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Ein Roman als Philosophie

Pascal Merciers Buch beginnt mit einer wahrhaft "unerhörten Begebenheit". Gregorius, 57 Jahre alt, geschieden, ist Griechisch-, Latein- und Hebräischlehrer, wird von allen nur "Mundus" gerufen, weil er diese alte Welt vollständig im Kopf hat, weil er diese alte Welt ist, seit 30 Jahren ist er an einem Berner Gymnasium, ohne jeden Fehl und Tadel, ein Lehrer alten Schlags. "Der verläßlichste und berechenbarste Mensch im Gymnasium", wie er von sich sagt, "und wohl auch der langweiligste", so fügt er hinzu. Eines Tages passiert das Unerhörte: Auf dem Weg zur Schule begegnet Mundus einer Portugiesin, mitten im Regen auf einer Brücke, sie haucht ihm das Wort "Portugues" zu, schreibt eine Telefonnummer auf seine Stirn und verschwindet. Ein Schlag. Mundus ist klar, dass er nicht zur Schule gehen kann, dass er nicht wie gewohnt weitermachen kann, dass er etwas ändern muss in seinem Leben. Dass er es schon lange tun wollte. Er hat nur auf diesen Augenblick, diesen Anlaß gewartet. Ein Zufall? Pascal Mercier:

Von Oliver Seppelfricke |
    Es ist natürlich Zufall, dass die Frau dort auf der Brücke steht. Aber es ist kein Zufall, dass er darauf so reagiert, wie er es tut. Er ist ein Mann, dessen Seele, wenn Sie so wollen, ganz aus Wörtern besteht und aus Worten. Und er ist deswegen jemand, der durch ein einziges Wort, dieses portugiesische Wort "Portugues" dazu gebracht werden kann, etwas zu tun, was natürlich schon lange in ihm bereit liegt. Insofern: Das Äußere ist Zufall, das Innere ist nicht zufällig.
    Mundus lässt alles stehen und liegen und geht mitten im Unterricht hinaus. Auf einmal macht er alles anders. Er geht ins noble Bellevue-Hotel, in das er sich nie traute, kauft ein Buch in Portugiesisch, einer Sprache, die er wie das Spanische auch nur verachtet hat, und liest die Zeilen eines unbekannten Autors namens Prado. Die lauten: "Von den tausend Erfahrungen, die wir machen, bringen wir höchstens eine zur Sprache. Unter all den stummen Erfahrungen sind diejenigen verborgen, die unserem Leben unbemerkt seine Form, seine Färbung und seine Melodie geben." Mundus ist fasziniert. Von der Einfachheit und Eleganz der Worte, von ihrer Bedeutung, von ihrer abgrundtiefen Weisheit. Er macht sich auf, den unbekannten Autor dieser Zeilen zu finden. Er fährt nach Lissabon. Eine freie Entscheidung? Pascal Mercier:

    Man kann von einer Freiheit immer dann sprechen, wenn, was einer will, zu dem paßt, wie er urteilt. Man kann von keiner Freiheit sprechen, die bedeuten würde, dass, was einer tut und will und fühlt keine Vorgeschichte hat. Wie alles, was wir tun, wollen und fühlen, eine Vorgeschichte hat. Aber diese Tatsache kollidiert nicht mit dem Freiheitserleben.

    "Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist, was geschieht dann mit dem Rest?" So geht der Text des unbekannten Dichters weiter. Und Mundus macht sich auf, diesen Rest, diese "tausend Erfahrungen", die unser Leben sind, zu heben. Sie zu hören, sich ihnen zu nähern. Er sucht den Schriftsteller. Und erkennt bald, dass er eigentlich sich selbst sucht. Er erinnert sich an den Rat seines geliebten Marc Aurel: "Diejenigen, die die Regungen der eigenen Seele nicht aufmerksam verfolgen, sind zwangsläufig unglücklich. Ein Leben nur, ein einzelnes, hat jeder." Gregorius-Mundus beherzigt diesen Rat und ihm scheint, als sei er noch nie so lebendig gewesen wie eben jetzt im Moment seiner Flucht. "Die Dramatik einer lebensbestimmenden Erfahrung ist oft von unglaublich leiser Art. Oftmals bemerkt man sie gar nicht", heißt es weiter beim Autor Prado. Der in vielem an den Autor Pessoa erinnert. Pascal Mercier:

    In gewissem Sinn. Er kommt ja im Roman selber nur zwei Mal ganz kurz vor. Es gibt ja keine direkte Linie vom "Buch der Unruhe" oder anderen Dingen von Pessoa zu diesem Buch. Aber das Buch hätte nicht die Atmosphäre, die es hat, wenn ich nicht seit Jahren habitueller Pessoa-Leser wäre. Also in dem Sinne ist er ein Pate für das Buch, das stimmt.

