Tozzis Schreiben ist an Flauberts Impassibilité geschult. Er beklagt nicht und klagt nicht an, wenn etwas zerbrochen ist, sondern weist mit scharfem Blick auf die Scherben: Seht euch das an! Ein Gefühl für die Zerbrechlichkeit der menschlichen Dinge soll sich beim Leser einstellen. Denn auch hier in der bäuerlichen Provinz zwischen Siena und Florenz gibt es die großen Seelendramen wie in Prousts Welt, wie überall auf der Welt, das fiebrige Illusionstheater besitzergreifender Leidenschaft, der vermessenen und zwangsläufig enttäuschten Liebe.
Beginnen wir - wie der Roman - mit Domenico Rosi, dem Padrone. Aus kleinen Verhältnissen hat er sich empor gearbeitet zum stolzen Besitzer der Trattoria "Il Pesce Azzurro" und eines ansehnlichen Gehöfts hinter den Toren Sienas. Seine Frau hat ihm sieben Kinder geboren, die nacheinander starben und das achte, der einzige Sohn, der ihm geblieben ist, Pietro entpuppt sich als Taugenichts, der seine Nase nur in Bücher steckt und in Haus und Hof zu nichts zu gebrauchen ist. Der Vater sieht sich um die Früchte seiner Arbeit betrogen.
Es war doch nicht möglich, dass ein Sohn sich so verhielt! Am liebsten hätte er Pietro mit den Händen gepackt und zerbrochen wie einen Zweig - völlig unbrauchbar fürs Geschäft - wie irgendein Trottel sonst! Diese Bücher! Am liebsten hätte er sie mit dem Absatz zertreten. Wer ein Buch schrieb, war ein Betrüger, dem er nicht auf Kredit zu essen gegeben hätte.
So wächst Pietro also heran unter den Verwünschungen und der geballten Faust dieses archaischen Prototyps eines Padre Padrone, ohne Liebe und Verständnis - die Mutter stirbt bald - ein buchstäblich verlorener Sohn, blass, mager, mürrisch und melancholisch, der oft zittert und nicht weiß, wohin mit sich und was aus ihm werden soll. Er weiß nur, dass er anders ist als die anderen und ihm die Wirklichkeit bodenlos fremd und feindselig erscheint. Er besucht eine Malschule, doch das Talent reicht kaum, auch nicht zu einem erfolgreichen Studium am Technischen Institut in Florenz, wo er halbe Tage auf dem Bett liegt "mit geschlossenen Augen". Er wird Sozialist, träumt von Verhaftung, Martyrien und Revolution. Und dann sieht er ein Foto von Ghisola, der Nichte seiner Amme und Spielgefährtin seiner Kindheit auf dem väterlichen Gehöft. In einem "coup de foudre" verliebt er sich in ihre olivenschwarzen Augen und kann es kaum erwarten, sie wieder zu sehen.
Denn in Ghisola setzte er alles Vertrauen seines Lebens. Er blieb ganze Tage allein in der Wohnung und starrte auf das schmale Viereck aus Blau zwischen den Dächern. Dieses dumme, so ferne Blau machte ihn beinah wütend. Die Schwalben flogen vorbei, als ob man sie geschleudert hätte. Da fühlte er die Leere dieser Einsamkeit in einem der ältesten Palazzi von Siena, ganz unbewohnt, mit dem abgeschnittenen Turm über dem düsteren Bogen der Via dei Rossi; inmitten der dunklen und verlassenen Häuser, eines eng ans andere gedrängt; mit gemeißelten Wappen, die keiner mehr kannte, von erloschenen Familien; Häuser mit riesigen Gewölben, die Spinnweben groß wie Fetzen, und auf den stets geschlossenen Fenstern und vorspringenden Gesimsen der Staub.
Das dumme, ferne Blau des Himmels, die Wappen erloschener Geschlechter und an Piranesis Kerker erinnernde Gewölbe - Tozzi übersetzt die senilità, die melancholische Gedrücktheit seines einsamen, familiär entwurzelten Protagonisten in beeindruckende Bilder, die in ihrer oft halluzinatorisch flackernden Überbelichtung an expressionistische Stummfilme erinnern. Wie das schwankende Innere der Figuren gerät die Silhouette Sienas in Bewegung, türmen sich Gassen und Häuser wie durch Erdstöße gegeneinander auf und drohen ineinander zu stürzen.
