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Ein Sonderfall in der Militärjustiz der NS-Zeit

Der Justizapparat war während der NS-Zeit ein aktiver Teil der totalitären Diktatur, doch gab es auch alternative Denk- und Handlungsräume. So hat der Heeresrichter Werner Otto Müller-Hill während seiner Dienstzeit bei der Wehrmacht kein Todesurteil gesprochen. Sein Kriegstagebuch ist ein wichtiges Zeitdokument.

Von Niels Beintker |
    Am 21. April 1944, knapp einen Monat nach dem Beginn seines Tagesbuches, hielt Werner Otto Müller-Hill, Oberstabsrichter bei einer Ersatz-Division in Straßburg, ein Gespräch mit einem Kollegen fest. Die Skepsis beim Blick auf den Ausgang des Krieges sei doch unbegründet, hätte dieser ihm gesagt. Sie sei ein Denkfehler.

    "Er sprach dann noch von Haltung, die notwendig sei. Welche Verwirrung der Begriffe. Wenn ich meine Pflicht tue und nicht erbärmlich jammere, wie das Herr Dr. Goebbels in seinen Artikeln tut, dann ist dies Haltung und sie ist um so höher zu bewerten, je mehr ich von der Niederlage überzeugt bin. Er nennt diese Haltung die des Vogels Strauß, dass heißt, den Entschluss, diese unerquicklichen Dinge nicht bis zu Ende durchzudenken, sie durch tönende Phrasen wie 'Wir siegen, weil wir siegen müssen' und ähnliche zu paralysieren."

    Dann beschrieb Werner Otto Müller-Hill – geboren 1885, gestorben 1977 –, was er unter Haltung verstehe. Der Eintrag im schmalen Tagebuch, das Aufzeichnungen aus den letzten 14 Monaten des Krieges enthält, gibt die Position wieder, in der sich sein Verfasser, einer der älteren Heeresrichter bei der Wehrmacht, selbst verortete:

    "Haltung nenne ich aufrechten Hauptes so lange seine Pflicht zu tun, als dies möglich ist, da mehr zu tun – dieses Unglücksregime zu beseitigen – uns kleinen Soldaten leider nicht möglich ist."

    Ein kleiner Soldat – mehr nicht. Diese Selbstcharakterisierung ist typisch für den Tagebuchschreiber. Immer wieder finden sich Einträge, die diese Rolle bezeugen und so die Begrenztheit des eigenen Handlungsspielraumes aufzeigen sollen. Aus dieser Motivation heraus ist das Tagebuch womöglich überhaupt erst entstanden. Die genauen Gründe für die Niederschrift dieser im Familienbesitz befindlichen und von dem Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette edierten privaten Chronik sind ungewiss. Vermutlich wollte Werner Otto Müller-Hill die Notizen als eine Art stille Rechtfertigung für sich selbst wie auch für seine Familie – seine Frau und seinen Sohn – verstanden wissen. Das Tagebuch – geschrieben vom 28. März 1944 bis zum 7. Juni 1945 – lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass der Jurist das nationalsozialistische Regime mit tiefer Verachtung betrachtete. Im September 1944, angesichts der an beiden Fronten Stück für Stück vorrückenden Alliierten, schreibt Müller-Hill etwa:

    "Eine verantwortungsbewusste Führung, die nur an das Wohl des Volkes denkt – denn die Führung ist für das da, und nicht das Volk für die Führung – müsste sich opfern, um die völlige Zerstörung Deutschlands zu verhüten. Dass sie nicht daran denkt und das Volk opfert, um sich länger an der Macht zu erhalten, ist der schlimmste moralische Bankrott, der denkbar ist. Und daran sieht man, wie hohl unwahr und der Phrase geopfert das gesamte Führungssystem ist."

