Miss Lonelyhearts, die Briefkastentante des New Yorker "Post-Dispatch" ("Haben Sie Sorgen? Brauchen Sie Rat? Schreiben Sie an Miss Lonelyhearts, und gewiss hilft sie Ihnen"), saß an seinem Tisch und starrte auf ein Stück weißer Pappe. Darauf hatte Shrike, der Feuilletonredakteur, in Druckbuchstaben ein Gebet geschrieben:
Miss L‘s Seele, erleuchte mich
Miss L‘s Leib, nähre mich.
Miss L‘s Blut, berausche mich.
Miss L‘s Tränen, reinigt mich.
O gütige Miss L, vergib mein Flehen
Und birg mich in Deinem Herzen,
Und vor meinen Feinden beschütze mich.
Hilf mir, Miss L, hilf mir, hilf mir.
In saecula saeculorum. Amen.
Anfang der 30er-Jahre, als Nathanael West seinen zweiten Roman zu Papier brachte, war es in den Blättern, die über eine Ratgeberrubrik verfügten, üblich, dass die Kummerkastentante eine Frau war. Wests Miss Lonelyhearts dagegen ist eigentlich ein Kummerkastenonkel, er muss also in eine weibliche Rolle schlüpfen und den Lesern sowie denjenigen, die ihn um Rat angehen - zumeist Frauen - etwas vorspielen.
Aus dieser Position heraus einen ehrlichen Rat zu geben, scheint von vornherein unmöglich. Aber die Misere dieser männlichen Miss Lonelyhearts geht noch weiter, nicht nur, dass man sich in der Redaktion über seine Rolle lustig macht und ihm lästerliche Gebete auf den Schreibtisch legt, er selbst gehört eigentlich zu jenen ratlosen Menschen, die nicht wissen, wie ihnen das Leben spielt.
Er selbst ist überaus hilfsbedürftig und angesichts des konkreten Leids derjenigen, die sich an ihn wenden, auf eine elementare Ebene ratlos. Wenn ihm ein Mädchen ohne Nase schreibt, dass sie gerne Freunde hätte, so zweifelt sie dabei nicht am Sinn des Daseins, wenn ihm ein Junge schreibt, weil seine kleine Schwester vergewaltigt wurde und er sich nicht traut es der Mutter zu sagen, oder eine Frau, weil ihr Mann sie verprügelt, dann stellen sie das Dasein insgesamt noch nicht in Frage.
Miss Lonelyhearts dagegen verzweifelt ganz grundsätzlich an der Beschaffenheit der Welt. Was für ihn die Sache so schlimm macht: Er ist gläubig, oder würde doch zumindest gerne Trost im Glauben finden. Aber nicht nur macht sich Shrike über ihn lustig und belästigt ihn mit absurden Gebeten und geradezu dadaistischen Reden. Er selbst kommt gegen die eigenen Zweifel nicht an:
Vor dem Einschlafen gelobte er, einen ehrlichen Versuch zu unternehmen, demütig zu sein. Als er sich am nächsten Morgen auf den Weg zum Büro machte, erneuerte er sein Gelübde. Zu seinem Glück war Shrike nicht in der Redaktion, sodass seine Demut nicht sogleich auf die Probe gestellt wurde. Er ging direkt zu seinem Tisch und machte sich daran, Briefe zu öffnen. Als er etwa ein Dutzend aufgemacht hatte, wurde ihm schlecht, und er beschloss, seine heutige Kolumne zu schreiben, ohne auch nur einen einzigen zu lesen. Zu streng prüfen wollte er sich nicht.
Dennoch gerät Miss Lonelyhearts immer weiter in einen Strudel, der ihn zielsicher auf den Wahnsinn zutreibt. Der Versuch, mit der gleichmütigen Betty eine Partnerschaft zu führen, wie sie in der ihn umgebenden Welt als normal erachtet wird, schlägt ebenso fehl wie der Hilfe suchende Griff zum Alkohol. Dass er schließlich mit einer Frau, die sich in seiner Funktion als Miss Lonelyhearts an ihn wendet, schläft, und mit ihrem schießwütigen Ehemann versucht, Händchen zu halten, macht die Sache auch nicht besser. Sein Leben ist aus den Fugen geraten, so es überhaupt jemals zusammengefügt war.
An dieser Stelle stellt sich die Frage nach der Form, und hier erweist sich - über den zeitdiagnostischen Röntgenblick und den subtilen Witz hinaus - die eigentliche Größe, das wahre Genie Nathanael Wests. Zwar ist sein Romane inhaltlich so brisant wie unterhaltsam, die Grundidee so brillant wie die dramaturgische Ausführung. Was West aber über etwa thematisch vergleichbare Werke seiner Zeit - Sartres "Ekel" oder Hemingways "Fiesta" - hinaus hebt, ist sein Gespür für die richtige Architektur, die stilistische Gesamtgestaltung.
