Friedbert Meurer: Frédéric Chopin, der vielleicht größte Klaviervirtuose aller Zeiten, er wurde heute vor 200 Jahren geboren, am 1. März 1810 in der Nähe von Warschau. Sein Vater war ein Franzose, die Mutter Polin und später lebte Chopin auch in Paris. Dort blieb er vor allem nach der Niederschlagung des polnischen Aufstands durch den russischen Zaren. Er wurde auch schon zu Lebzeiten ein sehr erfolgreicher Musiker, erteilte Unterricht und führte seine Kompositionen in den Musiksalons der Stadt auf. Was wir gerade eben gehört haben, das wird gespielt von Sheila Arnold. Sie ist Pianistin und Professorin an der Musikhochschule Köln, bei mir im Studio. Guten Morgen, Frau Arnold.
Sheila Arnold: Guten Morgen, Herr Meurer.
Meurer: Sie spielen auf einem antiken Instrument, einem Erard-Flügel. Experten werden das jetzt vielleicht herausgehört haben. Hat auf einem solchen Instrument Frédéric Chopin gespielt?
Arnold: Ja, das kann man so sagen. Sie hören praktisch auf dieser Aufnahme den Klang der Zeit. Das ist ein Instrument von 1839, sozusagen auch aus dem Jahr, in dem die Preludes entstanden sind.
Meurer: Was unterscheidet diesen Klang von damals, 1830, 1840, von dem Klang heutiger Flügel?
Arnold: Sehr gute Frage, denn er unterscheidet sich wesentlich in seiner Farbigkeit. Man hört das vielleicht ein bisschen auch auf der Aufnahme, es hat etwas Zerbrechliches, etwas Brüchiges, es hat Härte genauso sehr wie Weichheit und Silbrigkeit, was auch damit zusammenhängt, dass die Hammerköpfe nicht so weich ummantelt sind wie heutzutage mit zu viel Filz, und auch die Konstruktion ist eine andere. Es ist eine Mehrholz-Konstruktion und hat nicht so viel Zugkraft auf den Seiten, was auch dazu führt, dass der Klang als solcher nicht so voluminös ist und groß, wie er heute für einen 2000-Menschen-Saal geeignet wäre, allerdings die Intimität, die auch diese Musik enthält, herausfordert zu finden.
Meurer: Weichheit, Intimität, das sind ja Attribute, die wir gemeinhin Frédéric Chopin zuschreiben. Sie sagen jetzt, wir sollten unser Chopin-Bild ändern. Wie sollten wir ihn denn sehen?
Arnold: Meiner Ansicht nach besteht ein bisschen die Gefahr, Chopin in eine sogenannte Schublade des eleganten, romantischen oder romantisierenden, wie auch immer das Wort gemeint ist, Salonmusikers zu stecken. Das ist jetzt etwas provokativ ausgedrückt, es liegt doch ein bisschen Fünkchen Wahrheit darin. Chopin war auch ein Mensch und er hat eine zerrissene Seele. Er hat unter den politischen Zuständen seiner Zeit gelitten. Er hat darunter gelitten, dass er nicht mit aktiv teilnehmen konnte an dem Warschauer Aufstand. Es war für ihn eigentlich ein Grauen. Seine Zeit in Paris war zunächst ein Grauen. Manche kennen vielleicht das Stuttgarter Tagebuch, das er auf dem Weg dorthin, wo er eine Notiz hinterlassen hat, in dem zum Beispiel der Satz steht, "Gott, schicke ein Erdbeben, damit es zu einem Absturz kommt". Da sind Äußerungen, zum Beispiel auch anderer Art: Er ist gezwungen, in Paris den eleganten Menschen zu spielen, der in den Salons auftritt mit weißen Handschuhen, mit einer Kutsche zu reisen von einem Ort zum nächsten und sehr ruhig und ausgeglichen und zart, schmächtig wie auch immer aufzutreten.
Meurer: Und wie war er wirklich?
