Der Iraker Abbas Khider wird 1973 in Bagdad geboren. Im selben Jahr ernennt der Revolutionsrat Saddam Hussein zum Drei-Sterne-General der irakischen Streitkräfte. Als junger Abiturient verteilt Khider Flugblätter gegen das Regime, kurz darauf sitzt er das erste Mal in Haft. Insgesamt sechs Mal wird er wegen politischer Umtriebe festgenommen, zwei volle Jahre verbringt er in den Kerkern von Saddam Hussein.
1996 gelingt ihm schließlich die Flucht nach Amman, und es beginnt die jahrelange Odyssee durch nahezu den gesamten Mittelmeerraum, eine Zeit, die Khider in seinem ersten Roman von 2008, "Der falsche Inder", verarbeitet hat.
Vier Jahre lang pilgert er als "sans papier" durch Jordanien, Libyen, Tunesien, die Türkei, Griechenland und Italien. Mit den unterschiedlichsten Jobs hält er sich über Wasser, schlägt sich durch: als Kellner, Bauhelfer, Arabischlehrer, Teppichträger, Müllsortierer und Putzkraft. Geschlafen hat Khider in dieser Zeit überall, wo er ein Plätzchen fand: unter Brücken, in Tunneln, auf Baustellen, im Puff.
Heute steht Khider in der ersten Reihe deutschsprachiger Autoren. Im April steht er auf der SWR-Bestenliste, die von den wichtigsten Literaturkritikern zusammengestellt wird.
Wenn man Khider begegnet, ist man zuerst verblüfft über die gelöste und scheinbar unumstößliche Heiterkeit, die der Mann ausstrahlt. Aber vielleicht ist es die Heiterkeit eines Menschen, der weiß und erfahren hat, dass alles im nächsten Augenblick vorbei sein kann und der gerade deshalb jeden Augenblick als Gnade und Geschenk empfindet.
Sein Roman "Der falsche Inder" ist eine krasse Anekdotensammlung aus dem stürmischen Leben eines illegalen Flüchtlings: Khider erzählt von heimlichen Bootsfahrten, Verfolgung durch die Polizei, einer Flucht über die Dächer von Istanbul, von einer russischen Prostituierten, die auf dem libyschen Schlepperkahn "das Geschäft ihres Lebens" macht und dann nachts mit der Kippe in der Hand an der Reling hängt, weil sie kaum noch stehen kann. Khider berichtet von einer nächtlichen Schießerei im Grenzgebiet und den Schmerzen einer entzündeten Schusswunde; von Freunden, die auf dem Weg nach Griechenland im Ebrus von der Strömung mitgerissen werden und nie wieder auftauchen; von einer Familienmutter auf der Flucht, die zu dem Schlepper unter die Decke kriecht und Mann und Tochter zitternd und weinend auf ihrem Platz zurücklässt, weil sie die Flucht mit ihrer Prostitution bezahlt.
Ähnlich wie "Der falsche Inder" baut auch Khiders zweiter Roman auf autobiografische Erlebnisse auf. "Die Orangen des Präsidenten" erzählt die Geschichte des jungen Irakers Mahdi Hamama, seiner Schulzeit in Bagdad, seiner Leidenschaft für die Taubenzucht, der Gefangenschaft im Folterkeller und schließlich von der geglückten Flucht in den Wirren des Golfkrieges und des Aufstandes im Jahr 1991.
Dieses Buch erschüttert den Leser durch die geschilderten Grausamkeiten und durch das Leid, das den Protagonisten widerfährt. Zugleich gelingt Khider das Kunststück, in seine düstere Kerkerprosa den Schimmer einer humanistischen Menschlichkeit zu weben, indem er beispielsweise die Folterknechte nicht als maskenhafte Inkarnationen des Bösen auftreten lässt – sondern auch sie mit menschlichen Zügen charakterisiert. Auf den Leser wirkt das zugleich verstörend und befreiend.
Dank der schlichten Kunstfertigkeit seiner Sprache wirkt Khiders Stil nie gekünstelt oder konstruiert. Seine Prosa ist eine am Menschen interessierte Kunst, die stets darum bemüht ist, das Besondere im Einfachen herauszuarbeiten. Wie bei einem großen Meister spiegelt sich das Heitere im Tragischen, das Tragische im Heiteren. Wenn er etwa den Vater seines Helden Mahdi als sorglosen Narren darstellt, der bei den Fliegerangriffen im irakisch-iranischen Krieg fröhlich umhertanzt.
