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Ein Skizzenbuch gegen den braunen Spuk

In den letzten Kriegstagen verschwand Felix Hartlaub im umkämpften Berlin. Unter den Manuskripten im Nachlass des Historikers und Schriftstellers befanden sich auch Aufzeichnungen aus dem besetzten Paris von 1941, "Wortgravüren", wie er sie nannte, die einmal die Grundlage für einen Roman bilden sollten. Die bislang nur im Rahmen der Werkausgabe zugänglichen "Kriegsaufzeichnungen aus Paris" sind nun in der Bibliothek Suhrkamp erschienen.

Von Oliver Pfohlmann |
    Die aufleuchtenden Häuserfassaden am Quai de Bourbon. Regentropfen, die merkwürdig schräg und langsam die Gebäudemauern entlang fallen. Das Wechselspiel von Licht und Wolken in den Straßen um den Invalidendom. Das unerträgliche Flimmern der Gitter um den Tuileriengarten. Ja, sogar die Gerüche an den Bedürfnisständen - es ist eine Hingabe ans Sinnliche, die Felix Hartlaubs Pariser Kriegsaufzeichnungen bestimmt, ein impressionistischer Rausch der Wahrnehmung.

    Das jetzige Paris, zitiert Hartlaub einen Nazi-"Festredner", sei nur noch eine europäische Provinzstadt, nichts, vor dem ein Deutscher Ehrfurcht haben müsse. Hartlaubs Aufzeichnungen aus dem Jahr 1941 sind eine einzige ästhetische Anstrengung, das Gegenteil zu bezeugen. Hier hat ein leidenschaftlicher Flaneur eigensinnig das "Netz seiner Sehgier", wie es einmal heißt, ausgeworfen: Immer wieder neu ansetzend und wieder abbrechend, protokolliert er in einem Nominalstil, was sich darin verfangen hat. Es sind überraschende, kostbare Momente der Schönheit, die meist sogleich verdrängt werden von der bedrückenden Realität der Okkupation. Wie an der Seine, wo sich Hartlaub im Schutz seiner Zivilkleidung unter die schweigende Bevölkerung mischt:

    "Eine der Frauen, die gegen den sandhaltigen scharfen Wind angeht. In Schwarz, loser verschlissener Mantel, wollenes Schultertuch, wollene Fausthandschuhe. Unter der staubig grauen knappen Baskenmütze quillt starkes pechschwarzes Haar hervor, sie schützt mit der einen formlosen Handschuhhand Gesicht und Frisur. (...) Ein plötzliches Erhärten der Lider, die Pupille verengt sich, ein Glanz von der Seite her: Eine elegante kleine frz. viersitzige Limousine kommt gerollt, mit gelben Rädern, gefällig abgerundetem Kühler, Heck. Drin sitzen steil aufgerichtet, trotz der Gefahr, an die Decke zu stossen, etwas eng nebeneinander, drei d[eutsche] Uniformen, feldgrau, schwarz und silber (...) Die Blicke sind eine Sekunde lang im Augenwinkel, ein Sondenstich nach links, dann wieder starr geradeaus." (38)

    Felix Hartlaub, Jahrgang 1913, gilt heute als literarisches Ausnahmetalent seiner Generation. Nur ein schmales Werk aus Prosaskizzen und Fragmenten hat der promovierte Historiker hinterlassen. Noch in den letzten Kriegstagen verschwand der 31-jährige Obergefreite im umkämpften Berlin auf dem Weg in seine Kaserne. Als seine Texte in den Fünfzigern erstmals veröffentlicht wurden, wurde ihre Bedeutung rasch erkannt. Die halbdokumentarischen Aufzeichnungen waren der Versuch eines Einzelgängers, der NS-Propaganda eine private Geschichtsschreibung von unten entgegenzusetzen. Inmitten der allgemeinen Verrohung verwandelte sich Hartlaub in ein unbestechliches Kameraauge, um sich die eigene Sensibilität zu bewahren. Zunächst nur für sich selbst geschrieben, sollte dieses Skizzenbuch irgendwann, wenn der braune Spuk vorüber sein würde, Zeugnis ablegen, aber auch die Grundlage für ein geplantes Romanwerk abgeben.