Arnold: Er schreibt das in einem Brief an einen Freund. "Im Salon spiele ich den Ruhigen, aber zu Hause donnere ich auf dem Klavier." Das sind Äußerungen, die man nicht unbedingt von vornherein mit Chopin in Zusammenhang bringt.
Meurer: Hat er uns denn Stücke hinterlassen, Preludes, Balladen oder andere Stücke, die diesen Teil seines Charakters widerspiegeln?
Arnold: Davon bin ich überzeugt und sogar, dass man die Stücke fast einteilen könnte in verschiedene Phasen. Werke, die in der Warschauer Zeit entstanden sind, auch unter dem Einfluss der italienischen Oper zum Beispiel, haben eine andere Aussage, zeigen einen anderen Menschen, ein anderes Seelenbild, als Werke, die später in Paris entstanden sind.
Meurer: Da es also zwei Chopins gibt, einen poetischen und einen eher aggressiven, wie schwer ist für Sie, Frédéric Chopin zu spielen in diesen beiden Varianten?
Arnold: Es ist emotional sicherlich aufrührend und am Ende der 24 Preludes ist man nicht unbedingt körperlich, aber emotional am Ende.
Meurer: Wegen des Wechselspiels?
Arnold: Wegen des Wechselspiels. Aber es ist natürlich auch die Urmenschlichkeit an sich. Es kann nicht sein, dass wir als Menschen nur eine Seite verkörpern. Wir kennen das alle. Und warum sollte Chopin dort eine Ausnahme sein? Ich denke, es war sogar noch schlimmer für ihn, als er sich oft verstellen musste der Gesellschaft zuliebe, und seine kränkliche Konstitution ihm auch einen Strich durch die Rechnung gezogen hat sozusagen, oder aber auch seine Scheu vor den Menschen. Die Aussagen über sein Spiel rühren ja unter anderem daher, dass man sagt, er spielte zart, er spielte gefühlvoll, er spielte nie so, dass er das Innerste nach außen kehrte. Wenn er sagt, er donnert auf dem Klavier, so tat er das sicherlich nicht in der Öffentlichkeit. Und ich vermute, dass das auch dazu beigetragen hat, ein Bild von Chopin zu entwickeln, das diese Seite zeigt. Er hat in seinem ganzen Leben 30 Konzerte gegeben. Das Publikum hat ihn eingeschüchtert, was er auch schreibt in seinen Briefen. Er hat es gehasst, er wollte nicht, er hatte Lampenfieber.
Meurer: Aber er hat es getan. Aus welchem Grund? Um Geld zu verdienen?
Arnold: Weil er gefragt wurde. Die Nachfrage war groß. Geld verdient hat er durchs Unterrichten hauptsächlich, nicht durch Konzertieren. Die Nachfrage war so immens groß. Sein letztes Konzert beispielsweise war innerhalb kürzester Zeit ausverkauft, obwohl es nur eine eventuelle Ankündigung war.
Meurer: Da Sie vorhin auch kurz die Zeitumstände angesprochen haben. Müssen wir Chopin auch politischer sehen, vor dem Hintergrund eben des Warschauer Aufstands, des Versuchs der Polen, die russische Besatzung und die Herrschaft des Zaren abzuschütteln? Müssen wir das stärker sehen vor dem Hintergrund des Lebens und der Musik Chopins?
Arnold: Unbedingt! Es gibt ja auch Menschen, die mit Recht sagen, Chopin war ein politischer Musiker, ein politischer Pianist sozusagen. Er hat gelitten unter dieser Zeit. Er hat auch darunter gelitten, dass er als Mensch körperlich nicht anwesend sein konnte, mitzukämpfen, und hat diese Verzweiflung, wie er schreibt, dem Klavier anvertraut. "Nur dem Klavier vertraue ich meine Verzweiflung an."
Meurer: Leid, Kampf und Verzweiflung, diese Motive werden wir gleich hören in dem Prelude, mit dem wir uns von Ihnen verabschieden, das Sie interpretiert haben. Was ist das für ein Prelude von Chopin?
