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Ein Produkt reifer Gelehrsamkeit

2009 veröffentlichte der Historiker Heinrich August Winkler den ersten Band einer großangelegten "Geschichte des Westens". Nun lässt der Autor den zweiten Band folgen. Ursprünglich sollte er vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart führen. Doch dann entschied sich Winkler, eine weitere Zäsur mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu setzen.

Von Volker Ullrich |
    Auch der zweite Band von Heinrich August Winklers "Geschichte des Westens" zeigt die Vorzüge des ersten: Winkler schreibt nicht in erster Linie für die akademische Zunft, sondern für ein breites, historisch interessiertes Publikum. Die Kunst, Analyse und Erzählung zu verbinden, beherrscht er wie kaum ein zweiter deutscher Historiker. Und er versteht es, eine schier erdrückende Stofffülle zu bändigen und die Vielfalt der Aspekte in eine überzeugende Synthese zu integrieren. War der erste Band als "Problem- und Diskursgeschichte" angelegt, wobei ein starker Akzent auf die politischen Ideen gelegt wurde, so dominiert im zweiten die Politikgeschichte, angereichert um die Wirtschafts- und Sozialgeschichte dort, wo sie, wie im Falle der Weltwirtschaftskrise seit 1929, unverzichtbar ist. Auffällig ist wiederum die Vernachlässigung der Kulturgeschichte. Explizit widmet ihr Winkler nur einen Abschnitt, und zwar, wenn er im Zusammenhang mit den "roaring twenties" auf den faszinierenden Kulturbetrieb der Weimarer Republik zu sprechen kommt. Überhaupt ist eine gewisse Privilegierung der deutschen Geschichte unverkennbar. Der Autor begründet dies im Vorwort so:

    "Die Rolle Deutschlands war zwischen 1914 und 1945 so zentral, dass man die Zeit der Weltkriege geradezu als das deutsche Kapitel in der Geschichte des Westens bezeichnen kann."

    So plausibel diese Begründung auch erscheint, so drängt sich doch der Eindruck auf, dass Winkler in den Abschnitten zur deutschen Geschichte, die seinen eigenen Forschungsinteressen am nächsten liegen, seiner Lust am Erzählen bereitwilliger die Zügel hat schießen lassen. So ergeben sich einige Ungleichgewichte in den Proportionen – die Darstellung der Frühgeschichte oder der Endphase der Weimarer Republik etwa nimmt genauso viel Raum ein wie die Entwicklung der amerikanischen, britischen und französischen Geschichte im selben Zeitraum zusammen. Stärkere Berücksichtigung als im ersten Band erfährt dagegen die russische und die italienische Geschichte, und dies aus guten Gründen. Denn nach der Oktoberrevolution von 1917 bildete sich in Russland eine bolschewistische Diktatur heraus – in den Worten Winklers:

    "Der bisher radikalste Gegenentwurf zum normativen Projekt des Westens."

    Und mit Mussolinis "Marsch auf Rom" im Oktober 1922 entstand in Italien ein faschistisches Regime, das wiederum eine radikale Antwort auf die Bedrohungsängste darstellte, die Lenins Revolution im Westen ausgelöst hatte. Italien war keineswegs das einzige Land, das sich in der Zwischenkriegszeit von der Demokratie verabschiedete. Nur zwei der nach 1918/'19 neu gegründeten Staaten Ost-mittel- und Südosteuropas – nämlich Finnland und die Tschechoslowakei – konnten ihr demokratisches System über die Krise des Nachkriegsjahrzehnts hinaus bewahren; alle übrigen, Polen, die baltischen Staaten, die Republik Österreich, Ungarn, Jugoslawien, gingen früher oder später zu autoritären Regimen über, ebenso aber auch bereits vor 1918 existierende Staaten wie Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Portugal oder Spanien. Diesen Prozess der "autoritären Transformation", Land für Land erstmals in großem Zusammenhang dargestellt zu haben, ist eine der beeindruckendsten Leistungen des Autors. Doch Winklers Buch ist vor allem ein hohes Lied auf die Behauptungskraft der westlichen Demokratien.

    "Wo das normative Projekt des Westens tiefe Wurzeln geschlagen hatte und das politische Denken der Regierenden wie der Regierten bestimmte, bewährte es sich auch in der bislang ernstesten Herausforderung des Westens: der Großen Krise seit 1929."

