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Ein protestantischer Theoretiker der Moderne

Emanuel Hirsch (1888 - 1972) gilt als ein herausragender evangelischer Theologe und Kenner des deutschen Idealismus. Aber er war auch ein Star-Intellektueller des Nationalsozialismus. Ein Grund, weshalb in seinem 125. Geburtsjahr auch keine Ehrungen stattfindet.

Von Alexander Grau |
    "Kein einziges Volk der Welt hat so wie das unsere einen Staatsmann, dem es so ernst um das Christliche ist; als Adolf Hitler am 1. Mai seine große Rede mit einem Gebet schloss, hat die ganze Welt die wunderbare Aufrichtigkeit darin gespürt."

    Schreibt 1933, unter vollkommener Verkennung der Tatsachen, der evangelische Theologe Emanuel Hirsch, der damals Professor für Kirchengeschichte in Göttingen ist.

    Dieses Zitat ist kein Ausrutscher. In zahlreichen Veröffentlichungen versucht Hirsch, die Herrschaft der Nationalsozialisten zu rechtfertigen. Er ist der theologische Berater von Ludwig Müller, dem Reichsbischof der Deutschen Christen. Hirsch wendet sich mit Nachdruck gegen die Bekennende Kirche, tritt 1937 der NSDAP bei und wird förderndes Mitglied der SS. Hirsch ist kein Mitläufer oder Opportunist, er ist überzeugter Nationalsozialist.

    Damit könnte das Kapitel Emanuel Hirsch sowohl für die Geistesgeschichte, erst recht aber für die protestantische Theologie beendet sein. Könnte - doch Emanuel Hirsch ist eben nicht nur der nationalsozialistische Starintellektuelle, als den er vor allem sich selber sah, sondern zugleich ein brillanter, manchmal sogar herausragender Theologe.

    Hirschs Schriften zur Philosophie Johann Gottlieb Fichtes gelten nach wie vor als grundlegend. Seine Übersetzungen des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard sind ebenso Meilensteine wie seine Kommentare hierzu.

    Vor allem aber gilt Hirsch nicht wenigen Theologen als der vielleicht wichtigste Vertreter ihres Faches im 20. Jahrhundert. Ulrich Barth, Professor für systematische Theologie an der Universität Halle-Wittenberg:

    "So irritierend die Zeitgebundenheiten des Hirschschen Denkens fraglos sind, so wenig vermögen sie, dessen gedankliches Niveau ernsthaft zu relativieren. Was die sachliche Direktheit und problemgeschichtliche Reflektiertheit anbelangt, hat die Theologie Hirschs bis heute kaum an Faszinationskraft eingebüßt."

    Und der amerikanische Theologe Jack Forstman fasst zusammen, was viele deutsche Kollegen nur hinter vorgehaltener Hand sagen:

    "Emanuel Hirsch war einer der brillantesten Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Theologie seiner aber auch jeder anderen Generation."

    Damit stellt sich zwangsläufig eine Reihe von Fragen: Wie konnte ein so reflektierter Kopf zum erklärten und bedingungslosen Anhänger des Nationalsozialismus werden? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Hirschs Theologie und seiner politischen Überzeugung?

    Oder ist es so, dass Hirschs politisches Denken ein Produkt biografischer Umstände und persönlicher Charaktereigenschaften war, die in keinem inhaltlichen Zusammenhang mit seiner Theologie stehen?

    Geboren wird Emanuel Hirsch am 14. Juni 1888 in dem Dorf Bentwisch bei Wittenberge, nordwestlich von Berlin. Hirschs Vater ist Pfarrer. Man ist deutschnational, konservativ und kaisertreu.

    1906 geht Emanuel Hirsch nach Berlin. Er studiert dort bei Adolf von Harnack, dem Leitstern liberaler Theologie, und Karl Holl, dem Begründer der sogenannten Luther-Renaissance.

    1914, ein Jahr vor Hirschs Habilitation, bricht der 1. Weltkrieg aus. Das berühmte "Augusterlebnis" wird für ihn, wie für so viele seiner Generation, zum Schlüsselereignis, der Krieg selbst zur Prüfung durch Gott. In einer Predigt im September 1914 mahnt Hirsch:

    "Krieg ist ein Gottesurteil, aber nur das Volk hat das Recht, dieses Gottesurteil zu fordern, das bereit ist, sich nötigenfalls in diesem Kriege zu verbluten."

