Die Hinrichtung war bestialisch. Der Delinquent, ein britischer Generalmajor, wurde gehenkt, geschleift und gevierteilt, notierte ein Augenzeuge, der Marinebeamte Samuel Pepys, am 13. Oktober 1660 in seinem Tagebuch. Pepys war extra zur öffentlichen Vollstreckung in den damaligen Londoner Vorort Charing Cross gefahren. Dort erlebte er, wie ein Mensch systematisch zu Tode gefoltert wurde.
Er wurde sogleich heruntergeschnitten, und sein Kopf und Herz wurden den Menschen gezeigt, woraufhin es laute Freudenrufe gab.".
Folgt man dem kanadischen Psychologen Steven Pinker, waren die öffentlich erlittenen Qualen unvorstellbar grausam. Die Episode ist nur eines von vielen Beispielen aus einem riesigen Panoptikum der menschlichen Bosheiten. So jedenfalls könnte man große Teile von Pinkers voluminöser Studie über die Gewalt überschreiben. Das Buch, eine histoire totale über Kriege, Massenverbrechen, Terrorismus und die Gewaltbereitschaft des Menschen in 10.000 Jahren, zwingt seine Leser immer wieder zum Innehalten. Etwa dann, wenn einzelne Folterpraktiken, der Tod am Kreuz oder Hexenverbrennungen detailliert beschrieben werden. Dass uns heute allein schon der Gedanke an solche brutalen Szenen Unbehagen bereitet, mag mit dem großen Wandel zusammenhängen, den Steven Pinker zum eigentlichen Thema seines Buches macht. Gestützt auf viele historische, psychologische und neurowissenschaftliche Untersuchungen, verzeichnet er eine deutliche Abnahme der Gewalt im Lauf der Jahrtausende. Die Welt ist friedlicher geworden, betont er:
Bei allem Kummer in unserem Leben, bei allen Schwierigkeiten, die auf der Welt noch bleiben, ist der Rückgang der Gewalt eine Leistung, die wir würdigen können, und ein Impuls, die Kräfte von Zivilisation und Aufklärung, durch die sie möglich wurde, hoch zu schätzen.
Steven Pinker beruft sich auf mehrere bedeutende historische Prozesse. Wichtig sind die Entstehung von Staaten mit einem Gewaltmonopol und der damit einhergehende, von dem Soziologen Norbert Elias beschriebene Prozess der Zivilisation, die schrittweise Selbstdisziplinierung des Menschen in der Neuzeit. Dazu kommen die Aufklärung und das Engagement vieler bedeutender Denker gegen Folter, Todesstrafe und andere Formen der Gewalt, für Steven Pinker eine humanitäre Revolution. Schließlich die Entwicklungen in der Zeit des langen Friedens seit 1945, etwa die Entstehung der Vereinten Nationen, und die "Revolution der Rechte", also neue Gesetzgebungen wie etwa die Anti-Diskriminierungs-Gesetze. Begleitet - oder auch gespiegelt - werden diese Entwicklungen von einem signifikanten statistischen Trend. Verglichen mit einigen gewalttätigen Konflikten in vormodernen und nichtstaatlichen Gesellschaften, so die These des Psychologen, sind - prozentual gesehen - im Ersten und Zweiten Weltkrieg weniger Menschen ermordet worden.
Wie steht es nun, wenn wir die Todesfälle durch Völkermord, ethnische oder politische Säuberungsaktionen und andere von Menschen verursachte Katastrophen hinzurechnen? Nach einer Schätzung des Gewaltforschers Matthew White ( ... ) kann man rund 180 Millionen Todesfälle auf alle diese von Menschen ausgehenden Ursachen zurückführen. Damit sind wir für das 20. Jahrhundert immer noch bei einem Anteil von nur drei Prozent der Todesfälle.
