand stärkste des Buches. Auch der Beschreibung der Vorgänge in Israel folgt man als Leser interessiert und teils gefesselt. Welche Wendung wird das Schicksal dieses Mannes nun nehmen? Die US-Ermittler lassen nicht locker, und die deutsche Justiz erklärt sich nach jahrelangem Zögern bereit Demjanjuk anzuklagen. Der Prozess in Deutschland ist der eigentliche Mittelpunkt des Wefing-Buches und leider auch der Schwachpunkt. Es wird deutlich, dass der in Hamburg lebende Wefing das in München laufende Verfahren eben nur sporadisch besuchen konnte. So gelingt es ihm nicht, die Atmosphäre des Prozesses zu erfassen. Stattdessen greift er zu nebensächlichen Beschreibungen. Wefings Kapitel über das Urteil nach anderthalb Jahren Prozess beginnt wie folgt:
Der 12. Mai ist ein milder, sonniger Morgen in München. Ein paar Kastanien blühen noch, vor den Cafes sitzen die Menschen in leichten Kleidern, die Sonnenbrillen im Haar. Nur John Demjanjuk wird nicht viel von dieser frühsommerlichen Heiterkeit registriert haben. Für ihn ist dies nicht irgendein Tag im Mai. Es ist der Tag der Entscheidung.
Weniger Theatralik wäre gut gewesen und weniger Redundanz auch. Natürlich sind es die großen Fragen, die den Fall Demjanjuk spannend machen. Fragen nach dem Recht der deutschen Justiz einen untergeordneten Wachmann anzuklagen, während man die deutschen Täter in der Vergangenheit gar nicht oder nur milde bestrafte. Fragen nach der Durchführbarkeit eines solchen Verfahrens so viele Jahre nach den Taten. Es ist auch richtig und nötig, dass Wefing alle Zweifel an den Beweisen gegen Demjanjuk aufführt. Allerdings werden diese Fragen und Zweifel im Buch so oft wiederholt, immer und immer wieder aufgeworfen, dass der Leser darüber müde wird. Wach bliebe er wahrscheinlich, wenn er das Gefühl bekäme, über die ganze Dauer des Prozesses Teil des Verfahrens zu sein, mit im Gerichtssaal zu sitzen. Doch das leistet das auf Momentaufnahmen basierende Buch nicht. So bleibt "Der Fall Demjanjuk" von Heinrich Wefing in der Tat eine teils spannende, manchmal etwas zu knappe Zusammenfassung. Eine gelungene, umfassende Auseinandersetzung mit dem, wie es im Untertitel heißt, "letzen großen NS-Prozess" ist das Buch aber leider nicht. Der Autor hat sich bedauerlicherweise zu viel vorgenommen.
Heinrich Wefing: "Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess",
Verlag C.H. Beck
240 Seiten, Euro 19,95
ISBN: 978-3-406-60583-3