Kann die Liebe zu Ghisola ihn erlösen? Das hofft Pietro, doch daran zweifelt er mehr und mehr in einem Wechselbad der Gefühle. Der tumbe Träumer sieht nicht, was der Leser längst weiß. Auch Ghisola ist eine Außenseiterin, eine aus dem Stallgeruch ihres Milieus Entflohene, die den sozialen Aufstieg über die Horizontale genommen hat und diesem Gewerbe mit seiner Hilfe wieder zu entkommen hofft. Und so gibt es für ihn am Ende ein böses Erwachen. Die ständisch gegliederte alte Ordnung ist unwiederbringlich dahin, die nachfolgende Generation findet nirgends Halt und Orientierung. Und so reihen sich diese beiden Unbehausten ein in die lange Liste prekärer Figuren, wie man sie aus den Romanen Italo Svevos, bei Ibsen und Cechov findet, dann später in den Großstadtromanen der Zwanzigerjahre und bis heute in allen Literaturgegenden der Welt.
Der Roman erschien im selben Jahr wie Prousts zweiter Band seiner "Recherche - im Schatten junger Mädchenblüte", 1919, und man kann sagen, dieses Sittenbild aus der toskanischen Provinz bietet gleichsam das komplementäre Gegenprogramm zu Proust. Dort die mondäne Welt der Badeorte und Pariser Salons mit ihren rauschenden Soiréen, den Habitués mit Chrysantheme im Knopfloch und ihren schöngeistigen, mit Sarkasmen gewürzten Small Talks, die wie Parfumwolken zerstieben.
Bei Tozzi: Viehhändler, Tagelöhner und Bauern mit stoppeligen Gesichtern, alte Frauen, die bei Tagesanbruch zur Kirche eilen, um der Madonna Blumen zu bringen. Streit und Zoten beim Strohwiegen an der Tenne. Statt großer sentimentaler Abgesänge - stille eindringliche Epitaphe etwa auf einen alten kastrierten Hund oder einen armen Fuhrmann, der in der Trattoria sein Gnadenbrot, die Reste vom Vortag bekommt.
Ein luzider Roman von stiller Abgründigkeit, eine Stimme, ein Klang, der im Ohr bleibt wie das Glockenläuten, das sich in den Hügeln Sienas verliert.
Als die Glocken schwiegen, hörte man noch eine in der Ferne, verloren zwischen den Gehölzen, die allein weitersang. Ihr Klang vermischte sich mit dem Geläut der Herden.
Federigo Tozzi: "Mit geschlossenen Augen". Roman, aus dem Italienischen von Ragni Maria Geschwend. Verlag Klaus Wagenbach 2011
Beginnen wir - wie der Roman - mit Domenico Rosi, dem Padrone. Aus kleinen Verhältnissen hat er sich empor gearbeitet zum stolzen Besitzer der Trattoria "Il Pesce Azzurro" und eines ansehnlichen Gehöfts hinter den Toren Sienas. Seine Frau hat ihm sieben Kinder geboren, die nacheinander starben und das achte, der einzige Sohn, der ihm geblieben ist, Pietro entpuppt sich als Taugenichts, der seine Nase nur in Bücher steckt und in Haus und Hof zu nichts zu gebrauchen ist. Der Vater sieht sich um die Früchte seiner Arbeit betrogen.
Es war doch nicht möglich, dass ein Sohn sich so verhielt! Am liebsten hätte er Pietro mit den Händen gepackt und zerbrochen wie einen Zweig - völlig unbrauchbar fürs Geschäft - wie irgendein Trottel sonst! Diese Bücher! Am liebsten hätte er sie mit dem Absatz zertreten. Wer ein Buch schrieb, war ein Betrüger, dem er nicht auf Kredit zu essen gegeben hätte.
So wächst Pietro also heran unter den Verwünschungen und der geballten Faust dieses archaischen Prototyps eines Padre Padrone, ohne Liebe und Verständnis - die Mutter stirbt bald - ein buchstäblich verlorener Sohn, blass, mager, mürrisch und melancholisch, der oft zittert und nicht weiß, wohin mit sich und was aus ihm werden soll. Er weiß nur, dass er anders ist als die anderen und ihm die Wirklichkeit bodenlos fremd und feindselig erscheint. Er besucht eine Malschule, doch das Talent reicht kaum, auch nicht zu einem erfolgreichen Studium am Technischen Institut in Florenz, wo er halbe Tage auf dem Bett liegt "mit geschlossenen Augen". Er wird Sozialist, träumt von Verhaftung, Martyrien und Revolution. Und dann sieht er ein Foto von Ghisola, der Nichte seiner Amme und Spielgefährtin seiner Kindheit auf dem väterlichen Gehöft. In einem "coup de foudre" verliebt er sich in ihre olivenschwarzen Augen und kann es kaum erwarten, sie wieder zu sehen.