Steven Pinker attestiert denen, die das 20. Jahrhundert als das grausamste in der Geschichte der Menschheit bezeichnen, eine historische Kurzsichtigkeit. Seine Belege für kriegerische Gewaltakte in früheren Jahrhunderten mögen dieses Urteil beim Blick auf das Zeitalter der Weltkriege und Völkermorde unterstreichen. Dennoch stellt sich die Frage, ob Gewaltexzesse wie die Shoah oder die Ermordung der ukrainischen Bauern unter Stalin vor dem Hintergrund eines weltweiten Trends überhaupt betrachtet werden sollten oder nicht doch besser mit Blick auf die jeweilige nationale Gesellschaft. Überhaupt scheut sich Steven Pinker davor, die Verbrechen unter Hitler und Stalin ausführlich in den Blick zu nehmen - und das ist der Vorwurf an ein spannendes und perspektivenreiches Buch. Die Massengewalt in den totalitären Diktaturen wird lediglich unter dem Aspekt der Ideologie betrachtet und insgesamt viel zu wenig in ihrer Komplexität erörtert. Für das Verständnis der Verbrechen des 20. Jahrhunderts liefert Christian Gerlachs Studie über "extrem gewalttätige Gesellschaften" deutlich fundiertere Erkenntnisse. Er schreibt:
Massengewalt - wie Hungersnot, Inflation und Krieg - ist ein soziales Ereignis. Sie alle kommen durch die Teilnahme vieler zustande. Sie sind Formen einer Gesellschaftskrise. Sie sind Ereignisse mit Gewinnern und Verlierern und säen folglich Zwietracht. Sie alle sind mit Panik verbunden. Für die Betroffenen werden sie traumatisch.
Der in Bern lehrende Zeithistoriker entwickelt eine andere Perspektive als Steven Pinker. Er konzentriert sich auf Entstehungsbedingungen und Kontexte von Massenmorden im 20. Jahrhundert - sucht also nach den Ausnahmezuständen in einer ohnehin konfliktreichen Epoche. Am Beispiel mehrerer historischer Fallstudien erörtert Gerlach, inwieweit Massengewalt als multikausales Phänomen betrachtet werden muss, so etwa mit Blick auf den Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg oder auf die Massaker 1965 in Indonesien, für Gerlach eine der blutigsten antikommunistischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts. In dem ohnehin krisengeplagten Inselstaat wurde, nach einem fehlgeschlagenen Militärputsch, binnen kürzester Zeit ein brutaler Gewaltexzess gegen die Anhänger der kommunistischen Partei entfacht. Mindestens 500.000 Menschen kamen dabei ums Leben. Ein sozial heterogenes Netzwerk der Verfolgung entstand.
Weder staatliche, vom Militär kontrollierte und manipulierte Gewalt, noch der Volkszorn oder die Organisation durch politische Parteiapparate und religiöse Gruppen allein können die Gewalt des Mordens von 1965/66 erklären; entscheidend war die Kombination all dieser drei Faktoren. Im Oktober 1965 entstand eine Koalition mit auseinandergehenden Interessen, die sich in ihrem starken Willen überschnitt, die ( ... ) Kommunisten zu ermorden - aus Gründen, die je nach Region, Verfolgergruppe und politischem wie kulturellem Kontext verschieden waren.
Mit seinen auf zahlreichem Quellenmaterial basierenden Studien zielt Christian Gerlach auf eine Erweiterung des Völkermord- oder Genozidbegriffs. Nicht allein staatliche Akteure sind verantwortlich für Massengewalt. Vielmehr können diese auf tatkräftige Unterstützung wie auch stillschweigende Tolerierung durch breitere Bevölkerungsgruppen zählen, zumal in innen- wie außenpolitisch krisenhaften Epochen. Für die historische Gewalt-Forschung ist diese Studie ein wichtiger Diskussionsbeitrag, gerade mit Blick auf die Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Steven Pinkers große Geschichte der Gewalt ist in diesem Fall zu allgemein und zu ungenau - und hilft damit nicht weiter. Dennoch eröffnet sein Buch etliche spannende Perspektiven für die Auseinandersetzung mit der Natur des Menschen und den unterschiedlichsten Konjunkturen der Gewalt.
