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Ein Ratgeber ohne kalte Sachlichkeit

Lars Gustafsson ist ein Allround-Genie mit rastloser Lust am Kreativen. Seit 2006 ist er nun auch Co-Autor. Mit seiner Frau Agneta Blomkvist hat er bereits zwei Bücher geschrieben, eines davon ist nichts weniger als ein "Handbuch für das Leben", wie es im Untertitel heißt.

Von Carola Wiemers |
    Lars Gustafsson und Agneta Blomkvist waren gerade zu Gast auf der Frankfurter Buchmesse und stellten das soeben ins Deutsche übersetzte Buch "Herr Gustafssons familjebok" vor, das 2006 erschien. Carola Wiemers traf sich mit ihnen am Messestand des Carl Hanser Verlages.

    In der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur entstanden berühmte Haus- und Familienbücher. Es waren aufwendig illustrierte, inhaltsreiche Kompendien wie etwa das "Wolfsegger Hausbuch" oder das "Hausbuch des Würzburger Klerikers Michael de Leone". Im skandinavischen Sprachraum wurde 1876 mit dem "Nordisk familjebok" begonnen. In fünf Jahrzehnten erwuchs daraus eine Universalenzyklopädie in 38 Bänden, die - vergleichbar mit dem deutschen Brockhaus - das umfangreichste Nachschlagewerk Skandinaviens darstellt.

    An diese Tradition knüpfen Lars Gustafsson und seine Frau Agneta Blomqvist mit ihrem Buch "Herr Gustafssons familjebok" an, das im Untertitel als "Realencyklopädie & konversationslexikon" bezeichnet wird und 2006 im Stockholmer Atlantis Verlag erschien.

    In der deutschen Übersetzung trägt es den stark veränderten und nicht gerade bescheidenen Titel "Alles, was man braucht. Ein Handbuch für das Leben". Es war Agneta Blomqvists Idee, wie in einem Gespräch mit dem schwedischen Autorenpaar zu erfahren war. In Zeiten des E-Books sollte das Buch als "manuale", das auch eine haptische Wirkung besitzt, gestärkt werden. Denn längst ist auch das "Nordisk familjebok" als digitalisierte Version verfügbar. Gustafsson/Blomqvist:

    "Wenn man also im Netz bei Google aufschlägt, findet man ungefähr zehn Bücher mit dem Titel "Alles, was man braucht". Wirklich?
    Ja, ja und die meisten sind Handbücher, technische Handbücher.
    Die großen Enzyklopädien haben jetzt aus natürlichen Gründen Schwierigkeiten. Wenige Leute kaufen diese Bücherschrankfüller, weil es leichter auf dem Netz geht. Und dies ist wohl ein bisschen Protest gegen diese Tendenz. Ja, das kann man sagen. Ein wenig ironischer Ton."

    Zwischen A wie "Abraxas" und Z wie "Zwillingschaft und andere Liebe" entfalten Gustafsson/Blomqvist ein faszinierendes Spektrum von Begriffen, Beobachtungen, Sprachbildern und Reflexionen. Angenehm überrascht ist man vom Ton, da weder mit kalter Sachlichkeit noch klug unterweisend gesprochen wird. Die Individualperspektive bestimmt das Erzählen. Mit rhetorischer Eleganz wird der Leser in die Vertrautheit eines Zwiegesprächs versetzt. Nicht selten endet ein solches Gespräch mit einer Frage und bleibt somit offen für weitere Denkansätze.

    Aus Gründen symbiotischer Autorschaft verzichteten Gustafsson/Blomqvist darauf anzugeben, wer die jeweiligen Artikel geschrieben hat. Manchmal legt die Grammatik eine verräterische Spur. Zumal sich das Buch durch die Übersetzung stark verändert hat. Gustafsson/Blomqvist:

    "Also die Übersetzung macht die Texte auch ein wenig ähnlich. Dies, was man Sprachduktus nennt. Das ist ganz interessant. Es variiert mehr auf schwedisch.

    Vielleicht bin ich ein wenig mehr persönlich als Lars in meinen Artikeln. Ich weiß nicht, weil es ein Weib ist oder warum. Aber so ist es.

    Das deutsche Vokabular hat zu einer kompletten Umordnung geführt Das Alphabet hat gedacht. In der schwedischen Ausgabe endet es mit dem Wort "ö".

    Aber hier haben wir also ein Happyend bekommen: "Zwillingschaft und andere Liebe". Das Buch endet mit folgenden Zeilen:

    'Wenn Liebe eine Du-Beziehung ist und also aus einer Dritte-Person-Perspektive nicht existieren kann, befindet sie sich genau auf die Weise außerhalb von Zeit und Raum. Sie existiert in der Eigenschaft, in der sie existiert, und nichts wird ihr unendliches Licht jenseits der Dinge stören.'"