Sprachlich kommt "Miss Lonelyhearts" denkbar einfach daher, ein lakonischer Zeitungsstil, wie es dem Gegenstand ja angemessen ist. Außergewöhnlich aber ist der Aufbau der einzelnen Kapitel. West selbst spricht das Thema in einer knappen Notiz an, die dieser auch an Anmerkungen reichen Ausgabe beigefügt ist:
Vorgesehener Untertitel: Ein Roman in Form eines Comicstrips. Die Kapitel als Rechtecke, in denen um ein einziges Ereignis herum vieles passiert. Die wörtliche Rede in den üblichen Sprechblasen. Zwar ließ ich diese Idee wieder fallen, aber behielt von der Comicstrip-Technik einiges bei: Jedes Kapitel schreitet zeitlich nicht nur voran, sondern vorwärts, rückwärts, aufwärts und abwärts im Raum wie im Bild. Bilder der Gewalt werden zur Illustration alltäglicher Ereignisse herangezogen. Gewalttaten bleiben fast kahl.
Wie einem guten Comicautor auch genügen Nathanael West einige wenige Striche, um alles, was ihm wichtig ist, deutlich herauszustellen. Vieles würde dabei in einem herkömmlichen Roman grotesk wirken, hier aber hat es seinen Platz, seine eigene Wahrhaftigkeit. So etwa die sechs ausführlich zitierten, ratsuchenden Briefe. Ein Freund hatte sie dem 25-jährigen West gegeben. Sie waren in der Redaktion des Boston Globe aussortiert worden, weil sie zu trübsinnig schienen, um beantwortet zu werden. West hob sie auf und benutzte sie schließlich als Grundlage für seinen Roman.
Vier Jahre brauchte er für dieses gerade einmal 120 Seiten lange Meisterwerk. Dieter E. Zimmers Ausgabe und seine gewohnt tadellose Übersetzung machen nun endlich auch hierzulande verständlich, warum der großen Kritiker Edmund Wilson den Roman als vollendeter und vollkommener ansah, als fast alles andere, was Wests Generation hervorgebracht habe, oder warum ihn Harold Bloom als einziges genuines Zeugnis amerikanischer Kultur im 20. Jahrhundert neben der Musik Charlie Parker gelten ließ. Große Worte all das, aber endlich einmal angemessen.
Nathanael West: "Miss Lonelyhearts". Übersetzt von Dieter E. Zimmer. Manesse Verlag, Zürich 2012. 172 Seiten, 19,95 Euro.
Miss L‘s Seele, erleuchte mich
Miss L‘s Leib, nähre mich.
Miss L‘s Blut, berausche mich.
Miss L‘s Tränen, reinigt mich.
O gütige Miss L, vergib mein Flehen
Und birg mich in Deinem Herzen,
Und vor meinen Feinden beschütze mich.
Hilf mir, Miss L, hilf mir, hilf mir.
In saecula saeculorum. Amen.
Anfang der 30er-Jahre, als Nathanael West seinen zweiten Roman zu Papier brachte, war es in den Blättern, die über eine Ratgeberrubrik verfügten, üblich, dass die Kummerkastentante eine Frau war. Wests Miss Lonelyhearts dagegen ist eigentlich ein Kummerkastenonkel, er muss also in eine weibliche Rolle schlüpfen und den Lesern sowie denjenigen, die ihn um Rat angehen - zumeist Frauen - etwas vorspielen.
Aus dieser Position heraus einen ehrlichen Rat zu geben, scheint von vornherein unmöglich. Aber die Misere dieser männlichen Miss Lonelyhearts geht noch weiter, nicht nur, dass man sich in der Redaktion über seine Rolle lustig macht und ihm lästerliche Gebete auf den Schreibtisch legt, er selbst gehört eigentlich zu jenen ratlosen Menschen, die nicht wissen, wie ihnen das Leben spielt.
Er selbst ist überaus hilfsbedürftig und angesichts des konkreten Leids derjenigen, die sich an ihn wenden, auf eine elementare Ebene ratlos. Wenn ihm ein Mädchen ohne Nase schreibt, dass sie gerne Freunde hätte, so zweifelt sie dabei nicht am Sinn des Daseins, wenn ihm ein Junge schreibt, weil seine kleine Schwester vergewaltigt wurde und er sich nicht traut es der Mutter zu sagen, oder eine Frau, weil ihr Mann sie verprügelt, dann stellen sie das Dasein insgesamt noch nicht in Frage.