Arnold: Es ist das 18. Prelude, welches die innere Zerrissenheit Chopins demonstriert und nichts beschönigt.
Meurer: Sheila Arnold, Chopin-Interpretin, Professorin an der Musikhochschule Köln, heute am 200. Geburtstag von Frédéric Chopin. Danke schön für Ihren Besuch im Studio, auf Wiedersehen.
Arnold: Gerne. Wiedersehen!
Sheila Arnold: Guten Morgen, Herr Meurer.
Meurer: Sie spielen auf einem antiken Instrument, einem Erard-Flügel. Experten werden das jetzt vielleicht herausgehört haben. Hat auf einem solchen Instrument Frédéric Chopin gespielt?
Arnold: Ja, das kann man so sagen. Sie hören praktisch auf dieser Aufnahme den Klang der Zeit. Das ist ein Instrument von 1839, sozusagen auch aus dem Jahr, in dem die Preludes entstanden sind.
Meurer: Was unterscheidet diesen Klang von damals, 1830, 1840, von dem Klang heutiger Flügel?
Arnold: Sehr gute Frage, denn er unterscheidet sich wesentlich in seiner Farbigkeit. Man hört das vielleicht ein bisschen auch auf der Aufnahme, es hat etwas Zerbrechliches, etwas Brüchiges, es hat Härte genauso sehr wie Weichheit und Silbrigkeit, was auch damit zusammenhängt, dass die Hammerköpfe nicht so weich ummantelt sind wie heutzutage mit zu viel Filz, und auch die Konstruktion ist eine andere. Es ist eine Mehrholz-Konstruktion und hat nicht so viel Zugkraft auf den Seiten, was auch dazu führt, dass der Klang als solcher nicht so voluminös ist und groß, wie er heute für einen 2000-Menschen-Saal geeignet wäre, allerdings die Intimität, die auch diese Musik enthält, herausfordert zu finden.
Meurer: Weichheit, Intimität, das sind ja Attribute, die wir gemeinhin Frédéric Chopin zuschreiben. Sie sagen jetzt, wir sollten unser Chopin-Bild ändern. Wie sollten wir ihn denn sehen?
Arnold: Meiner Ansicht nach besteht ein bisschen die Gefahr, Chopin in eine sogenannte Schublade des eleganten, romantischen oder romantisierenden, wie auch immer das Wort gemeint ist, Salonmusikers zu stecken. Das ist jetzt etwas provokativ ausgedrückt, es liegt doch ein bisschen Fünkchen Wahrheit darin. Chopin war auch ein Mensch und er hat eine zerrissene Seele. Er hat unter den politischen Zuständen seiner Zeit gelitten. Er hat darunter gelitten, dass er nicht mit aktiv teilnehmen konnte an dem Warschauer Aufstand. Es war für ihn eigentlich ein Grauen. Seine Zeit in Paris war zunächst ein Grauen. Manche kennen vielleicht das Stuttgarter Tagebuch, das er auf dem Weg dorthin, wo er eine Notiz hinterlassen hat, in dem zum Beispiel der Satz steht, "Gott, schicke ein Erdbeben, damit es zu einem Absturz kommt". Da sind Äußerungen, zum Beispiel auch anderer Art: Er ist gezwungen, in Paris den eleganten Menschen zu spielen, der in den Salons auftritt mit weißen Handschuhen, mit einer Kutsche zu reisen von einem Ort zum nächsten und sehr ruhig und ausgeglichen und zart, schmächtig wie auch immer aufzutreten.
Meurer: Und wie war er wirklich?
Arnold: Er schreibt das in einem Brief an einen Freund. "Im Salon spiele ich den Ruhigen, aber zu Hause donnere ich auf dem Klavier." Das sind Äußerungen, die man nicht unbedingt von vornherein mit Chopin in Zusammenhang bringt.
Meurer: Hat er uns denn Stücke hinterlassen, Preludes, Balladen oder andere Stücke, die diesen Teil seines Charakters widerspiegeln?
