"Es ist nicht gleichgültig für den Neubau unseres Volkes und Staates, was aus der evangelischen Kirche wird. Die überholten politischen Parteien haben es sich leisten können, die Kirche als ihr bloßes Objekt zu behandeln. Der Nationalsozialismus weiß, dass aller Neubau eine innere Verwandlung des deutschen Menschen voraussetzt."
Schreibt Emanuel Hirsch im Mai 1933. Hirsch ist zu diesem Zeitpunkt Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen. Seit 1921 lehrt er an der damals preußischen Hochschule.
Im selben Jahr erhielt ein weiterer Theologe einen Ruf als Honorarprofessor nach Göttingen: Hirschs großer Widersacher, der calvinistische Theologe und zukünftige Wortführer der so genannten Dialektischen Theologie, der Schweizer Karl Barth.
In den ersten Göttinger Jahren ist das Verhältnis von Hirsch und Barth noch von einem intensiven Austausch geprägt. Doch bald werden die theologischen und auch politischen Gegensätze unüberbrückbar.
Hirsch ist ein entschiedener Deutschnationaler, was dem Schweizer Barth, der zudem religiös-sozialistischen Ideen nahe steht, fremd ist. Der damalige Student und spätere Professor in Göttingen Wolfgang Trillhaas erinnert sich:
"Hirsch war Barths stärkster Gegner. Für Barth selbst wegen seiner überragenden Gelehrsamkeit ein steter Anreiz, seine eigene wissenschaftliche Leistung zu steigern. Hirsch hat wahrscheinlich das Verdienst, dass sich Barth nicht in Prophetie oder falscher Erbaulichkeit verlor."
Karl Barth möchte mit seiner Theologie zurück zum Wort Gottes. Gültigkeit hat für ihn allein die biblische Offenbarung, weshalb Dietrich Bonhoeffer später spöttisch von einem "Offenbarungspositivismus" sprechen wird.
Allen Erscheinungen menschlicher Kultur - und damit auch der Religion - steht Barth ablehnend gegenüber. Das Göttliche und das Menschliche sind für Barth zwei absolut getrennte, ja radikal sich gegenüberstehende Sphären.
Der inhaltliche Kern von Barths Theologie ist die vollständige Andersartigkeit Gottes. Zwischen Mensch und Gott besteht ein unendlicher qualitativer Unterschied. Religion ist für Barth der eigenmächtige Versuch des Menschen, diesen Qualitätsunterschied zu überspringen und sich so Gott gefügig und verfügbar zu machen.
Historische Forschung oder Psychologie, die für die liberale Theologie vor dem Ersten Weltkrieg so bedeutend waren, weist Barth in aller Schärfe zurück.
Alles Weltliche, Historische und Menschliche ist für Barth Sünde. Daher kann es nicht zum Ausgangspunkt des Glaubens gemacht werden.
Hier widerspricht Emanuel Hirsch. In der Tradition der liberalen Theologie weist er darauf hin, dass es keinen unhistorischen Standpunkt gibt. Der Mensch ist immer Teil seiner Gesellschaft, seiner Kultur und seiner Epoche. Man ist immer ein Kind seiner Zeit, und darauf muss die Religion, muss die Theologie eine Antwort finden.
"Das Weltbild der Bibel ist uns allen durch die Wissenschaft der letzten Jahrhunderte zerstört worden. Paradies, Sündenfall, Jungfrauengeburt, leeres Grab, Himmelfahrt, Wiederkunft Christi, Totenauferweckung… , das sind für das heutige Bewusstsein Mythen und Legenden: Die Wahrheit, die durch sie hindurch sich ankündigen will, ist uns gleichsam von Wolken verhüllt."
Aufgabe der Theologie ist es, diese Wolken beiseitezuschieben.
"Sie kann es nur tun, sofern es ihr gelingt, die Gottes- und Selbsterkenntnis, die der christliche Glaube dem Menschen aufschließen will, aus ihrer unverstandenen Fremdheit zu lösen."
Dabei zeigt sich, dass gerade der Zweifel, der so charakteristisch für den modernen Menschen ist, erst wieder echtes, wahres Christentum möglich macht.
Christentum ist für Hirsch geradezu das Bewusstsein für das göttliche Geheimnis, dafür, dass es eine Leerstelle im Leben gibt, etwas, das sich unserem Verstand und unserer Sprache entzieht.