    Der Jurist war, wenigstens im Zeitraum der Niederschrift seiner Chronik, ein NS-Gegner in Uniform, wie Wolfram Wette in einer leider viel zu knapp gehaltenen Einführung zu Müller-Hills Tagebuch bemerkt. Für das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 etwa empfand der Heeresrichter große Sympathie und wertete es als – Zitat – "ersten und wohl letzten Versuch, Deutschland zu retten". Über die eigene Rolle im Willkürstaat – und die Frage der damit verbundenen Verantwortung – reflektierte Müller-Hill dagegen kaum. Nur an einigen Stellen seines Tagebuches finden sich ein paar allgemeinere Hinweise. Vielmehr hat der Chronist wieder und wieder über die NS-Führungselite geschrieben, die das ganze deutsche Volk in den Griff genommen und zum Opfer gemacht habe. Ein paar Mal berichtete Werner Otto Müller-Hill über die eigene Arbeit, attestiert den regimetreuen unter seinen Kollegen Rechtsbeugung und Willkür, etwa am 11. April 1944:

    "Kritik am Führer war und ist eigentlich der Tatbestand des Heimtückegesetzes, das mit Gefängnis den bestraft, der öffentlich gehässige, ketzerische oder von niederer Gesinnung zeugende Aussagen über leitende Persönlichkeiten des Staates macht. Heute ist die Kritik ‚Zersetzung der Wehrkraft‘ und es rollen unzählige Köpfe dafür. Dass dies das Ende der Justiz ist, ist klar. Aber ebenso klar ist, dass dies der Führung völlig gleichgültig ist, da sie nur von einem Gedanken besessen ist: Die Niederlage so lange wie möglich zu vermeiden, koste es das ganze Volk, um ihre wertvollen Köpfe zu retten."

    Nach den Kenntnissen des Historikers Wolfram Wette hat Werner Otto Müller-Hill während seiner Dienstzeit in der Wehrmacht kein einziges Todesurteil ausgesprochen und sich für milde Strafen eingesetzt. Als milder Richter bewertete er sich auch selbst im Tagebuch, Ende März 1945. Müller-Hill war kein Blutrichter der nationalsozialistischen Diktatur und in diesem Sinne ein Sonderfall in der Militärjustiz. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trat er, 60-jährig, in den badischen Justizdienst ein und wurde 1947 Beamter auf Lebenszeit. 1950 wurde er pensioniert. Das Tagebuch dieses Mannes ist vor allem mit Blick auf die Frage nach den Handlungsspielräumen im "Dritten Reich" ein wichtiges Dokument. Es zeigt, dass in den Funktionseliten durchaus der Wille und auch der Weg vorhanden war, die Vorgaben der Diktatur in gewissem Maß zu umgehen. Manche Passage stößt bei der Lektüre freilich auf, etwa dann, wenn der Tagebuch-Schreiber, über mögliche Vergeltungsmaßnahmen für die Verbrechen der Nationalsozialisten nachdenkt:

    "Dass das Judentum, dem wir so übel mitgespielt haben, alttestamentarische Rache zu üben entschlossen ist, ist klar. Wenn es nach ihnen ginge, würden ebenso viele Deutsche ermordet, wie wir kalten Blutes Juden in Polen und Russland umgelegt haben."

    Auch ein NS-Gegner in Uniform bewegte sich immer wieder in den Denkmustern seiner Zeit. Auf der anderen Seite überraschen der Tonfall und die Weitsicht dieses Tagebuches. Werner Otto Müller-Hill hat die Niederlage Deutschlands frühzeitig vorhergesehen. Er selbst bescheinigte sich, ein Pessimist zu sein, und reagierte in seinem Tagebuch entsprechend zynisch. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler notierte er:

    "Seit heute Vormittag wird mit Hitlergruß gegrüßt. Damit werden wir den Krieg sicherlich gewinnen."

    Es sind auch kleine, nebensächlich scheinende Passagen wie diese, die den besonderen Charakter des Tagebuches von Werner Otto Müller-Hill ausmachen. Ein kleines, aber zugleich wichtiges Dokument für das Nachdenken über die Aktionsmöglichkeiten eines Funktionsträgers in der totalitären Diktatur.

    Werner Otto Müller-Hill: "'Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert': Das Kriegstagebuch eines deutschen Heeresrichters. 1944/1945", Siedler Verlag, 176 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-827-50010-6