Steven Pinker
Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. S.Fischer Verlag, 1212 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3-100-61604-3
Christian Gerlach
Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20.Jahrhundert. DVA, 576 Seiten, 39,99 Euro
ISBN: 978-3-421-04321-4
Er wurde sogleich heruntergeschnitten, und sein Kopf und Herz wurden den Menschen gezeigt, woraufhin es laute Freudenrufe gab.".
Folgt man dem kanadischen Psychologen Steven Pinker, waren die öffentlich erlittenen Qualen unvorstellbar grausam. Die Episode ist nur eines von vielen Beispielen aus einem riesigen Panoptikum der menschlichen Bosheiten. So jedenfalls könnte man große Teile von Pinkers voluminöser Studie über die Gewalt überschreiben. Das Buch, eine histoire totale über Kriege, Massenverbrechen, Terrorismus und die Gewaltbereitschaft des Menschen in 10.000 Jahren, zwingt seine Leser immer wieder zum Innehalten. Etwa dann, wenn einzelne Folterpraktiken, der Tod am Kreuz oder Hexenverbrennungen detailliert beschrieben werden. Dass uns heute allein schon der Gedanke an solche brutalen Szenen Unbehagen bereitet, mag mit dem großen Wandel zusammenhängen, den Steven Pinker zum eigentlichen Thema seines Buches macht. Gestützt auf viele historische, psychologische und neurowissenschaftliche Untersuchungen, verzeichnet er eine deutliche Abnahme der Gewalt im Lauf der Jahrtausende. Die Welt ist friedlicher geworden, betont er:
Bei allem Kummer in unserem Leben, bei allen Schwierigkeiten, die auf der Welt noch bleiben, ist der Rückgang der Gewalt eine Leistung, die wir würdigen können, und ein Impuls, die Kräfte von Zivilisation und Aufklärung, durch die sie möglich wurde, hoch zu schätzen.
Steven Pinker beruft sich auf mehrere bedeutende historische Prozesse. Wichtig sind die Entstehung von Staaten mit einem Gewaltmonopol und der damit einhergehende, von dem Soziologen Norbert Elias beschriebene Prozess der Zivilisation, die schrittweise Selbstdisziplinierung des Menschen in der Neuzeit. Dazu kommen die Aufklärung und das Engagement vieler bedeutender Denker gegen Folter, Todesstrafe und andere Formen der Gewalt, für Steven Pinker eine humanitäre Revolution. Schließlich die Entwicklungen in der Zeit des langen Friedens seit 1945, etwa die Entstehung der Vereinten Nationen, und die "Revolution der Rechte", also neue Gesetzgebungen wie etwa die Anti-Diskriminierungs-Gesetze. Begleitet - oder auch gespiegelt - werden diese Entwicklungen von einem signifikanten statistischen Trend. Verglichen mit einigen gewalttätigen Konflikten in vormodernen und nichtstaatlichen Gesellschaften, so die These des Psychologen, sind - prozentual gesehen - im Ersten und Zweiten Weltkrieg weniger Menschen ermordet worden.
Wie steht es nun, wenn wir die Todesfälle durch Völkermord, ethnische oder politische Säuberungsaktionen und andere von Menschen verursachte Katastrophen hinzurechnen? Nach einer Schätzung des Gewaltforschers Matthew White ( ... ) kann man rund 180 Millionen Todesfälle auf alle diese von Menschen ausgehenden Ursachen zurückführen. Damit sind wir für das 20. Jahrhundert immer noch bei einem Anteil von nur drei Prozent der Todesfälle.