    So wandelt der Leser vergnügt und gespannt auf die nächste Entdeckung zwischen Goethes "Farbenlehre" und der "Erinnerung an eine Wolke" umher. Lässt sich anhand der Gemälde Caspar David Friedrichs und William Turners in einen Disput über die Moderne verwickeln, wobei sich ganz nebenbei die Frage ergibt, inwieweit das Auge am Entstehen literarischer Texte beteiligt ist. Schließlich lüften die Autoren sogar das Geheimnis skandinavischer Fischkunde: Die Konservierungsarten von Fisch sind nämlich lediglich der Versuch, "einen Fisch, der eigentlich eine Abstraktion ist, interessant zu machen".
    Durch das deutsche Alphabet ist auch eine Abfolge wie "Absurdität" und "Ahorn" neu entstanden. Scheinbar ganz ohne das Zutun der Autoren treten die Wörter in einen überraschenden Dialog. Die einmal auserwählten Begriffe bekommen ein Eigenleben und es entsteht das Wunder angewandter Metaphysik. Denn während unter "Absurdität" die radikale Frage gestellt wird, ob unsere gesamte Existenz nicht eine große Absurdität sei, bekommt man unter "Ahorn" den therapeutischen Ratschlag, sich einfach unter einen Ahornbaum zu legen, um zu verstehen, was Existenz tatsächlich bedeutet. Beim Blick in die dichte Baumkrone wird man von einem Schwindel erfasst und oben und unten geraten durcheinander. Natürlich argumentiert der Dichter und Philosoph Lars Gustafsson auch in eigener Sache. Seine Reflexionen über das Schreiben geben dem Handbuch eine poetologische Dimension, die über das eigene literarische Werk hinausweist. Gustafsson:

    "Ich traf neulich Torgny Lindgren auf der Buchmesse Göteborg und wir diskutierten natürlich den Beruf. Er war so vergnügt damit Romanschriftsteller zu sein und ich sagte: mein Beruf ist Poet! Ich habe keinen anderen Beruf. Aber um als Poet überleben zu können, musste ich ein paar andere Aktivitäten ausüben. Also Philosophieprofessor, was sich viel besser bezahlt als Poesie.

    Die Poesie ist vollkommen zentral in meiner verbalen Aktivität. Ja, ich setze fort. Ich bin wie ein alter Vulkan in einem stillen Meer, wo es plötzlich Ausbrüche bekommt von Poesie."

    Und während Lars Gustafsson sich an Tomas Tranströmers und Vladimir Nabokovs Leidenschaft für Schmetterlinge erinnert und sich fragt, was einen Dichter dazu treibt, Schmetterlinge zu fangen, verwandelt sich der Flügelschlag des Insekts in eine Metapher. Die Schmetterlingsjagd des Poeten gleicht darin dem Akt des Schreibens, wobei Lyrik und Prosa in eine geheimnisvolle Beziehung treten. Gustafsson:

    "Dann ist es mir natürlich passiert, dass Romane aus Gedichten entstanden sind. Das kommt ziemlich oft vor. Eine Zeile irgendwo.

    Einige Gedichtzeilen sind wie mathematische Theoreme, aus denen sehr viel abzuleiten ist. Man redet ja in der Mathematik von Stärken, Stärkentheoreme oder Stärken, die sehr konsequenzreich sind. Und es gibt Paralleles in Gedichtzeilen, die stark sind."

    Dieses Handbuch will keine Lebensweisheiten verkünden - es lebt von der Kunst der Verführung. Die Lust am Erinnern bestimmt die Reflexivität der Texte. Alles, was man braucht, um an diesem Ideenrausch und Sprachgenuss teilzuhaben, ist etwas Zeit.
    Nach zwei gemeinsamen Büchern - 2008 erschien "Fru Blomqvists matbok" -, haben Agneta Blomqvist und Lars Gustafsson bereits ein neues Buch-Projekt begonnen. Gustafsson/Blomqvist:

    "Wir werden über Schweden schreiben, ganz persönlich, geografisch, kulturell und Erinnerungen und so was. Wir lieben beide die schwedische Landschaft wirklich. Lars hat so schöne Gedichte darüber geschrieben und ich bin immer in meinen Wäldern."

    Autorin
    Denn, soviel sei schon verraten, wenn man einen Nagel in Malmö setzt und Schweden um die eigene Achse schwenkt, landet man plötzlich in den Kanarischen Inseln.

    Lars Gustafsson/Agneta Blomqvist: Alles, was man braucht. Ein Handbuch für das Leben. Carl Hanser Verlag München 2010. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. 319 Seiten, 21,50 Euro.