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Ein Spaziergang über den Friedhof

Marga von Etzdorf, eine junge Fliegerin, erschießt sich 1933 nach einer Bruchlandung. Ihr Grab liegt auf dem Berliner Invalidenfriedhof, neben NS-Größen und zivilen Opfern der letzten Kriegstage. In dem Roman "Halbschatten" schildert Uwe Timm das Leben der jungen Fliegerin und ordnet es in die damalige Historie ein.

Von Hajo Steinert |
    Es gibt Menschen, die gerne auf den Friedhof gehen, innehalten vor Gräbern mit interessanten Steinen und Bepflanzungen, Grabinschriften und auffälligen Lebensdaten. Dieser Schrecken, wenn ein soeben Verstorbener keine dreißig Jahre alt geworden ist - woran ist er gestorben? Aber auch dieses Gefühl von feierlicher Ehrfurcht und bittersüßer Melancholie, wenn einer die hundert erreicht hat - was hat er nicht alles erlebt?

    Der Friedhof-Flaneur geht weiter, lenkt sich ein paar Schritte weiter mit dem nächsten Grab und dessen lyrischen Dekorationen ab oder schreitet, traumverloren auf den Ausgang zu, setzt sich in die Bahn, kommt zu Hause an, platziert das Jackett an die Rückenlehne, setzt sich an den Sekretär und schlägt behutsam das Lexikon auf: Wer waren diese Männer mit solch herrlichen Namen wie Bogislav Friedrich Emanuel Tauentzien von Wittenberg oder Georg Dubislav Ludwig von Pech?

    Gewiss, nicht jeder Wald- und Wiesenfriedhof eignet sich zu lyrischen Meditationen vor Ort oder biografischer Feldforschung am heimischen Sekretär. Man muss schon zu einem Friedhof wie etwa den 1748 von Friedrich II. erschaffenen Invalidenfriedhof in Berlin pilgern, um sich in eine sentimental gesteuerte historische Stimmung versetzen zu lassen. Hier, zwischen Scharnhorststraße und Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, nördlich vom Bundeswirtschaftsministerium, dort, wo von 1961 bis 1989 die Grenze zwischen West- und Ostberlin mitten hindurch ging, die mindestens vier aus der DDR flüchtenden Menschen das Leben kostete, hier liegen sie begraben - Minister, Generäle, Admiräle, Oberste, Kommandanten, Zollräte, Inspekteure und sonstigen Herrschaften der preußischen Geschichte.

    So sehr sie ihn faszinieren - nicht in erster Linie von jenen alten Preußen, denen immerhin ein Karl Friedrich Schinkel die Grabstätten schuf, ließ sich Uwe Timm bei seinen Spaziergängen über den Invalidenfriedhof zu seiner Art literarischer Totenbeschwörung hinreißen - vielmehr waren es vergleichsweise nüchtern hergerichtete Gräber von eher sportlich veranlagten Helden eines späteren Jahrhunderts, die ihn zu intensiven Recherchen und luftigen Fantasien animierten. Flieger haben es Uwe Timm angetan. Sie sind seine tragischen Helden. "Halbschatten" ist der Roman für den an deutschem Flugwesen interessierten Leser.

    Geöffnet hat der Autor für uns Leser unter anderem die Gräber der Jagdflieger Manfred von Richthofen - Held des dieses Jahr in den Kinos gelaufenen Films "Der rote Baron" -, Ernst Udet - Generaloberst und Vorbild für Zuckmayers Stück "Des Teufels General" -, Werner Mölders - Oberst der Luftwaffe - und Wilhelm Staehle - Oberst der Luftwaffe, Mitglied des Widerstands. Es sind Männer, die im Dienste der nationalen Erhebung zu fliegen aufgefordert waren, in den "Heldentod" stürzten und sich von daher alle Berechtigung holten, auf einem, wie die Nazis das nannten, "Heldenfriedhof" begraben zu werden. Sie alle und noch mehr fliegende Männer - Otto von Lilienthal eingeschlossen - kommen in "Halbschatten" vor. Der eine oder andere erhält sogar eine eigene, überraschend vitale Stimme. Uwe Timm öffnet gleichsam einen Sargdeckel nach dem anderen und lässt seine Toten buchstäblich aus dem Erdreich heraus das Wort ergreifen.
    Die Verblichenen adressieren ihre Rede an den wissbegierigen Ich-Erzähler des Romans. Das ist ein über den Invalidenfriedhof wandernder Schriftsteller, so alt wie Uwe Timm selbst. Gemeinsam mit einem über die Geschichte des Reviers und seinen unterirdischen Bewohnern bestens informierten Friedhofführer, geheimnisvoll nur "der Graue" genannt, steht er für die multiperspektivische, betont akustisch angelegte Erzählstruktur des Romans. Literatur als Hörspiel.

