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Ein politphilosophischer Thriller

Der Internetgigant Google hat in Hallen auf dem bayrischen Land Riesenscanner aufgestellt und scannt Bücher ein, um diese online zu stellen. Das setzte beim Autor Florian Felix Weyh einen Thriller im Kopf in Gang. Er kreierte einen humorvollen Roman um eine Internetsuchmaschine: Toggle.

Von Norbert Kron |
    LKW ohne Aufschrift donnern durch die Nacht, bringen ihre Ladung in eine Scheune auf dem Land – niemand weiß, was dort geschieht. Ein Thriller über die russische Mafia? Geht es um Drogen? Raubkopien? Zwangsprostitution? Nein – um Bücher. Die Maschinen, die Tag und Nacht in der Scheune heulen, sind Hochleistungsscanner. Dahinter steckt ein Weltkonzern: "Toggle". Er will den gesamten Buchbestand der Welt einscannen und online stellen. Was Florian Felix Weyh am Beginn seines ersten Romans beschreibt, ist keine Fiktion, sondern Wirklichkeit. In unzugänglichen Hallen auf dem bayerischen Land hat der Internetgigant "Google" tatsächlich Riesenscanner aufgestellt.

    "Dort werden alte Bücher eingescannt, und zwar mit monströsen Apparaten, die wirklich eine Art Staubsauger sind. Die Seiten werden angesaugt, sss-sss-sss, das geht rasend schnell. In vier, fünf Minuten ist ein komplettes Buch eingescannt. Das ist alles sehr mysteriös und man fragt sich, warum ist das so mysteriös?"

    Die Fragen setzten im Kopf von Weyh einen Thriller in Gang. Wozu scannt "Google" die gesamte Bibliothek der Weltgeschichte ein – und warum so geheim? Was nach außen als gigantisches humanistisches Projekt erscheinen mag, warf bei dem Schriftsteller und Literaturkritiker Fragen auf. Nicht nur: Was passiert, wenn sich unsere Bücher entmaterialisieren? Sondern: Was verbirgt sich überhaupt im Dunkel des Konzerns, der uns nicht in seine Firmengeheimnisse schauen lässt? Ist die Google-Suchmaske nicht nur eine Art weiße Weste, die uns der Konzern nach außen zeigt, während er uns selbst nach und nach in seine Datenbanken saugt? Florian Felix Weyh erfand einen Konzern namens "Toggle" – und machte ihn zum Schauplatz seines Romans.

    "Das ist ein politphilosophischer Thriller, der ein kleines bisschen in die Tradition von Orwell geht: Schauen wir uns einmal an, wie Technik unsere Welt in der Gesellschaftsstruktur verändern kann."

    Die Story, die Weyh sich für seinen Internetthriller ausgedacht hat, ist ebenso spannend wie intelligent. Alles beginnt mit einer Tagung, die "Toggle" in einem bayerischen Schlosshotel veranstaltet. Dort dürfen Journalisten den Konzern mal so richtig kritisch hinterfragen – und prallen an den smarten Konzernvertretern und einer internationalen Wissenschaftler-Elite ab. Wie der Roman diesen Schlagabtausch gestaltet, mit gewitzten Dialogen und ironischen Beschreibungen, ist eine gelungene Parodie auf die täglichen Feuilletondebatten über die Gefahren, die von Google oder Facebook ausgehen. Dann aber – erschüttert ein Mord die bayerische Idylle: Die Deutschlandchefin des Konzerns, Melissa Stockdale, wird tot in einem Bergbach gefunden. Unfall – oder Mord? War Melissa Stockdale nicht an einem revolutionären "Toggle"-Projekt beteiligt? Gehörte sie mit den Elitewissenschaftlern nicht einer Geheimgesellschaft an? Das Ganze wird zur Parabel auf eine digitale Realität, die wir zwar tagtäglich nutzen, aber deren Codes wir niemals mehr selbst gestalten können.

    "Wir können nicht mehr erfassen, was dahinter steckt, es ist völlig intransparent. 99,9 Prozent der Leute können keinen Computercode verstehen. Es ist wieder nur eine Elite, die das verstehen kann."

    Natürlich ist das ein kulturkonservativer Gemeinplatz: dass wir nicht durchschauen, wie Suchmaschinen funktionieren – das wir nicht wissen, was mit unseren Daten passiert. Na und?, könnte man sagen, gibt es darüber nicht genug Kommentare?

    Doch Florian Felix Weyh geht es um etwas Anderes, Grundlegenderes. Während die Handlungsschauplätze im Minutentakt zwischen Schloss Mellau und Berlin, Hamburg und San Francisco hin- und herwechseln, verblüfft uns der Roman nicht nur mit immer neuen Insider-Kenntnissen aus der Internetwelt. Er entfaltet einen Diskurs über das Fundament unserer westlichen Welt, über unser Selbstverständnis als mündige freie Bürger und über die Ideale der Aufklärung, die unseren Verfassungen zugrunde liegen.

    Dazu flicht Weyh eine historische Ebene in den Roman ein, die Mitte des 18. Jahrhunderts angesiedelt ist, am Beginn der absolutistischen Epochendämmerung. In Neapel arbeitet ein gewisser Ferdinando Galiani an einem Traktakt, das sich mit der Neugestaltung der "Staatsmaschine" befasst. Es lautet: "Unfehlbares System zur perfekten Lenkung der Welt". Die unerhörte Idee dabei ist: Je nach seinem gesellschaftlichen Wert soll die Stimme des Menschen bei einer Wahl unterschiedlich viel wert sein – wofür Galiani eine mathematische Formel entwickelt, bei der Faktoren wie Alter, Bildungsstand, Gesundheit einfließen. Lange glaubt man als Leser, es mit einem historischen Originaltext zu tun zu haben. Doch das Ganze ist erfunden.