    Das galt zum Beispiel für die stark sozialdemokratisch geprägten skandinavischen Staaten Norwegen, Schweden und Dänemark, noch mehr für die großen angelsächsischen Länder, die USA und Großbritannien, die ihr demokratisches System durch Reformen erneuern und festigen konnten. Ein Glanzstück des Buches ist die Darstellung des "New Deal" unter Franklin D. Roosevelt seit 1933. Wenn man liest, was der amerikanische Präsident allein in den ersten 100 Tagen seiner Regierung an Reformgesetzen einbrachte und wie er sie seinen Landsleuten in seinen berühmten Rundfunkansprachen vor dem Kamin des Oval Office vermittelte, dann wünschte man sich Politiker von ähnlicher Tatkraft und Durchsetzungsfähigkeit in den Krisen der heutigen westlichen Welt. Dass die Weimarer Republik die Weltwirtschaftskrise nicht überlebte, führt Winkler im Wesentlichen darauf zurück, dass die parlamentarische Demokratie hier eben noch keine festen Wurzeln geschlagen hatte. Sie galt in den Augen der alten Machteliten als eine den Deutschen 1918 von den Siegern aufgezwungene Staatsform. Vor diesem Hintergrund deutet Winkler den Nationalsozialismus als die extremste Steigerung der tief verwurzelten antiwestlichen Ressentiments.

    "Ohne den Rückhalt bei den vor- und antidemokratischen Traditionen, an die er anknüpfen konnte, hätte Hitler Deutschland 1933 nicht seiner Herrschaft zu unterwerfen vermocht."

    Natürlich stellt auch Winkler die Frage aller Fragen: Warum der Holocaust zum deutschen Menschheitsverbrechen werden konnte. Die Antwort: Nur in Deutschland war der Antisemitismus in seiner radikalsten Ausprägung an die Macht gekommen, und nur hier stand ein Mann an der Spitze, der von Anfang an entschlossen war, die Juden zu "entfernen", mit welchen Mitteln auch immer. Der Autor blendet die Verbrechen Stalins nicht aus; im Gegenteil, das ganze Ausmaß des Terrors vor allem in den 30er-Jahren – die Vernichtung der Kulaken, die Schauprozesse, die "Säuberungen" im Parteiapparat – wird präzise beschrieben. Doch das alles wird noch übertroffen durch die Darstellung des deutschen Vernichtungskrieges gegen Polen und die Sowjetunion und der Ermordung der europäischen Juden, die in seinem Schatten exekutiert wurde. Gerade in der vergleichenden Perspektive wird deutlich, worin das Spezifische dieses Völkermords lag: Es war nicht nur die bürokratische Routine und technische Perfektion, mit der die Opfer erfasst, deportiert und in den Mordfabriken getötet wurden; es war auch die Tatsache, dass dieses Verbrechen von einer Nation verübt wurde, die trotz des anti-westlichen Affekts seiner Eliten kulturell zum Westen gehörte:

    "Deutschland hatte Teil gehabt an der europäischen Aufklärung und im 19. Jahrhundert einen Rechtsstaat hervorgebracht, der westlichen Maßstäben entsprach. Es war als Sozialstaat ein Vorbild für andere geworden; es war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein hochentwickeltes Industrieland und eine der führenden Wissenschaftsnationen der Welt."

    Aus diesem Umstand erklärt Winkler, warum die Vernichtung der europäischen Juden im kollektiven Gedächtnis des Westens bis heute sehr viel stärker nachwirkt als andere Genozide im 20. Jahrhundert. Die These von der Singularität der Shoah, die in letzter Zeit immer wieder in Zweifel gezogen wurde, erfährt auf diese Weise eine neue Bestätigung. Bei allem emphatischen Bekenntnis zur politischen Kultur des Westens ist Winkler doch weit davon entfernt, die Augen vor Verstößen westlicher Politiker und Militärs gegen die eigenen normativen Postulate zu verschließen. Scharf verurteilt er zum Beispiel die Flächenbombardements der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, die ihren Zweck, die Moral der deutschen Zivilbevölkerung zu brechen, verfehlten.

    "Im Kampf gegen die nationalsozialistische Aggression wandten auch demokratische Gegner Hitlers Mittel an, die zutiefst inhuman waren."

    Und ebenso heftig kritisiert er, dass Roosevelt und Churchill Stalin freie Hand in Ostmitteleuropa gaben – der Preis dafür, dass sie die Hauptlast des Kriegs gegen die Deutschen der Sowjetunion überlassen hatten. Damit opferten sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das sie in der Atlantik-Charta vom August 1941 feierlich verkündet hatten. Winklers monumentale "Geschichte des Westens" ist ein Produkt reifer Gelehrsamkeit und stilistischer Könnerschaft – souverän in der Darstellung, umsichtig im Urteil, zupackend in den Formulierungen. Kein Zweifel: Das Werk wird, wenn der abschließende dritte Band vorliegt, zu den wichtigsten zählen, welche die transnationale Geschichtsschreibung seit 1945 hervorgebracht hat.

    Heinrich August Winkler: "Geschichte des Westens. Band 2: Die Zeit der Weltkriege 1914 – 1945"
    C.H. Beck Verlag, 1350 Seiten, 39,95 Euro
    ISBN 978-3-406-59236-2


    Link:

    Interview mit Heinrich August Winkler