    Eine Art Stehgreiftheater der düsteren Art in den besten Passagen, manchmal nur Stimmengewirr, gelegentlich - vom Autor bewusst so inszeniert - ein einziges Geplapper. Eine makabre, gespenstische, fast schon Becketsch anmutende Erzählperspektive, die sich der Autor da in Hinblick auf das eine oder andere abenteuerliche oder abscheuliche Kapitel der deutschen Geschichte vor und im Nationalsozialismus hat einfallen lassen.

    Ein Grabstein allerdings - es ist nur ein schlichter Findling mit der Aufschrift "Der Flug ist das Leben wert" - hat es Uwe Timm besonders angetan. Der der Fliegerin Marga von Etzdorf. Fliegende Frauen: Der Autor bereichert ein noch nicht genug recherchiertes, petticoatesk stürmisches Kaptitel der deutschen Luftfahrtgeschichte um ein tolles Kapitel. Marga von Etzdorf, Tochter einer preußischen Offiziersfamilie, wurde 1907 in Berlin-Spandau geboren, steckte als Kind Goldhamster in kleine Gondeln aus Stroh, hängte sie an ein Bündel mit sechs Luftballons und ließ sie drei Meter hoch in die Höhe steigen: der Anfang ihrer Leidenschaft für das Fliegen. Leibhaftiger noch angetan hat es dem Teenager ein fliegender Amerikaner, der sich an den Hof der Großeltern verirrte und davon erzählte, wie er zu Hause aus dem Flugzeug heraus Braunbären beim Fangen von Lachsen beobachtete. Mit neunzehn schloss Marga von Etzdorf ihre Ausbildung zur Pilotin ab. Mit zwanzig wurde sie, als erste Frau, Kopilotin bei der Lufthansa.

    Am 29. Mai 1930 erwarb sie ein eigenes Flugzeug. Sie nannte es "Kiek in die Welt", strich es knallgelb an, flog nach Gran Canaria, startete am 18. August Richtung Japan, kam nach diversen Zwischenstopps und elf Flugtagen am 29. August 1930 in Tokio an. Keine Frau hatte zuvor ein derartiges Unernehmen gewagt und geschafft. Am 27. Mai 1933 hob sie nach Australien ab, erlitt allerdings - wie schon wiederholt bei ihren vorherigen Rekorden - bei einem Zwischenstopp in Syrien eine selbst verschuldete Bruchlandung, woraufhin sie sich, die "Bruchmarie", am 28. Juli 1933 ins Flughafengebäude von Aleppo zurückzog und zwei Kugeln in den Kopf jagte. Tod mit fünfundzwanzig.

    Mit intensivem Gespür für die himmlische Dramatik und Abenteuerlichkeit ihrer Unternehmungen und großem Herz für steile Flieger-Romantik lässt Uwe Timm seine Heldin - "sie singt beim Start und liest unterwegs Eichendorff und Heine!" - von ihrem Leben und Tod erzählen, immer wieder ergänzt und kommentiert von den Stimmen der neben ihr begrabenen Experten. Da der Autor seinen Roman als eine - zugegeben verwegene - Form der dokumentarischen Recherche angelegt hat, will sich, weil der Leser schon an früher Stelle im Buch von Margas Tod erfährt, Spannung und Betroffenheit nur in Maßen einstellen.

    Weidlich nutzte der Autor die Chance, aus Marga von Etzdorfs 1931 fertig gestellter und 1933 erschienener Autobiografie "Kiek in die Welt" - neulich wurde ein Exemplar für 29,59 bei Ebay verscheuert - zu zitieren.

    Um nicht nur eine dokumentarische Aufarbeitung eines sensationellen literarischen Stoffs zu bieten, lässt Uwe Timm mit der Kraft seiner Erfindungsgabe Figuren auftreten, die dem Schicksal der Pilotin Qualitäten zufügen, die einem Roman erst die richtige Würze geben. Erfunden ist die Figur des Schauspielers und Stimmenimitators Anton Miller. Er, der politisch auf Unabhängigkeit setzende, immer witzige, sich indes auf eine folgenreiche Affäre mit Stabshelferin Fräulein Erpenbeck - "auf die waren alle scharf" - einlassende, wegen eines Hitlerwitzes kurz vor Kriegsende an die Laterne gehängte Vertraute Margas, kommt im Konzert der Stimmen aus dem Grab besonders häufig zu Wort. Das Problem ist nur, dass er, der Sympathieträger des Romans, sich sprachlich so wenig von den anderen, die das Wort ergreifen, "der Graue" zumal, unterscheidet, dass der Leser nicht immer weiß, wer gerade spricht. Der anstrengende Teil der Lektüre. Man muss oft zurückblättern, um die Stimme der entsprechenden Figur zuzuordnen.