    "Diese historisch überlieferte Figur Ferdinando Galiani ist ja frei gestaltet. Ich habe mir die Freiheit genommen, ihn zum Vertreter einer Geistesrichtung zu machen, die es eigentlich nicht gibt. Der konnte den Adel nicht ausstehen, dessen Teil er war, und auf der anderen Seite fand er das Volk genauso furchtbar."

    Man könnte diese dritte Geistesrichtung einen neoliberalen Feudalismus nennen, ein System, in dem nicht die platte Gleichheit herrscht, aber eben auch kein vererbtes Ständesystem. Weil dieses Denkmodell so exzellent in unsere schöne heutige "Toggle"-Welt passt, wird von den Verschwörern im Roman auf Galianis Schrift Jagd gemacht wird. Es gibt nur noch ein einziges Exemplar davon: umso wichtiger, dass diese Urschrift von "Toggles" Superscannern digitalisiert wird. Denn genau nach dem Muster von Galianis "Unfehlbaren System" will auch die Verschwörergruppe in "Toggle" ein Internetprogramm lancieren, das unsere Vorstellungen von politischer Öffentlichkeit aus den Angeln hebt.

    "Das Tool nennt sich TOD. Das ist ein Akronym für Toggle Democracy. Das ist ein Tool, das den Menschen sagt, ihr seid politikverdrossen und mit diesem Tool könnt ihr Meinungsverschiedenheiten anders lösen: nämlich ganz smart im Internet."

    "Toggle Democracy" macht Schluss mit der Regel "One Man, One Vote", fegt die Idee von der Gleichheit des Menschen hinweg. Ein Algorithmus berechnet anhand unseres Verhaltens im Internet, wie groß unser sozialer Status ist. Wo und was wir einkaufen, in welchen Kreisen wir uns bewegen, mit wem wir verlinkt sind – all diese Faktoren fließen in eine Formel ein, die uns vor einer Wahl sagt, welches Gewicht unsere Stimme im Vergleich zu anderen hat. Eine absurde Vorstellung? Warum sollten wir da mit machen?

    Weil wir mit unserer heutigen Demokratie unzufrieden sind, sagt Florian Felix Weyh, und weil deshalb der Reiz für uns genauso groß wäre wie die Teilnahme an Facebook. Das Wettbewerbs-Element, die Lust, innerhalb der Community einen möglichst guten Platz im sozialen Ranking zu erlangen – es würde zu einem Dominoeffekt führen.

    "Man kann die Eigendynamik der Systeme wunderbar bei Facebook sehen. Es ist de facto so: Mein 16-jähriger Sohn kann sich nicht leisten, nicht bei Facebook zu sein. Wenn er das täte, wäre er ein sozialer Outlaw. Und genau so ist es mit all den Netzwerkstrukturen, die es jetzt auch für Erwachsene gibt und die sich jetzt immer weiter ausbreiten.""

    Laut Weyh gibt es schon lange keinen Weg mehr zurück. Wir schleppen einen riesigen digitalen Schatten mit uns herum, mit dem wir bei Jobbewerbungen oder Kreditvergaben bewertet werden. Auch das Wirtschaftssystem hat sich vielfach von Realwerten abgelöst und funktioniert nach rechnerischen Bewertungen, die von den Programmen über Banken und Staaten erstellt werden. Selbst wer in der digitalen Bibliothek von Google ein humanistisches Projekt entdecken mag – und nicht nur ein neues Marketing-Instrument zur Kundenbindung –, kann nicht mehr verhindern, dass die Computer-Algorithmen auf der Basis uneinsehbarer Datenbanken zunehmend die Regeln für unser gesellschaftliches Leben definieren.

    "Das ist die ganz große Fantasie, dass, wenn das Digitale zur Regierung wird, und das halte ich für nicht unwahrscheinlich, wir uns tatsächlich nach Kant wieder in die Unmündigkeit hineinbegeben."

    Die Weichen sind gestellt, der Schalter umgelegt. Das englische Wort für Schalter lautet übrigens: "Toggle". Auch das verdeutlicht noch einmal, wie spielerisch der Autor sein Anliegen betreibt: Nur ein Roman kann in seinen Augen das richtige Medium sein, das die Google-Welt mit einem Gedankenvirus infiltriert, der uns beim Lesen ansteckt.

    Deshalb: Ein "richtiger" Thriller à la Dan Brown ist das nicht – und diese Prosa will auch nicht den Ingeborg-Bachmann-Preis gewinnen. Bereitwillig schießt diese politphilosophische Thriller-Parodie zuweilen mit ihren geistreichen Dialogkaskaden durch die Decke. Denn ihr Autor glaubt nicht mehr an einen fest gefügten Raum, bewegt sich permanent an den Schnittstellen von Realität und Fiktion. So wie Toggle Google ist, steht hinter Schlosshotel Mellau das bayerische Schloss Elmau und hinter fast allen fiktiven Figuren eine reale Person in der Wirklichkeit. Es ist die Freude an diesem Spiel, das Florian Felix Weyhs tollem Roman seine Komik verleiht, das ironische Jonglieren mit Ideen, das mehr Aufklärung bietet, als es ein Sachbuch könnte.

    Denn das ist das Problem: Wir alle nutzen Google und Facebook selbst. Wer wie wir alle im digitalen Glashaus sitzt, muss ein Schelmenstück wie diesen Roman schreiben, um so treffsicher mit den Spiel-Steinen auf unser algorithmisches Zeitalter zu werfen.

    Florian Felix Weyh: "Toggle", 440 Seiten, Galiani Verlag Berlin 2012