"(Mein Vater) freute sich geradezu auf den Bunker, wie ein Kind, das zum ersten Mal ein Flugzeug sieht. 'Ja, so viele Bunker gibt es nicht bei uns!', behauptete er. 'Er ist ganz neu. Den müssen wir ausprobieren! Ein historischer Moment!'"
In einer anderen Passage beschreibt Khider mit einer hingebungsvollen Freude am Skurrilen, wie der Häftling Dhalal in seiner Verzweiflung den Verstand verliert und zwei Wanzen in einer Plastiktüte quält.
"Sie sind meine beiden Feinde, der Islam und der Kommunismus. Ich foltere sie."
Khider lässt immer wieder eine feinfühlige Ironie aufblitzen, beispielsweise, indem er die Vorgänge der grausamen Welt der Diktatur und des Krieges aus der Perspektive eines Kindes schildert.
"Ich war erleichtert, dass in Babylon keine Luftangriffe mehr stattfanden. Die ersten Monate waren schrecklich gewesen, weil das Fernsehen plötzlich meine Zeichentrickserien eingestellt hatte und nur noch Nachrichten von der Front, Erklärungen der Regierung, Lieder für die Soldaten und Reden des Präsidenten sendete."
Auch über eine als Wunderglauben gelebte Religion spottet Khider mit dem milden Gestus eines Autors, der weiß, dass Irren die menschlichste aller Sünden ist.
"Meine Mutter bestand darauf, einmal im Monat eine Wallfahrt zu machen. Sie erklärte, wir bekämen dadurch eine gute Note im Himmel. 'Bei den heiligen Gräbern, Moscheen oder Schreinen sind die Türen des Himmels geöffnet. Die Engel fliegen überall umher. Da kannst du all deine Wünsche aussprechen. Du musst nur dein Herz öffnen, für das Licht.'
Bei einer solchen Gelegenheit wünschte ich mir einmal vom Imam Al-Kadhum in Bagdad, er möge doch bitte meinen Vater zu uns zurückbringen, damit meine Mutter nicht mehr so weinen müsse. Ich betete in seiner großen, sauberen Moschee, genau gegenüber seinem Grab mit den goldenen Fenstern. Fast eine Stunde lang. Dann warf ich einen Dinar neben sein Grab und gelobte, ihm einen großen Hahn zu opfern, wenn er meinen Wunsch erfüllte. Wochenlang wartete ich geduldig und hoffnungsvoll. Schließlich wurde ich sauer auf Imam Al-Kadhum. Doch das rührte ihn keineswegs."
So schön und so freundlich kann Religionskritik formuliert werden.
Es ist erstaunlich, wie Khider es schafft, einen Kriegs- und Gefängnisroman mit dem Nimbus menschlicher Güte zu durchwirken, ohne, dass es angestrengt wirkt – und ohne dabei den Schrecken von Krieg, Folter und Gefängnis als dramatisch modelliertes Tamtam zu verharmlosen.
Dass Khider den Roman insgesamt sieben Mal umgeschrieben und allein das eröffnende Kapitel mehr als 30 Mal neu verfasst hat, zeigt indessen, wie sehr der Autor mit dem Stoff und der abgründigen Thematik gerungen hat. Zu schwer und zu hoffnungslos, sagt er, schien ihm der Text, sowohl für die potenziellen Leser als auch für ihn selbst. Die deutsche Sprache habe ihm allerdings den nötigen Abstand gegeben, dieses Buch überhaupt zu schreiben – auf Arabisch wäre dies unmöglich gewesen. "Wenn ich versucht habe, den Text auf Arabisch zu verfassen, war das Ganze Leiden noch im Text. Erst als ich angefangen habe, auf Deutsch zu schreiben, hat sich das Leiden in Literatur verwandelt", erklärt Khider in einem Gespräch.
Als kleiner Junge sei er sehr religiös gewesen, so Khider, ständig lief er durch sein Viertel in Bagdad – mit dem Koran unter dem Arm – und erzählte den Leuten von der Schönheit Gottes und der Heiligen Schrift. Dann, eines Tages, habe ein Mann ihn am Arm gehalten und gesagt, 'Dir werde ich die Flausen schon austreiben.' Dabei reichte er ihm eine Ausgabe des "Propheten" vom libanesischen Philosophen Khalil Gibran. "Ich war vollkommen verwirrt", erzählt Khider. "Ich las dieses Buch und dachte mir, wie kann das sein? Wie kann jemand schöner schreiben als Gott selbst?!" Von diesem Moment an habe er Schriftsteller werden wollen. Schöner zu schreiben als Gott, das ist das Ziel.