Das Geheimnisvolle, Unaussprechliche zeigt sich jedoch nicht nur im Verhältnis des Einzelnen zu Gott, sondern auch zwischen den Menschen. Erst das Geheimnisvolle und Unaussprechliche bringt, so Hirsch, den europäischen Gedanken von Freiheit und Individualismus hervor.
"Das persönliche Geheimnis des Gottesverhältnisses gehört zu dem, was den Menschen als Menschen konstituiert. Wir muten es dem Menschen an, hier ein Einzelner zu sein, der auf eigene Verantwortung lebt, und verachten den, der sich dem entzieht."
Angesichts der zentralen Stellung, die Zweifel, Individualismus und Freiheit in Hirschs Denken haben, überrascht sein beständiges und unbeirrbares Eintreten für den Nationalsozialismus. Das wird noch dadurch verstärkt, dass es genau diese Begriffe sind, die für ihn die Rechtfertigung nationalsozialistischer Ideologie liefern.
Um diesen, aus heutiger Sicht, schwer nachvollziehbaren Zusammenhang zu verstehen, muss man daran erinnern, dass sowohl Hirschs Theologie als auch sein politisches Denken in einer Theorie der Moderne wurzeln.
Kennzeichnend für die Moderne ist, so Hirsch, eine in der Vernunft gründende wissenschaftliche Weltauffassung und die emanzipatorische Kraft der Freiheit. Hinter diese beiden Errungenschaften der Aufklärung könne man nicht mehr zurückgehen.
"Es ist unmöglich, auf diese Jahrhunderte mit einem einfachen Nein der Verachtung herabzusehen. Großes, das niemand von uns missen möchte, ist in ihnen geschaffen worden. Die ganze Weltstellung unserer euroamerikanischen Kultur ist durch die von ihnen vollbrachten Leistungen errungen."
Durch die Geschichtsmacht des Zweifels, den die Aufklärung in die Welt gebracht hat, sind jedoch aus Hirschs Sicht zwei gefährliche Geisteshaltungen erwachsen: der Nihilismus in Gestalt des Liberalismus und der Totalitarismus in Gestalt des Bolschewismus.
Der Liberalismus ist für Hirsch Ausdruck der Kapitulation vor der scheinbaren Beliebigkeit aller Werte und Normen angesichts der wissenschaftlichen Weltauffassung.
Der Bolschewismus hingegen versucht, so Hirsch, die moralische Leere, die die Aufklärung hinterlassen hat, mit wissenschaftlichen und daher totalitären Methoden zu füllen.
"Im Bolschewismus hat das objektive technische Wissen, den Geist und die Freiheit und damit den Menschen verschlungen. Und diese ganze Wirklichkeit ist getragen von dem Bewusstsein, die wissenschaftlich vollkommene Organisation der Gesellschaft eingeführt zu haben."
Hirsch sieht nun bizarrerweise gerade im Nationalsozialismus den Verbündeten, mit dem zusammen das Christentum Stellung gegen den liberalen Relativismus ebenso wie gegen den bolschewistischen Totalitarismus beziehen kann.
Die nationalsozialistische Weltanschauung soll nach Hirsch garantieren, dass die der Vernunft nicht zugängliche Leerstelle menschlicher Existenz, das Geheimnis des persönlichen Gottesverhältnisses und Bedingung unseres Gewissens, vor ihren ärgsten Feinden, Liberalismus und Bolschewismus, bewahrt wird.
In grober Fehlinterpretation der tatsächlichen Ideologie sieht Hirsch im Nationalsozialismus den Hüter des Humanismus, der zentrale Werte der Aufklärung wie Individualismus, Gewissen und Zweifel sowohl gegen ihre liberalistische Radikalisierung als auch gegen ihre totalitären Gegner verteidigt.
Dabei sind der verlorene Weltkrieg und das politische Chaos der 20er-Jahre für Hirsch Indizien der Auserwähltheit des deutschen Volkes. In dem Untergang der sicheren und geborgenen Welt des Kaiserreiches und dem Verlust aller bisherigen Werte offenbart sich der verborgene Gott und mahnt an die heilige Bindung, die Volk und Nation darstellen.
"Menschliches Leben kann nur da menschlich sein, wo es die heilige Bindung ehrt und vollzieht, in der es Gott gestiftet hat. Und wo wir heute von Blut und Boden, von Rasse und Vererbung, von Opfer und Pflicht reden, da reden wir von ihr."