Steven Pinker attestiert denen, die das 20. Jahrhundert als das grausamste in der Geschichte der Menschheit bezeichnen, eine historische Kurzsichtigkeit. Seine Belege für kriegerische Gewaltakte in früheren Jahrhunderten mögen dieses Urteil beim Blick auf das Zeitalter der Weltkriege und Völkermorde unterstreichen. Dennoch stellt sich die Frage, ob Gewaltexzesse wie die Shoah oder die Ermordung der ukrainischen Bauern unter Stalin vor dem Hintergrund eines weltweiten Trends überhaupt betrachtet werden sollten oder nicht doch besser mit Blick auf die jeweilige nationale Gesellschaft. Überhaupt scheut sich Steven Pinker davor, die Verbrechen unter Hitler und Stalin ausführlich in den Blick zu nehmen - und das ist der Vorwurf an ein spannendes und perspektivenreiches Buch. Die Massengewalt in den totalitären Diktaturen wird lediglich unter dem Aspekt der Ideologie betrachtet und insgesamt viel zu wenig in ihrer Komplexität erörtert. Für das Verständnis der Verbrechen des 20. Jahrhunderts liefert Christian Gerlachs Studie über "extrem gewalttätige Gesellschaften" deutlich fundiertere Erkenntnisse. Er schreibt:
Massengewalt - wie Hungersnot, Inflation und Krieg - ist ein soziales Ereignis. Sie alle kommen durch die Teilnahme vieler zustande. Sie sind Formen einer Gesellschaftskrise. Sie sind Ereignisse mit Gewinnern und Verlierern und säen folglich Zwietracht. Sie alle sind mit Panik verbunden. Für die Betroffenen werden sie traumatisch.
Der in Bern lehrende Zeithistoriker entwickelt eine andere Perspektive als Steven Pinker. Er konzentriert sich auf Entstehungsbedingungen und Kontexte von Massenmorden im 20. Jahrhundert - sucht also nach den Ausnahmezuständen in einer ohnehin konfliktreichen Epoche. Am Beispiel mehrerer historischer Fallstudien erörtert Gerlach, inwieweit Massengewalt als multikausales Phänomen betrachtet werden muss, so etwa mit Blick auf den Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg oder auf die Massaker 1965 in Indonesien, für Gerlach eine der blutigsten antikommunistischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts. In dem ohnehin krisengeplagten Inselstaat wurde, nach einem fehlgeschlagenen Militärputsch, binnen kürzester Zeit ein brutaler Gewaltexzess gegen die Anhänger der kommunistischen Partei entfacht. Mindestens 500.000 Menschen kamen dabei ums Leben. Ein sozial heterogenes Netzwerk der Verfolgung entstand.
Weder staatliche, vom Militär kontrollierte und manipulierte Gewalt, noch der Volkszorn oder die Organisation durch politische Parteiapparate und religiöse Gruppen allein können die Gewalt des Mordens von 1965/66 erklären; entscheidend war die Kombination all dieser drei Faktoren. Im Oktober 1965 entstand eine Koalition mit auseinandergehenden Interessen, die sich in ihrem starken Willen überschnitt, die ( ... ) Kommunisten zu ermorden - aus Gründen, die je nach Region, Verfolgergruppe und politischem wie kulturellem Kontext verschieden waren.
Mit seinen auf zahlreichem Quellenmaterial basierenden Studien zielt Christian Gerlach auf eine Erweiterung des Völkermord- oder Genozidbegriffs. Nicht allein staatliche Akteure sind verantwortlich für Massengewalt. Vielmehr können diese auf tatkräftige Unterstützung wie auch stillschweigende Tolerierung durch breitere Bevölkerungsgruppen zählen, zumal in innen- wie außenpolitisch krisenhaften Epochen. Für die historische Gewalt-Forschung ist diese Studie ein wichtiger Diskussionsbeitrag, gerade mit Blick auf die Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Steven Pinkers große Geschichte der Gewalt ist in diesem Fall zu allgemein und zu ungenau - und hilft damit nicht weiter. Dennoch eröffnet sein Buch etliche spannende Perspektiven für die Auseinandersetzung mit der Natur des Menschen und den unterschiedlichsten Konjunkturen der Gewalt.
Steven Pinker
Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. S.Fischer Verlag, 1212 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3-100-61604-3
Christian Gerlach
Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20.Jahrhundert. DVA, 576 Seiten, 39,99 Euro
ISBN: 978-3-421-04321-4