Arnold: Davon bin ich überzeugt und sogar, dass man die Stücke fast einteilen könnte in verschiedene Phasen. Werke, die in der Warschauer Zeit entstanden sind, auch unter dem Einfluss der italienischen Oper zum Beispiel, haben eine andere Aussage, zeigen einen anderen Menschen, ein anderes Seelenbild, als Werke, die später in Paris entstanden sind.
Meurer: Da es also zwei Chopins gibt, einen poetischen und einen eher aggressiven, wie schwer ist für Sie, Frédéric Chopin zu spielen in diesen beiden Varianten?
Arnold: Es ist emotional sicherlich aufrührend und am Ende der 24 Preludes ist man nicht unbedingt körperlich, aber emotional am Ende.
Meurer: Wegen des Wechselspiels?
Arnold: Wegen des Wechselspiels. Aber es ist natürlich auch die Urmenschlichkeit an sich. Es kann nicht sein, dass wir als Menschen nur eine Seite verkörpern. Wir kennen das alle. Und warum sollte Chopin dort eine Ausnahme sein? Ich denke, es war sogar noch schlimmer für ihn, als er sich oft verstellen musste der Gesellschaft zuliebe, und seine kränkliche Konstitution ihm auch einen Strich durch die Rechnung gezogen hat sozusagen, oder aber auch seine Scheu vor den Menschen. Die Aussagen über sein Spiel rühren ja unter anderem daher, dass man sagt, er spielte zart, er spielte gefühlvoll, er spielte nie so, dass er das Innerste nach außen kehrte. Wenn er sagt, er donnert auf dem Klavier, so tat er das sicherlich nicht in der Öffentlichkeit. Und ich vermute, dass das auch dazu beigetragen hat, ein Bild von Chopin zu entwickeln, das diese Seite zeigt. Er hat in seinem ganzen Leben 30 Konzerte gegeben. Das Publikum hat ihn eingeschüchtert, was er auch schreibt in seinen Briefen. Er hat es gehasst, er wollte nicht, er hatte Lampenfieber.
Meurer: Aber er hat es getan. Aus welchem Grund? Um Geld zu verdienen?
Arnold: Weil er gefragt wurde. Die Nachfrage war groß. Geld verdient hat er durchs Unterrichten hauptsächlich, nicht durch Konzertieren. Die Nachfrage war so immens groß. Sein letztes Konzert beispielsweise war innerhalb kürzester Zeit ausverkauft, obwohl es nur eine eventuelle Ankündigung war.
Meurer: Da Sie vorhin auch kurz die Zeitumstände angesprochen haben. Müssen wir Chopin auch politischer sehen, vor dem Hintergrund eben des Warschauer Aufstands, des Versuchs der Polen, die russische Besatzung und die Herrschaft des Zaren abzuschütteln? Müssen wir das stärker sehen vor dem Hintergrund des Lebens und der Musik Chopins?
Arnold: Unbedingt! Es gibt ja auch Menschen, die mit Recht sagen, Chopin war ein politischer Musiker, ein politischer Pianist sozusagen. Er hat gelitten unter dieser Zeit. Er hat auch darunter gelitten, dass er als Mensch körperlich nicht anwesend sein konnte, mitzukämpfen, und hat diese Verzweiflung, wie er schreibt, dem Klavier anvertraut. "Nur dem Klavier vertraue ich meine Verzweiflung an."
Meurer: Leid, Kampf und Verzweiflung, diese Motive werden wir gleich hören in dem Prelude, mit dem wir uns von Ihnen verabschieden, das Sie interpretiert haben. Was ist das für ein Prelude von Chopin?
Arnold: Es ist das 18. Prelude, welches die innere Zerrissenheit Chopins demonstriert und nichts beschönigt.
Meurer: Sheila Arnold, Chopin-Interpretin, Professorin an der Musikhochschule Köln, heute am 200. Geburtstag von Frédéric Chopin. Danke schön für Ihren Besuch im Studio, auf Wiedersehen.
Arnold: Gerne. Wiedersehen!