Miss Lonelyhearts dagegen verzweifelt ganz grundsätzlich an der Beschaffenheit der Welt. Was für ihn die Sache so schlimm macht: Er ist gläubig, oder würde doch zumindest gerne Trost im Glauben finden. Aber nicht nur macht sich Shrike über ihn lustig und belästigt ihn mit absurden Gebeten und geradezu dadaistischen Reden. Er selbst kommt gegen die eigenen Zweifel nicht an:
Vor dem Einschlafen gelobte er, einen ehrlichen Versuch zu unternehmen, demütig zu sein. Als er sich am nächsten Morgen auf den Weg zum Büro machte, erneuerte er sein Gelübde. Zu seinem Glück war Shrike nicht in der Redaktion, sodass seine Demut nicht sogleich auf die Probe gestellt wurde. Er ging direkt zu seinem Tisch und machte sich daran, Briefe zu öffnen. Als er etwa ein Dutzend aufgemacht hatte, wurde ihm schlecht, und er beschloss, seine heutige Kolumne zu schreiben, ohne auch nur einen einzigen zu lesen. Zu streng prüfen wollte er sich nicht.
Dennoch gerät Miss Lonelyhearts immer weiter in einen Strudel, der ihn zielsicher auf den Wahnsinn zutreibt. Der Versuch, mit der gleichmütigen Betty eine Partnerschaft zu führen, wie sie in der ihn umgebenden Welt als normal erachtet wird, schlägt ebenso fehl wie der Hilfe suchende Griff zum Alkohol. Dass er schließlich mit einer Frau, die sich in seiner Funktion als Miss Lonelyhearts an ihn wendet, schläft, und mit ihrem schießwütigen Ehemann versucht, Händchen zu halten, macht die Sache auch nicht besser. Sein Leben ist aus den Fugen geraten, so es überhaupt jemals zusammengefügt war.
An dieser Stelle stellt sich die Frage nach der Form, und hier erweist sich - über den zeitdiagnostischen Röntgenblick und den subtilen Witz hinaus - die eigentliche Größe, das wahre Genie Nathanael Wests. Zwar ist sein Romane inhaltlich so brisant wie unterhaltsam, die Grundidee so brillant wie die dramaturgische Ausführung. Was West aber über etwa thematisch vergleichbare Werke seiner Zeit - Sartres "Ekel" oder Hemingways "Fiesta" - hinaus hebt, ist sein Gespür für die richtige Architektur, die stilistische Gesamtgestaltung.
Sprachlich kommt "Miss Lonelyhearts" denkbar einfach daher, ein lakonischer Zeitungsstil, wie es dem Gegenstand ja angemessen ist. Außergewöhnlich aber ist der Aufbau der einzelnen Kapitel. West selbst spricht das Thema in einer knappen Notiz an, die dieser auch an Anmerkungen reichen Ausgabe beigefügt ist:
Vorgesehener Untertitel: Ein Roman in Form eines Comicstrips. Die Kapitel als Rechtecke, in denen um ein einziges Ereignis herum vieles passiert. Die wörtliche Rede in den üblichen Sprechblasen. Zwar ließ ich diese Idee wieder fallen, aber behielt von der Comicstrip-Technik einiges bei: Jedes Kapitel schreitet zeitlich nicht nur voran, sondern vorwärts, rückwärts, aufwärts und abwärts im Raum wie im Bild. Bilder der Gewalt werden zur Illustration alltäglicher Ereignisse herangezogen. Gewalttaten bleiben fast kahl.
Wie einem guten Comicautor auch genügen Nathanael West einige wenige Striche, um alles, was ihm wichtig ist, deutlich herauszustellen. Vieles würde dabei in einem herkömmlichen Roman grotesk wirken, hier aber hat es seinen Platz, seine eigene Wahrhaftigkeit. So etwa die sechs ausführlich zitierten, ratsuchenden Briefe. Ein Freund hatte sie dem 25-jährigen West gegeben. Sie waren in der Redaktion des Boston Globe aussortiert worden, weil sie zu trübsinnig schienen, um beantwortet zu werden. West hob sie auf und benutzte sie schließlich als Grundlage für seinen Roman.
Vier Jahre brauchte er für dieses gerade einmal 120 Seiten lange Meisterwerk. Dieter E. Zimmers Ausgabe und seine gewohnt tadellose Übersetzung machen nun endlich auch hierzulande verständlich, warum der großen Kritiker Edmund Wilson den Roman als vollendeter und vollkommener ansah, als fast alles andere, was Wests Generation hervorgebracht habe, oder warum ihn Harold Bloom als einziges genuines Zeugnis amerikanischer Kultur im 20. Jahrhundert neben der Musik Charlie Parker gelten ließ. Große Worte all das, aber endlich einmal angemessen.
Nathanael West: "Miss Lonelyhearts". Übersetzt von Dieter E. Zimmer. Manesse Verlag, Zürich 2012. 172 Seiten, 19,95 Euro.