Abbas Khider: "Die Orangen des Präsidenten"
Edition Nautilus, Hamburg 2011
155 Seiten, 16 Euro
1996 gelingt ihm schließlich die Flucht nach Amman, und es beginnt die jahrelange Odyssee durch nahezu den gesamten Mittelmeerraum, eine Zeit, die Khider in seinem ersten Roman von 2008, "Der falsche Inder", verarbeitet hat.
Vier Jahre lang pilgert er als "sans papier" durch Jordanien, Libyen, Tunesien, die Türkei, Griechenland und Italien. Mit den unterschiedlichsten Jobs hält er sich über Wasser, schlägt sich durch: als Kellner, Bauhelfer, Arabischlehrer, Teppichträger, Müllsortierer und Putzkraft. Geschlafen hat Khider in dieser Zeit überall, wo er ein Plätzchen fand: unter Brücken, in Tunneln, auf Baustellen, im Puff.
Heute steht Khider in der ersten Reihe deutschsprachiger Autoren. Im April steht er auf der SWR-Bestenliste, die von den wichtigsten Literaturkritikern zusammengestellt wird.
Wenn man Khider begegnet, ist man zuerst verblüfft über die gelöste und scheinbar unumstößliche Heiterkeit, die der Mann ausstrahlt. Aber vielleicht ist es die Heiterkeit eines Menschen, der weiß und erfahren hat, dass alles im nächsten Augenblick vorbei sein kann und der gerade deshalb jeden Augenblick als Gnade und Geschenk empfindet.
Sein Roman "Der falsche Inder" ist eine krasse Anekdotensammlung aus dem stürmischen Leben eines illegalen Flüchtlings: Khider erzählt von heimlichen Bootsfahrten, Verfolgung durch die Polizei, einer Flucht über die Dächer von Istanbul, von einer russischen Prostituierten, die auf dem libyschen Schlepperkahn "das Geschäft ihres Lebens" macht und dann nachts mit der Kippe in der Hand an der Reling hängt, weil sie kaum noch stehen kann. Khider berichtet von einer nächtlichen Schießerei im Grenzgebiet und den Schmerzen einer entzündeten Schusswunde; von Freunden, die auf dem Weg nach Griechenland im Ebrus von der Strömung mitgerissen werden und nie wieder auftauchen; von einer Familienmutter auf der Flucht, die zu dem Schlepper unter die Decke kriecht und Mann und Tochter zitternd und weinend auf ihrem Platz zurücklässt, weil sie die Flucht mit ihrer Prostitution bezahlt.
Ähnlich wie "Der falsche Inder" baut auch Khiders zweiter Roman auf autobiografische Erlebnisse auf. "Die Orangen des Präsidenten" erzählt die Geschichte des jungen Irakers Mahdi Hamama, seiner Schulzeit in Bagdad, seiner Leidenschaft für die Taubenzucht, der Gefangenschaft im Folterkeller und schließlich von der geglückten Flucht in den Wirren des Golfkrieges und des Aufstandes im Jahr 1991.
Dieses Buch erschüttert den Leser durch die geschilderten Grausamkeiten und durch das Leid, das den Protagonisten widerfährt. Zugleich gelingt Khider das Kunststück, in seine düstere Kerkerprosa den Schimmer einer humanistischen Menschlichkeit zu weben, indem er beispielsweise die Folterknechte nicht als maskenhafte Inkarnationen des Bösen auftreten lässt – sondern auch sie mit menschlichen Zügen charakterisiert. Auf den Leser wirkt das zugleich verstörend und befreiend.
Dank der schlichten Kunstfertigkeit seiner Sprache wirkt Khiders Stil nie gekünstelt oder konstruiert. Seine Prosa ist eine am Menschen interessierte Kunst, die stets darum bemüht ist, das Besondere im Einfachen herauszuarbeiten. Wie bei einem großen Meister spiegelt sich das Heitere im Tragischen, das Tragische im Heiteren. Wenn er etwa den Vater seines Helden Mahdi als sorglosen Narren darstellt, der bei den Fliegerangriffen im irakisch-iranischen Krieg fröhlich umhertanzt.
"(Mein Vater) freute sich geradezu auf den Bunker, wie ein Kind, das zum ersten Mal ein Flugzeug sieht. 'Ja, so viele Bunker gibt es nicht bei uns!', behauptete er. 'Er ist ganz neu. Den müssen wir ausprobieren! Ein historischer Moment!'"