Denn in Ghisola setzte er alles Vertrauen seines Lebens. Er blieb ganze Tage allein in der Wohnung und starrte auf das schmale Viereck aus Blau zwischen den Dächern. Dieses dumme, so ferne Blau machte ihn beinah wütend. Die Schwalben flogen vorbei, als ob man sie geschleudert hätte. Da fühlte er die Leere dieser Einsamkeit in einem der ältesten Palazzi von Siena, ganz unbewohnt, mit dem abgeschnittenen Turm über dem düsteren Bogen der Via dei Rossi; inmitten der dunklen und verlassenen Häuser, eines eng ans andere gedrängt; mit gemeißelten Wappen, die keiner mehr kannte, von erloschenen Familien; Häuser mit riesigen Gewölben, die Spinnweben groß wie Fetzen, und auf den stets geschlossenen Fenstern und vorspringenden Gesimsen der Staub.
Das dumme, ferne Blau des Himmels, die Wappen erloschener Geschlechter und an Piranesis Kerker erinnernde Gewölbe - Tozzi übersetzt die senilità, die melancholische Gedrücktheit seines einsamen, familiär entwurzelten Protagonisten in beeindruckende Bilder, die in ihrer oft halluzinatorisch flackernden Überbelichtung an expressionistische Stummfilme erinnern. Wie das schwankende Innere der Figuren gerät die Silhouette Sienas in Bewegung, türmen sich Gassen und Häuser wie durch Erdstöße gegeneinander auf und drohen ineinander zu stürzen.
Kann die Liebe zu Ghisola ihn erlösen? Das hofft Pietro, doch daran zweifelt er mehr und mehr in einem Wechselbad der Gefühle. Der tumbe Träumer sieht nicht, was der Leser längst weiß. Auch Ghisola ist eine Außenseiterin, eine aus dem Stallgeruch ihres Milieus Entflohene, die den sozialen Aufstieg über die Horizontale genommen hat und diesem Gewerbe mit seiner Hilfe wieder zu entkommen hofft. Und so gibt es für ihn am Ende ein böses Erwachen. Die ständisch gegliederte alte Ordnung ist unwiederbringlich dahin, die nachfolgende Generation findet nirgends Halt und Orientierung. Und so reihen sich diese beiden Unbehausten ein in die lange Liste prekärer Figuren, wie man sie aus den Romanen Italo Svevos, bei Ibsen und Cechov findet, dann später in den Großstadtromanen der Zwanzigerjahre und bis heute in allen Literaturgegenden der Welt.
Der Roman erschien im selben Jahr wie Prousts zweiter Band seiner "Recherche - im Schatten junger Mädchenblüte", 1919, und man kann sagen, dieses Sittenbild aus der toskanischen Provinz bietet gleichsam das komplementäre Gegenprogramm zu Proust. Dort die mondäne Welt der Badeorte und Pariser Salons mit ihren rauschenden Soiréen, den Habitués mit Chrysantheme im Knopfloch und ihren schöngeistigen, mit Sarkasmen gewürzten Small Talks, die wie Parfumwolken zerstieben.
Bei Tozzi: Viehhändler, Tagelöhner und Bauern mit stoppeligen Gesichtern, alte Frauen, die bei Tagesanbruch zur Kirche eilen, um der Madonna Blumen zu bringen. Streit und Zoten beim Strohwiegen an der Tenne. Statt großer sentimentaler Abgesänge - stille eindringliche Epitaphe etwa auf einen alten kastrierten Hund oder einen armen Fuhrmann, der in der Trattoria sein Gnadenbrot, die Reste vom Vortag bekommt.
Ein luzider Roman von stiller Abgründigkeit, eine Stimme, ein Klang, der im Ohr bleibt wie das Glockenläuten, das sich in den Hügeln Sienas verliert.
Als die Glocken schwiegen, hörte man noch eine in der Ferne, verloren zwischen den Gehölzen, die allein weitersang. Ihr Klang vermischte sich mit dem Geläut der Herden.
Federigo Tozzi: "Mit geschlossenen Augen". Roman, aus dem Italienischen von Ragni Maria Geschwend. Verlag Klaus Wagenbach 2011