Und Hirsch geht noch weiter: Da die christliche Botschaft im Zeitalter des Zweifels für viele Menschen unwiederbringlich verloren ist, sind Begriffe wie Volksgemeinschaft und Kameradschaft für ihn durchaus legitime Ersatzformeln für ein überholtes christliches Vokabular.
An diesem Punkt zeigt sich die Widersprüchlichkeit in Hirschs Denken in konzentrierter Form: Als nüchterner, rationaler Wissenschaftler weiß er, dass es kein Zurück hinter die Moderne gibt. Doch der deutschnationale Konservative in ihm sucht nach einem Ausweg, um die Folgen der Modernisierung abzumildern. Dazu der amerikanische Historiker Robert P. Ericksen:
"Hirsch begrüßte das wissenschaftliche, rationale Erbe der Aufklärung mit Begeisterung als die selbstverständliche Position für den modernen Menschen. Das heißt, er unterstrich den intellektuellen Modernismus, während er sich gleichzeitig gegen den politischen, sozialen und kulturellen Modernismus wandte."
Die Tragik des Intellektuellen Hirsch liegt darin, dass er die wesentlichen Elemente der modernen Kultur klar und präzise benannt hat, jedoch im Nationalsozialismus fälschlicherweise einen Verbündeten im Kampf für einen moderaten Modernismus sah.
Um der Entnazifizierung zu entgehen, tritt Hirsch 1945 von seiner Göttinger Professur zurü. Auch weil er dadurch seine Pensionsansprüche einbüßt, schreibt er in der Folge eine Reihe von Romanen und Erzählungen.
Vor allem aber widmet er sich dem großen Projekt einer Geschichte der neueren evangelischen Theologie. Der letzte Band des monumentalen und wissenschaftlich herausragenden Werkes erscheint 1954.
Emanuel Hirsch stirbt 84-jährig am 14. Juli 1972 in Göttingen. Nachdenklich mahnt der amerikanische Historiker Robert P. Ericksen:
"Kann ein intelligenter Mensch sichergehen, dass es ihm gelingen wird, eine Wiederholung von Hirschs Irrtum zu vermeiden? In einer zunehmend komplexen Welt könnte der Druck der Moderne sich in einer ähnlichen Intensität bemerkbar machen, wie dies in der Weimarer Republik geschah, und es wäre schön, dann aus Hirschs Fehlern lernen zu können."
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Emanuel Hirsch - brillanter Theologe und prominenter Nationalsozialist - Teil 1
Schreibt Emanuel Hirsch im Mai 1933. Hirsch ist zu diesem Zeitpunkt Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen. Seit 1921 lehrt er an der damals preußischen Hochschule.
Im selben Jahr erhielt ein weiterer Theologe einen Ruf als Honorarprofessor nach Göttingen: Hirschs großer Widersacher, der calvinistische Theologe und zukünftige Wortführer der so genannten Dialektischen Theologie, der Schweizer Karl Barth.
In den ersten Göttinger Jahren ist das Verhältnis von Hirsch und Barth noch von einem intensiven Austausch geprägt. Doch bald werden die theologischen und auch politischen Gegensätze unüberbrückbar.
Hirsch ist ein entschiedener Deutschnationaler, was dem Schweizer Barth, der zudem religiös-sozialistischen Ideen nahe steht, fremd ist. Der damalige Student und spätere Professor in Göttingen Wolfgang Trillhaas erinnert sich:
"Hirsch war Barths stärkster Gegner. Für Barth selbst wegen seiner überragenden Gelehrsamkeit ein steter Anreiz, seine eigene wissenschaftliche Leistung zu steigern. Hirsch hat wahrscheinlich das Verdienst, dass sich Barth nicht in Prophetie oder falscher Erbaulichkeit verlor."
Karl Barth möchte mit seiner Theologie zurück zum Wort Gottes. Gültigkeit hat für ihn allein die biblische Offenbarung, weshalb Dietrich Bonhoeffer später spöttisch von einem "Offenbarungspositivismus" sprechen wird.
Allen Erscheinungen menschlicher Kultur - und damit auch der Religion - steht Barth ablehnend gegenüber. Das Göttliche und das Menschliche sind für Barth zwei absolut getrennte, ja radikal sich gegenüberstehende Sphären.
Der inhaltliche Kern von Barths Theologie ist die vollständige Andersartigkeit Gottes. Zwischen Mensch und Gott besteht ein unendlicher qualitativer Unterschied. Religion ist für Barth der eigenmächtige Versuch des Menschen, diesen Qualitätsunterschied zu überspringen und sich so Gott gefügig und verfügbar zu machen.