In einer anderen Passage beschreibt Khider mit einer hingebungsvollen Freude am Skurrilen, wie der Häftling Dhalal in seiner Verzweiflung den Verstand verliert und zwei Wanzen in einer Plastiktüte quält.
"Sie sind meine beiden Feinde, der Islam und der Kommunismus. Ich foltere sie."
Khider lässt immer wieder eine feinfühlige Ironie aufblitzen, beispielsweise, indem er die Vorgänge der grausamen Welt der Diktatur und des Krieges aus der Perspektive eines Kindes schildert.
"Ich war erleichtert, dass in Babylon keine Luftangriffe mehr stattfanden. Die ersten Monate waren schrecklich gewesen, weil das Fernsehen plötzlich meine Zeichentrickserien eingestellt hatte und nur noch Nachrichten von der Front, Erklärungen der Regierung, Lieder für die Soldaten und Reden des Präsidenten sendete."
Auch über eine als Wunderglauben gelebte Religion spottet Khider mit dem milden Gestus eines Autors, der weiß, dass Irren die menschlichste aller Sünden ist.
"Meine Mutter bestand darauf, einmal im Monat eine Wallfahrt zu machen. Sie erklärte, wir bekämen dadurch eine gute Note im Himmel. 'Bei den heiligen Gräbern, Moscheen oder Schreinen sind die Türen des Himmels geöffnet. Die Engel fliegen überall umher. Da kannst du all deine Wünsche aussprechen. Du musst nur dein Herz öffnen, für das Licht.'
Bei einer solchen Gelegenheit wünschte ich mir einmal vom Imam Al-Kadhum in Bagdad, er möge doch bitte meinen Vater zu uns zurückbringen, damit meine Mutter nicht mehr so weinen müsse. Ich betete in seiner großen, sauberen Moschee, genau gegenüber seinem Grab mit den goldenen Fenstern. Fast eine Stunde lang. Dann warf ich einen Dinar neben sein Grab und gelobte, ihm einen großen Hahn zu opfern, wenn er meinen Wunsch erfüllte. Wochenlang wartete ich geduldig und hoffnungsvoll. Schließlich wurde ich sauer auf Imam Al-Kadhum. Doch das rührte ihn keineswegs."
So schön und so freundlich kann Religionskritik formuliert werden.
Es ist erstaunlich, wie Khider es schafft, einen Kriegs- und Gefängnisroman mit dem Nimbus menschlicher Güte zu durchwirken, ohne, dass es angestrengt wirkt – und ohne dabei den Schrecken von Krieg, Folter und Gefängnis als dramatisch modelliertes Tamtam zu verharmlosen.
Dass Khider den Roman insgesamt sieben Mal umgeschrieben und allein das eröffnende Kapitel mehr als 30 Mal neu verfasst hat, zeigt indessen, wie sehr der Autor mit dem Stoff und der abgründigen Thematik gerungen hat. Zu schwer und zu hoffnungslos, sagt er, schien ihm der Text, sowohl für die potenziellen Leser als auch für ihn selbst. Die deutsche Sprache habe ihm allerdings den nötigen Abstand gegeben, dieses Buch überhaupt zu schreiben – auf Arabisch wäre dies unmöglich gewesen. "Wenn ich versucht habe, den Text auf Arabisch zu verfassen, war das Ganze Leiden noch im Text. Erst als ich angefangen habe, auf Deutsch zu schreiben, hat sich das Leiden in Literatur verwandelt", erklärt Khider in einem Gespräch.
Als kleiner Junge sei er sehr religiös gewesen, so Khider, ständig lief er durch sein Viertel in Bagdad – mit dem Koran unter dem Arm – und erzählte den Leuten von der Schönheit Gottes und der Heiligen Schrift. Dann, eines Tages, habe ein Mann ihn am Arm gehalten und gesagt, 'Dir werde ich die Flausen schon austreiben.' Dabei reichte er ihm eine Ausgabe des "Propheten" vom libanesischen Philosophen Khalil Gibran. "Ich war vollkommen verwirrt", erzählt Khider. "Ich las dieses Buch und dachte mir, wie kann das sein? Wie kann jemand schöner schreiben als Gott selbst?!" Von diesem Moment an habe er Schriftsteller werden wollen. Schöner zu schreiben als Gott, das ist das Ziel.
Abbas Khider: "Die Orangen des Präsidenten"
Edition Nautilus, Hamburg 2011
155 Seiten, 16 Euro