    Schon an dieser Bemerkung wird deutlich, dass man Hirschs Theologie und seine politische Haltung nicht einfach voneinander trennen darf. Krieg ist für Hirsch eine existenzielle Anfrage des Menschen an Gott, die entsprechend mit größter Konsequenz geführt werden muss:

    "Alle Opfer an Glut und Blut sind nichts als der Versuch, Gott die Entscheidung für uns abzuzwingen; wir lassen ihn nicht, er segne uns denn."

    Solche Aussagen sind Bekenntnisse eines deutschnationalen Patrioten jener Zeit, wie man sie auch von anderen Intellektuellen kennt. Man denke nur an Thomas Mann. In Hirschs Schriften aus den 20er-Jahren wird jedoch bald eine gedankliche Nähe zu äußersten politischen Rechten deutlich.

    Dabei fällt auf, dass Hirschs theologisches Denken und seine politischen Überlegungen eine gemeinsame Basis haben: Beide gründen in einer Philosophie der Geschichte, insbesondere in einer ausgearbeiteten Theorie der Moderne.

    Die Moderne ist für Hirsch insbesondere durch zwei Begriffe gekennzeichnet: Vernunft und Freiheit. Beide, Vernunft und Freiheit, sind daher nicht voneinander zu trennen. Vielmehr ist das Bewusstsein der Freiheit das Ergebnis des neuzeitlichen Siegeszuges der Vernunft.

    "Deren Grundmotiv liegt darin, dass eine in menschlicher Anlage gegebene menschlich-vernünftige Erkenntnis das letzte für uns Menschen Gültige und Verbindliche aufzuzeigen vermag."

    Dieser Anspruch menschlicher Vernunft mündet in dem Sieg der wissenschaftlichen Weltanschauung, also in dem Bewusstsein und dem Anspruch, alle wesentlichen Fragen und Probleme mit wissenschaftlich-rationalen Methoden lösen zu können.

    Dieser Sieg des wissenschaftlichen Weltbildes hatte enorme Folgen auch auf die europäische Kultur, insbesondere ihr Verständnis von Wahrheit, das "Wahrheitsbewusstsein", wie Hirsch es nennt:

    "Unser heutiges abendländisches Wahrheitsbewusstsein trägt in sich die Erinnerung an den Bruch, den der Mensch aus selbstständigem Forschen und Erkennen heraus mit dem kirchlich geheiligten überlieferten Welt- und Geschichtsbilde des Mittelalters vollzogen hat."

    Anders, als viele Theologen seiner Zeit, verurteilt Hirsch das moderne wissenschaftliche Weltbild nicht. Vielmehr muss sich für ihn ein zeitgemäßes Christentum den geistigen und kulturellen Herausforderungen der Moderne stellen.

    "Ein Christentum und Kirchentum, welches den Zweifel an seinen eigenen Wahrheitsanspruch von vornherein für Sünde erklärt und der Autonomie der Vernunft die Autorität der Kirche oder der Bibel entgegenstellt, ist mit dem abendländischen Wahrheitsbewusstsein in unversöhnlichem Widerstreit und wird eintrocknen und Ritus und Satzung."

    Mit dem Sieg der Vernunft und einer wissenschaftlichen Wahrheitsauffassung sind für den modernen Menschen die traditionellen kirchlichen Lehren veraltet. Aus diesem Grund beginnt Hirsch seine Dogmatik, den "Leitfaden zur christlichen Lehre", mit der Feststellung:

    "Das Christentum hat im abendländischen Völkerkreise während der letzten 400 Jahre seine selbstverständliche Gültigkeit als heilige Gottesordnung langsam aber sicher verloren. Die natürliche menschliche Stellung dem Christlichen gegenüber ist heute der Zweifel."

    Angesichts dieser Situation befindet sich das Christentum in einer, wie Hirsch es nennt, "Umformungskrise". Vor dem Forum der modernen zweifelnden Vernunft können die alten Glaubensgewissheiten nicht bestehen.

