Die Vorschusslorbeeren für dieses Buch sind etwa so üppig wie sein Personenverzeichnis - und letzteres umfasst nicht weniger als dreieinhalb Seiten. Wassili Grossmans "Leben und Schicksal" ist ohne Frage ein monumentales Buch, schon wegen seiner 1050 Seiten Umfang. Das Manuskript wurde 1961 in der Sowjetunion beschlagnahmt. Denn Jahre vor Solschenizyn sprach Grossman in ihm vom Gulag und dem sowjetischen Antisemitismus. Und er nannte in "Leben und Schicksal" den Judenmord der Nazis, der in seiner Heimat so nicht genannt werden durfte, nicht nur beim Namen, er verglich ihn auch mit dem Kulakenmord. Das sind nicht gering zu achtende Verdienste eines Buches. Aber ist "Leben und Schicksal" deshalb auch Weltliteratur? Kann es sich überhaupt um Weltliteratur handeln, wenn Grossman so deutlich an Lev Tolstojs "Krieg und Frieden" Maß nimmt - allerdings fast 100 Jahre später?
Wassili Grossman erzählt von Ereignissen zur Zeit der Schlacht um Stalingrad. Er springt in vielen kurzen Szenen hin und her zwischen dem Alltag in der Evakuierung und in Moskau, zwischen sowjetischen Häftlingen in deutschen und in sowjetischen Lagern, zwischen Stalin im Kreml-Arbeitszimmer und Hitler in der Wolfsschanze, zwischen Juden in der Gaskammer und verhafteten Parteikommissaren in der Lubjanka. Zudem äußert sich hin und wieder ein allwissender Erzähler über die menschliche Natur, die sich gegen den Totalitarismus, gegen Hitler wie Stalin, auflehne. Für Grossman ähnelt der Nationalsozialismus dem Kommunismus.
Das Geschehen an der Wolga schildert Grossman wie ein Vexierbild: Der Kampf um Stalingrad gilt der Freiheit, doch als der Sieg errungen ist, wird er bezahlt mit der Reinwaschung Stalins von seinen Verbrechen und verstärkter Repression. Anfangs ist von Rotarmisten die Rede, die in aussichtsloser Stellung das Haus "sechs Strich eins" gegen die deutsche Übermacht halten. Weil sie unter Lebensgefahr Hierarchie und Grußregeln abgeschafft haben, gelten sie den Parteikommissaren nicht als Helden, sondern als gefährliche Anarchisten. Unmittelbar vor dem Sieg in Stalingrad wird das Haus "sechs Strich eins" von den Deutschen überrollt, und danach rückt im Roman das Schicksal des jüdischen Atomphysikers Strum in den Mittelpunkt. Antisemitische Hetze droht seine Karriere zu beenden, bis ihn ein Stalin-Machtwort rehabilitiert. Am Ende kollaboriert Strum mit Stalin: Er unterzeichnet eine öffentliche antisemitische Denunziation.
In politischer Hinsicht also lässt es Grossman, der erfolglos gegen die Beschlagnahmung seines Manuskriptes protestierte und 1964 verbittert starb, an Mut und Deutlichkeit nicht fehlen. Seine literarischen Fähigkeiten können allerdings nicht mithalten: Es gibt anrührende Szenen im Roman, aber dessen Figuren sind Pappkameraden. Worüber sprechen die Kommissare der Partei und die Generäle an der Front? Über die richtige Politik und die Frauen. Worüber sprechen die sowjetischen Häftlinge im KZ und im Gulag? Über die richtige Politik, kaum über Frauen. Worüber denkt der Physiker Strum nach? Über die Frauen und die richtige Politik. Eine willkommene Abwechslung bietet da Stalin. Er denkt im Kreml mal nicht an Frauen, sondern an Hitler. Und woran denkt Hitler? Siehe da, an Stalin! Außerdem beschleicht den Führer nach Stalingrad ein Schmerz über die Krematorien der Konzentrationslager.
Den Leser beschleicht jedoch der Gedanke, es sei nicht allzu traurig, dass beinahe alle Figuren nur selten dem Würgegriff der Politik entkommen - lauert hinter ihr doch gleich das menschelnde Sentiment. So verspürt nicht nur Hitler auch eines seiner Opfer Schmerzen: In der Gaskammer, während Sofja Ossipowna das Zyklon B einatmet, zieht sich ihr Herz zusammen und - Zitat - "schmerzte und bedauerte alle, Lebende und Tote". Im Schmerz sind Täter wie Opfer nur Mensch.
Wassili Grossmans Epos stammt aus der Zeit von Boris Pasternaks "Dr. Schiwago". Es ringt aufrichtig mit den Fragen seiner Zeit und verzichtet über weite Strecken auf das damals in sowjetischen Romanen herrschende Pathos. Aber Grossmans Antworten fallen doch sehr schlicht aus. Und seine mutige Auflehnung gegen die früher von ihm gepriesene stalinistische Ideologie bindet seinen Roman an eben diese: "Leben und Schicksal" ist ein Zeitroman, ein Produkt des Tauwetters nach Stalins Tod, und eng mit ihm verbunden. Schon 1984, als das Buch auf Deutsch erschien, nachdem es vier Jahre zuvor endlich außer Landes geschmuggelt worden war, kam es zu spät. Mittlerweile ist die Staubschicht auf ihm nur noch dicker geworden.