Historische Forschung oder Psychologie, die für die liberale Theologie vor dem Ersten Weltkrieg so bedeutend waren, weist Barth in aller Schärfe zurück.
Alles Weltliche, Historische und Menschliche ist für Barth Sünde. Daher kann es nicht zum Ausgangspunkt des Glaubens gemacht werden.
Hier widerspricht Emanuel Hirsch. In der Tradition der liberalen Theologie weist er darauf hin, dass es keinen unhistorischen Standpunkt gibt. Der Mensch ist immer Teil seiner Gesellschaft, seiner Kultur und seiner Epoche. Man ist immer ein Kind seiner Zeit, und darauf muss die Religion, muss die Theologie eine Antwort finden.
"Das Weltbild der Bibel ist uns allen durch die Wissenschaft der letzten Jahrhunderte zerstört worden. Paradies, Sündenfall, Jungfrauengeburt, leeres Grab, Himmelfahrt, Wiederkunft Christi, Totenauferweckung… , das sind für das heutige Bewusstsein Mythen und Legenden: Die Wahrheit, die durch sie hindurch sich ankündigen will, ist uns gleichsam von Wolken verhüllt."
Aufgabe der Theologie ist es, diese Wolken beiseitezuschieben.
"Sie kann es nur tun, sofern es ihr gelingt, die Gottes- und Selbsterkenntnis, die der christliche Glaube dem Menschen aufschließen will, aus ihrer unverstandenen Fremdheit zu lösen."
Dabei zeigt sich, dass gerade der Zweifel, der so charakteristisch für den modernen Menschen ist, erst wieder echtes, wahres Christentum möglich macht.
Christentum ist für Hirsch geradezu das Bewusstsein für das göttliche Geheimnis, dafür, dass es eine Leerstelle im Leben gibt, etwas, das sich unserem Verstand und unserer Sprache entzieht.
Das Geheimnisvolle, Unaussprechliche zeigt sich jedoch nicht nur im Verhältnis des Einzelnen zu Gott, sondern auch zwischen den Menschen. Erst das Geheimnisvolle und Unaussprechliche bringt, so Hirsch, den europäischen Gedanken von Freiheit und Individualismus hervor.
"Das persönliche Geheimnis des Gottesverhältnisses gehört zu dem, was den Menschen als Menschen konstituiert. Wir muten es dem Menschen an, hier ein Einzelner zu sein, der auf eigene Verantwortung lebt, und verachten den, der sich dem entzieht."
Angesichts der zentralen Stellung, die Zweifel, Individualismus und Freiheit in Hirschs Denken haben, überrascht sein beständiges und unbeirrbares Eintreten für den Nationalsozialismus. Das wird noch dadurch verstärkt, dass es genau diese Begriffe sind, die für ihn die Rechtfertigung nationalsozialistischer Ideologie liefern.
Um diesen, aus heutiger Sicht, schwer nachvollziehbaren Zusammenhang zu verstehen, muss man daran erinnern, dass sowohl Hirschs Theologie als auch sein politisches Denken in einer Theorie der Moderne wurzeln.
Kennzeichnend für die Moderne ist, so Hirsch, eine in der Vernunft gründende wissenschaftliche Weltauffassung und die emanzipatorische Kraft der Freiheit. Hinter diese beiden Errungenschaften der Aufklärung könne man nicht mehr zurückgehen.
"Es ist unmöglich, auf diese Jahrhunderte mit einem einfachen Nein der Verachtung herabzusehen. Großes, das niemand von uns missen möchte, ist in ihnen geschaffen worden. Die ganze Weltstellung unserer euroamerikanischen Kultur ist durch die von ihnen vollbrachten Leistungen errungen."
Durch die Geschichtsmacht des Zweifels, den die Aufklärung in die Welt gebracht hat, sind jedoch aus Hirschs Sicht zwei gefährliche Geisteshaltungen erwachsen: der Nihilismus in Gestalt des Liberalismus und der Totalitarismus in Gestalt des Bolschewismus.
Der Liberalismus ist für Hirsch Ausdruck der Kapitulation vor der scheinbaren Beliebigkeit aller Werte und Normen angesichts der wissenschaftlichen Weltauffassung.
Der Bolschewismus hingegen versucht, so Hirsch, die moralische Leere, die die Aufklärung hinterlassen hat, mit wissenschaftlichen und daher totalitären Methoden zu füllen.