    Neben den heimlichen Notizen aus dem "Sperrkreis" der Führerhauptquartiere im Osten, wo Hartlaub nach 1942 für die Abteilung "Kriegstagebuch" verpflichtet war, ragen seine zuvor entstandenen Aufzeichnungen aus dem besetzten Paris hervor. 1941 sollte er in der französischen Hauptstadt für die Historische Archivkommission des Auswärtigen Amtes französische Akten sichten. In dem nach dem Einmarsch von den Deutschen geplünderten und verwüsteten Ministeriumsgebäude am Quai d'Orsay erlebt Hartlaub "pompeianische Effekte":

    "Die Kalender zeigen alle den 14. 6. 40. Die von der Sonne ausgezehrten Zeitungen (...) In dem schlauchartigen, kahlen Zimmer des Huissiers [Amtsdiener], der gerade die Post fertig machte (...) steht noch der Teekocher, die Sardinenbüchse. Zylinder, kurze Damenschirme liegen über den Tischen, eine Puderquaste." (107)

    Während die Bevölkerung in der Hoffnung auf ein Mittagessen an der Seine angeln muss, leben die Besatzer in Saus und Braus. Mit kaum verhohlenem Ekel beschreibt Hartlaub Visagen wie aus einem Otto-Dix-Gemälde, bleiche, finnige Gesichter mit Specknacken und Bürstenschnitt. Die Landser schleppen unter beiden Armen Antiquitäten durch die Straßen, fachsimpeln über die Pariser Bordelle oder feiern in den Cafés der Rue Montmartre, umringt von französischen Mädchen, die sich an die Deutschen verkaufen. Es sind Szenen von großer Eindringlichkeit und Symbolkraft, die Fritz Hartlaubs namenlose Erzählerfigur skizzenhaft festhält. Dieser "er" in Anführungszeichen trägt wie sein Autor Zivil, wird von Hemmungen und Schamgefühlen gepeinigt und würde am liebsten unsichtbar sein. Für sein ganz und gar nicht dem arischen Schönheitsideal entsprechendes Aussehen erntet Hartlaub bei seinen Landsleuten "atomzertrümmernde Blicke", wie er seinen Eltern schreibt. Doch auch die Franzosen erkennen in dem Zivilisten sofort den Besatzer, vermuten in ihm einen Gestapo-Spitzel, was zu kafkaesken Reaktionen Hartlaubs führt.

    " Métro: Die letzten zwei Meter vor dem portillon automatique, wo der Kontrolleur sitzt: Die Hand wandert 'unauffällig' in den Mantelausschnitt (...), dann hat sie das wellige Marienglas, das Futteral mit dem d[eutschen] Stadtausweis, hellbl[au] mit dunklerem Streifen. Dünne Lederstreifen an den Rändern, die abblättern. Ganz schnell wird es herausgezückt, so dass der Beamte nur eine Ecke sieht, die Leute vor und hinter einem möglichst garnichts. Oder umständlich, mit gemachten Stockungen, man wirft selber einen Blick darauf, gibt Acht, dass man es dem Beamten nicht verkehrt herum zeigt. Eigenartige Handverrenkungen. Etwa: 'Was ist das schon, ein d[eutscher] Zivilausweis, es gibt Tausende davon, das besagt noch gar nichts.' " (13)

    Métroabteile oder Vorortzüge, in denen Franzosen und Deutsche auf engstem Raum aufeinandertreffen, sind Hartlaubs bevorzugte "Kristallisationspunkte", an denen sich seine "Wortgravüren" entzünden. Die Pariser Frauen, von Hartlaub mit viel Empathie gezeichnet, sind dort den begehrlichen Blicken der Landser ausgeliefert, während junge Franzosen nur mühsam ihren Hass auf die Besatzer unterdrücken können. Hartlaubs Erzähler beobachtet erst mit peinlicher Genauigkeit Gesichter und Haltung der einheimischen Fahrgäste, versucht noch die unscheinbarsten Reaktionen zu deuten - ehe er plötzlich ihre Innensicht beschreibt, sich einzufühlen versucht. An solchen Stellen wechseln die Texte vom Dokumentarischen in die Narration, versucht der Autor den Sprung vom Tagebuch zur Literatur. Gegen Ende seiner Aufzeichnungen ist ihm dieser Übergang gelungen: "Weltwende im Puff" heißt eine beeindruckende satirische Erzählung über einen deutschen Botschaftsangehörigen. Nicht auszudenken, wie die Nachkriegsliteratur ausgesehen hätte, hätte Hartlaub den Krieg überlebt.

    Felix Hartlaub: Kriegsaufzeichnungen aus Paris. Mit Zeichnungen des Autors und einem Nachwort von Durs Grünbein. Berlin: Suhrkamp, 2011. 163 S., 17,90 Euro.