Wassili Grossman: Leben und Schicksal
Roman, Aus dem Russischen von Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfmann, Elisabeth Markstein und Annelore Nitschke. Mit je einem Nachwort versehen von Jochen Hellbeck und Wladimir Woinowitsch.
Claassen, Berlin 2007
1088 Seiten, 24,90 Euro
Wassili Grossman erzählt von Ereignissen zur Zeit der Schlacht um Stalingrad. Er springt in vielen kurzen Szenen hin und her zwischen dem Alltag in der Evakuierung und in Moskau, zwischen sowjetischen Häftlingen in deutschen und in sowjetischen Lagern, zwischen Stalin im Kreml-Arbeitszimmer und Hitler in der Wolfsschanze, zwischen Juden in der Gaskammer und verhafteten Parteikommissaren in der Lubjanka. Zudem äußert sich hin und wieder ein allwissender Erzähler über die menschliche Natur, die sich gegen den Totalitarismus, gegen Hitler wie Stalin, auflehne. Für Grossman ähnelt der Nationalsozialismus dem Kommunismus.
Das Geschehen an der Wolga schildert Grossman wie ein Vexierbild: Der Kampf um Stalingrad gilt der Freiheit, doch als der Sieg errungen ist, wird er bezahlt mit der Reinwaschung Stalins von seinen Verbrechen und verstärkter Repression. Anfangs ist von Rotarmisten die Rede, die in aussichtsloser Stellung das Haus "sechs Strich eins" gegen die deutsche Übermacht halten. Weil sie unter Lebensgefahr Hierarchie und Grußregeln abgeschafft haben, gelten sie den Parteikommissaren nicht als Helden, sondern als gefährliche Anarchisten. Unmittelbar vor dem Sieg in Stalingrad wird das Haus "sechs Strich eins" von den Deutschen überrollt, und danach rückt im Roman das Schicksal des jüdischen Atomphysikers Strum in den Mittelpunkt. Antisemitische Hetze droht seine Karriere zu beenden, bis ihn ein Stalin-Machtwort rehabilitiert. Am Ende kollaboriert Strum mit Stalin: Er unterzeichnet eine öffentliche antisemitische Denunziation.
In politischer Hinsicht also lässt es Grossman, der erfolglos gegen die Beschlagnahmung seines Manuskriptes protestierte und 1964 verbittert starb, an Mut und Deutlichkeit nicht fehlen. Seine literarischen Fähigkeiten können allerdings nicht mithalten: Es gibt anrührende Szenen im Roman, aber dessen Figuren sind Pappkameraden. Worüber sprechen die Kommissare der Partei und die Generäle an der Front? Über die richtige Politik und die Frauen. Worüber sprechen die sowjetischen Häftlinge im KZ und im Gulag? Über die richtige Politik, kaum über Frauen. Worüber denkt der Physiker Strum nach? Über die Frauen und die richtige Politik. Eine willkommene Abwechslung bietet da Stalin. Er denkt im Kreml mal nicht an Frauen, sondern an Hitler. Und woran denkt Hitler? Siehe da, an Stalin! Außerdem beschleicht den Führer nach Stalingrad ein Schmerz über die Krematorien der Konzentrationslager.
Den Leser beschleicht jedoch der Gedanke, es sei nicht allzu traurig, dass beinahe alle Figuren nur selten dem Würgegriff der Politik entkommen - lauert hinter ihr doch gleich das menschelnde Sentiment. So verspürt nicht nur Hitler auch eines seiner Opfer Schmerzen: In der Gaskammer, während Sofja Ossipowna das Zyklon B einatmet, zieht sich ihr Herz zusammen und - Zitat - "schmerzte und bedauerte alle, Lebende und Tote". Im Schmerz sind Täter wie Opfer nur Mensch.
Wassili Grossmans Epos stammt aus der Zeit von Boris Pasternaks "Dr. Schiwago". Es ringt aufrichtig mit den Fragen seiner Zeit und verzichtet über weite Strecken auf das damals in sowjetischen Romanen herrschende Pathos. Aber Grossmans Antworten fallen doch sehr schlicht aus. Und seine mutige Auflehnung gegen die früher von ihm gepriesene stalinistische Ideologie bindet seinen Roman an eben diese: "Leben und Schicksal" ist ein Zeitroman, ein Produkt des Tauwetters nach Stalins Tod, und eng mit ihm verbunden. Schon 1984, als das Buch auf Deutsch erschien, nachdem es vier Jahre zuvor endlich außer Landes geschmuggelt worden war, kam es zu spät. Mittlerweile ist die Staubschicht auf ihm nur noch dicker geworden.
Wassili Grossman: Leben und Schicksal
Roman, Aus dem Russischen von Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfmann, Elisabeth Markstein und Annelore Nitschke. Mit je einem Nachwort versehen von Jochen Hellbeck und Wladimir Woinowitsch.
Claassen, Berlin 2007
1088 Seiten, 24,90 Euro