"Im Bolschewismus hat das objektive technische Wissen, den Geist und die Freiheit und damit den Menschen verschlungen. Und diese ganze Wirklichkeit ist getragen von dem Bewusstsein, die wissenschaftlich vollkommene Organisation der Gesellschaft eingeführt zu haben."
Hirsch sieht nun bizarrerweise gerade im Nationalsozialismus den Verbündeten, mit dem zusammen das Christentum Stellung gegen den liberalen Relativismus ebenso wie gegen den bolschewistischen Totalitarismus beziehen kann.
Die nationalsozialistische Weltanschauung soll nach Hirsch garantieren, dass die der Vernunft nicht zugängliche Leerstelle menschlicher Existenz, das Geheimnis des persönlichen Gottesverhältnisses und Bedingung unseres Gewissens, vor ihren ärgsten Feinden, Liberalismus und Bolschewismus, bewahrt wird.
In grober Fehlinterpretation der tatsächlichen Ideologie sieht Hirsch im Nationalsozialismus den Hüter des Humanismus, der zentrale Werte der Aufklärung wie Individualismus, Gewissen und Zweifel sowohl gegen ihre liberalistische Radikalisierung als auch gegen ihre totalitären Gegner verteidigt.
Dabei sind der verlorene Weltkrieg und das politische Chaos der 20er-Jahre für Hirsch Indizien der Auserwähltheit des deutschen Volkes. In dem Untergang der sicheren und geborgenen Welt des Kaiserreiches und dem Verlust aller bisherigen Werte offenbart sich der verborgene Gott und mahnt an die heilige Bindung, die Volk und Nation darstellen.
"Menschliches Leben kann nur da menschlich sein, wo es die heilige Bindung ehrt und vollzieht, in der es Gott gestiftet hat. Und wo wir heute von Blut und Boden, von Rasse und Vererbung, von Opfer und Pflicht reden, da reden wir von ihr."
Und Hirsch geht noch weiter: Da die christliche Botschaft im Zeitalter des Zweifels für viele Menschen unwiederbringlich verloren ist, sind Begriffe wie Volksgemeinschaft und Kameradschaft für ihn durchaus legitime Ersatzformeln für ein überholtes christliches Vokabular.
An diesem Punkt zeigt sich die Widersprüchlichkeit in Hirschs Denken in konzentrierter Form: Als nüchterner, rationaler Wissenschaftler weiß er, dass es kein Zurück hinter die Moderne gibt. Doch der deutschnationale Konservative in ihm sucht nach einem Ausweg, um die Folgen der Modernisierung abzumildern. Dazu der amerikanische Historiker Robert P. Ericksen:
"Hirsch begrüßte das wissenschaftliche, rationale Erbe der Aufklärung mit Begeisterung als die selbstverständliche Position für den modernen Menschen. Das heißt, er unterstrich den intellektuellen Modernismus, während er sich gleichzeitig gegen den politischen, sozialen und kulturellen Modernismus wandte."
Die Tragik des Intellektuellen Hirsch liegt darin, dass er die wesentlichen Elemente der modernen Kultur klar und präzise benannt hat, jedoch im Nationalsozialismus fälschlicherweise einen Verbündeten im Kampf für einen moderaten Modernismus sah.
Um der Entnazifizierung zu entgehen, tritt Hirsch 1945 von seiner Göttinger Professur zurü. Auch weil er dadurch seine Pensionsansprüche einbüßt, schreibt er in der Folge eine Reihe von Romanen und Erzählungen.
Vor allem aber widmet er sich dem großen Projekt einer Geschichte der neueren evangelischen Theologie. Der letzte Band des monumentalen und wissenschaftlich herausragenden Werkes erscheint 1954.
Emanuel Hirsch stirbt 84-jährig am 14. Juli 1972 in Göttingen. Nachdenklich mahnt der amerikanische Historiker Robert P. Ericksen:
"Kann ein intelligenter Mensch sichergehen, dass es ihm gelingen wird, eine Wiederholung von Hirschs Irrtum zu vermeiden? In einer zunehmend komplexen Welt könnte der Druck der Moderne sich in einer ähnlichen Intensität bemerkbar machen, wie dies in der Weimarer Republik geschah, und es wäre schön, dann aus Hirschs Fehlern lernen zu können."
Emanuel Hirsch - brillanter Theologe und prominenter Nationalsozialist - Teil 1