    "Ist es nicht so, dass nicht die Menschen sich begegnen, sondern die Schatten, die ihre Vorstellungen werfen?" Biegt nicht die Vorstellungskraft, die Abneigung, die Vorliebe, den anderen Menschen so zurecht, wie wir ihn sehen wollen? "Wir Menschen, was wissen wir voneinander?" schreibt der Dichter Prado, und wir Leser ergänzen: Was wissen wir von uns selbst? Gregorius-Mundus ist klar, dass er sich selbst kennenlernt, indem er Prado sucht. Kann eine solche Suche und ein solches Finden an ein Ende kommen? Wohl kaum.

    Pascal Merciers Buch stellt diese Fragen und beantwortet sie. Für Mercier, der im Hauptberuf Philosophieprofessor ist (und Peter Bieri heißt), ist Schreiben das Ausprobieren von Möglichkeiten. Schon in seinen beiden vorhergehenden Romanen war das so.

    Es ist so gewesen, dass ich eines Tages gemerkt habe, dass nur, wenn ich diese Figur schaffe, um dann in sie hineingehen und aus ihr heraus sprechen zu können, ich all diese Dinge über die großen, wenn Sie so wollen, philosophischen Themen - Tod, Einsamkeit, Enttäuschung usw. – sagen kann. Dinge, die ich als gewöhnlich Sterblicher nicht mich trauen würde zu sagen. Es war wie eine innere Maske, die mir ermöglicht hat, solche Sätze zu schreiben. Das ist eine Sache. Sonst ist das Schreiben die Art, am meisten bei mir selber zu sein. Also Glück. Verglichen mit der Art der Intimität mit mir selber, die es während des Schreibens gibt, ist alles andere nur langweilig und banal. Selbst wenn es im Actionsinn des Wortes aufregend in der Welt ist, es ist einfach nur langweilig.

    Pascal Mercier alias Peter Bieri hat einen Roman geschrieben, der zu den aufregendsten seit Jahren gehört. Er ist wunderbar leichtfüßig geschrieben, behandelt die großen "ewigen" Themen der Menschheit wie die Freiheit des Willens (dem Peter Bieri vor drei Jahren sein weithin beachtetes Sachbuch gewidmet hat), oder auch die Frage nach der Möglichkeit, sich selbst zu erkennen. Er fragt nach den Grenzen der Selbst- und Fremderkenntnis, nach ihrem Gelingen und nach ihrem Scheitern. Es ist eine Art philosophische Prosa, wenn man das so nennen will, oder auch: ein Roman als Philosophie. Zwei Bücher also in einem:

    Ein philosophischer Text ist ein Text, in dem Gedanken inszeniert werden. Ein Romantext ist ein Text, in dem Figuren inszeniert werden. Und was in diesem Buch geschieht, ist, dass Gedanken in Figuren inszeniert werden. Deshalb hat dieser Roman diesen doppelten Charakter. Dass er auf der einen Seite ein richtiger Roman ist, und dass er auf der anderen Seite die Dimension des Gedankenabenteuers hat. Das habe ich versucht, zusammenzubringen.

    Pascal Mercier weiß, wovon er schreibt. Er hat nicht nur Philosophie und die alten Sprachen studiert, er hat auch den Forschungsschwerpunkt "Kognition und Gehirn" bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft mitbegründet. Sein Roman ist ein "Gedankenabenteuer" der besonderen Art. Die in diesem Land leider viel zu selten vorkommen. Aus einem schlechtem Grund: Es hat keine Tradition. Den Philosophieprofessor Bieri (der ja schon zwei weitere Romane veröffentlicht hatte) trifft immer noch die Skepsis (und vielleicht auch der Neid) der Fachkollegen. Ein Philosophieprofessor als Romancier? – das geht doch nicht in Deutschland...

    Es ist immer noch so. Es gibt diejenigen, die sich dazu äußern, tun es freundlich und mit Interesse und sogar mit einer gewissen Bewunderung. Das ist aber der kleine Teil. Der große Teil sagt einfach nichts, mit anderen Worten, er schweigt es tot. Weil es, ganz anders als in der romanischen Welt, wo das ein Teil eines Intellektuellen ist, als unfein gilt, wenn ein Philosophieprofessor Romane schreibt. Aber das ist das Problem der anderen.