    Daraus könnte man, so Hirsch, die Schlussfolgerungen ziehen, dass unsere moderne westliche Gesellschaft sich weiterhin entchristlicht. Unter diesen Bedingungen ist die Sonderstellung der Kirchen nicht länger zu rechtfertigen.

    Hirsch bietet eine Alternative an: Die Umformungskrise ermögliche nämlich erst ein wirklich christliches Bewusstsein, das in den Jahrhunderten satter christlicher Selbstgewissheit verschüttet war.

    Erst die Krise der Moderne, so Hirsch, erst der allgegenwärtige Zweifel mache wieder deutlich, was das Christentum von allen anderen Religionen und Ideologien unterscheide: nämlich das Bewusstsein für das Geheimnis.

    Damit bezeichnet Hirsch die Einsicht, dass das Verhältnis jedes Einzelnen zu Gott nicht vollständig rational erfasst werden kann. Im Gegenteil. Der Kern jedes Gottesverhältnisses ist eine sprachlich nicht fassbare Leerstelle.

    "Dieser leere Platz ist das persönliche Geheimnis zwischen Gott und dem einzelnen Menschen. Und das heißt damit auch: das persönliche Geheimnis im Verhältnis zwischen Mensch und Mensch."

    Nur der Zweifel lässt die leere Stelle, das Geheimnis des persönlichen Gottesverhältnisses offen. Jede Form von Gewissheit hingegen schließt diese leere Stelle des Geheimnisses und macht wahres Christentum unmöglich.

    Doch Hirsch geht noch weiter: Der Zweifel ermöglicht nicht nur wirkliches Christentum. Vielmehr hat das Christentum den Zweifel in die Welt gebracht, als es die Gewissheiten der heidnischen Welt infrage stellte.

    Die angebliche Sündhaftigkeit des Zweifels, wie sie auch in reformatorischer Tradition immer wieder betont wurde, passt nicht mehr in die Moderne und der in ihr lebendigen Geschichtsmacht des Zweifels.

    "Wer in solcher Lage die alten Aussagen über Zweifel, Sünde und Glaube einfach wiederholt, der tut nicht inhaltlich die alten Aussagen, sondern eine andere, neue. Und er zieht mit dieser Aussage ohne Wissen und Willen vom Christentum weg."

    Denn die alten Begriffe zum Beispiel aus der Reformationszeit haben heute nicht mehr die Bedeutung, die sie in der damaligen Zeit hatten. Für Hirsch gibt es also keine zeitlosen theologischen Wahrheiten. Auch theologische Wahrheiten sind immer zeitgebunden.

    Das liegt schon daran, dass eine 500 Jahre alte Aussage in einem modernen Zusammenhang eine komplett neue Bedeutung bekommt. Schon von daher ist es unmöglich, alte Bekenntnisformeln in die Gegenwart zu übernehmen.

    Aus diesem Grund ist für Hirsch der Zweifel in der Theologie ein notwendiges Werkzeug, das der Erkenntnis dient. Erst der Zweifel ermöglicht es, die christliche Botschaft den Ansprüchen der Gegenwart zu vermitteln.

    Zu diesem Zweck muss man auch bereit sein, zwischen den Stellen des Evangeliums zu unterscheiden, die rein historisch und überlieferungsbedingt sind und jenen, die uns auch heute noch etwas zu sagen haben.

    "Es ist notwendig, den Umgang mit der Bibel in eine rücksichtslos fragende Wahrhaftigkeit zu überführen. Wir nehmen daher die Bibel nicht als Wahrheit Gottes, sondern als Buch, in dem sichtbar wird, wie menschliches Leben sich zu Gott verhält."

    Bis zu diesem Punkt hat Hirsch die Grundlagen für eine moderne und reflektierte Theologie gelegt. Hirsch folgt dabei einen humanen Ansatz, bei dem Theologie und Religion immer vor dem Hintergrund ihrer Zeit und Kultur zu denken ist.

    Doch genau dieser Zeitbezug macht Emmanuel Hirschs Denken auch anfällig für den Zeitgeist. Und so kommt es, dass er ausgerechnet im Nationalsozialismus ein Werkzeug der Vorsehung erblickt.

    Weiter zu Teil 2 des Beitrags über Emanuel Hirsch