    Erfunden ist auch die Figur des Christian von Dahlem, Jurist, Weltenbummler, ein schneidiges Mannsbild, ein Snob, gute Manieren, guter Geschmack, auch er des Fliegens mächtig, kein Wunder, dass sich Marga heimlich in ihn verliebt. Ein Verräter am Schluss, weil er Marga, damit diese ihren Flug nach Australien überhaupt finanzieren kann, dazu bringt, ins Geschäft des Waffenschmuggels einzusteigen. Überdies vermittelt Dahlem die Naive an einen gewissen Hauptmann Heymann, der Marga überredet, im Sinne der erwachenden Nation - "Sie fliegen jetzt für Deutschland!" - heimlich eine Fotokamera auf den Flug nach Australien mit an Bord zu nehmen, zwecks Ausspionierung militärischer Anlagen im französisch und englisch kontrollierten Ausland.

    So könnte es, ginge es nach dem fiktionalen Gehalt des Romans, nicht nur Scham und - ganz preußisch - wegen der vielen Bruchlandungen der Verlust persönlicher Ehre sein, die Marga von Etzdorf in den Selbstmord trieben, auch nicht nur die Schmach, wegen eines neuerlichen Unfalls in Zukunft keine Geldgeber für weitere Flüge mehr zu bekommen, sondern auch die Angst, ihren Ruf als Fliegerin des Fliegens willens zu verlieren. Vielleicht wollte Marga durch ihren Selbstmord einer Verhaftung in Syrien zuvor kommen. Uwe Timm eröffnet mit seiner Mischung aus Dokumentation und Fiktion neue Interpretationen.

    Um dem Roman ein historisches Schwergewicht zu geben, inszeniert Uwe Timm nicht nur Grabesreden von authentischen wie erfundenen Vertretern der fliegenden Zunft, sondern auch Wortmeldungen von echten Nazis. Über Herman Görings "meckerndes Lachen" wird berichtet; an Robert Ley, die "Saufgurgel", Hitlers Mann an der Arbeitsfront, wird erinnert; Liebermann von Sonneburg, Erfinder des Wortes "Endlösung der Judenfrage", röchelt herum; SA-Sturmführer Hans Eberhard Maikowski, der "Saufaus", 33 Morde an Oppositionellen auf dem Kerbholz, ist zu vernehmen; Reichsprotektor Reinhard Heydrich darf mit fistelnder Stimme von seiner geplatzten Verlobung erzählen und schwafeln von Ehrengericht, Mittelmaß und Heuchelei, Erhabenheit, absolute Stärke und Kampf. Aus dem Mund jener scharfen Stabshelferin hören wir, wie reizend Frauenheld Heydrich zu Werke ging - "er nahm sie sich einfach" - und wie er mit ihr persönlich - "ich habe mit ihm ungeschützt geschlafen" - im Bett war: "Es war nichts Weiches an ihm, auch nicht an seinem Körper. Aber er spielte wunderbar Violine."

    Das wissen wir spätestens seit Jonathan Littell: Kunstsinn schützt den triebgesteuerten Mann nicht vor Schandtaten. Es ist schade, dass Uwe Timm seine tollkühne, in den fliegenden Passagen atemberaubend gut geschriebene Geschichte von einem eigenwilligen und am Ende tragisch scheiternden Frauenleben am Beginn eines unseligen Zeitalters mit totem Personal überfrachtet.

    Reinhard Heydrich, dessen Grab gar nicht mehr auffindbar ist, ist in diesem Roman einer von mehreren Fremdkörpern. Der Zusammenhang mit dem Schicksal der Marga von Etzdorf erscheint weit hergeholt. Mit den Geschichten über diesen oder jenem Nazi setzt Uwe Timm immerzu noch eins drauf. Die Hauptfigur verliert an literarischer Eigenständigkeit. Oder sollte Marga von Etzdorf gar nicht die Hauptfigur sein? Sondern der Invalidenfriedhof selbst, als Gesamtkörper gleichsam? Es wird über diesen Roman, der wegen seiner historischen Recherchen, sprachlichen Kraft und mutigen Konstruktion zurecht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis steht, noch viel die Rede sein.

    Uwe Timm: Halbschatten
    Kiepenheuer & Witsch, 270 Seiten, 18,95 Euro