Christoph Heinemann: Seit Beginn dieses Monats verfügt die Europäische Union über einen neuen Sondergesandten für Bosnien-Herzegowina, den dänischen Diplomaten Peter Sörensen. Sörensen soll dem Land helfen, seinen Weg in die EU zu ebnen und seine Probleme bei der schwierigen Bildung einer Zentralregierung nach den Wahlen vom Oktober vergangenen Jahres in den Griff zu bekommen. Sörensen soll zudem die EU-Delegation in Sarajevo leiten, diese Position war seit rund einem Jahr vakant. Dort selbst in Sarajevo erreichen wir jetzt Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation "Grünhelme". Guten Morgen, Herr Neudeck.
Rupert Neudeck: Ja guten Morgen, Herr Heinemann!
Heinemann: Wie weit hat sich Bosnien-Herzegowina an die Europäische Union angenähert?
Neudeck: Bosnien-Herzegowina hat sich noch nicht in dem Maße angenähert, wie wir das von den anderen Beitrittsländern her gewohnt sind. Das hat aber einen Grund, der darin liegt, dass hier dieses Land eigentlich aus zwei bis drei Ländern zusammengesetzt wurde, und diese drei oder zwei Länder bestehen weiter. Wir haben hier in diesem Lande zwei verschiedene Länder, die auch durch eine Grenzmarkierung gekennzeichnet sind. Das ist die Föderation aus Muslimen und Kroaten und wir haben die sogenannte Republika Srpska, das ist eine eigenständige Einheit, die mit einer eigenen Hauptstadt operiert, und die haben nicht die gemeinsame Armee, die haben nicht gemeinsame Polizei. Das ist alles versucht worden von dem Office des eben genannten europäischen Beauftragten, des Hohen Repräsentanten der Europäischen Union, das ist aber über 15 Jahre eigentlich nicht gelungen und deshalb haben wir hier weiter ein ziemliches Unikum, ein Monstrum eines Staates, das aus zwei bis drei Staaten besteht. Drei Staaten meine ich damit, dass hier in der Herzegowina mit der Hauptstadt Mostar auch noch immer kroatische Eigensüchteleien bestehen auf einen eigenen Staat. Also dieser Staat ist ein Monstrum und als solcher kann er ganz sicher nicht in die Europäische Union aufgenommen werden.
Heinemann: Dieses Monstrum ist Ergebnis des Vertrages von Dayton von 1995. Muss dieser Vertrag neu aufgedröselt werden?
Neudeck: Das ist das Dringendste, was man sich für den Balkan und auch für die Europäische Union wünscht, denn natürlich ist der Balkan insgesamt und Bosnien-Herzegowina ein ureuropäisches Land, das zu Europa mehr gehört, sicher noch viel mehr gehört, schon allein aus geografischen Gründen, aus geohistorischen Gründen, als die Türkei, die danach hätte aufgenommen werden können. Wir brauchen dringend eine Reform des Dayton-Vertrages, also Dayton II, wenn man so will, und das steht auf der Tagesordnung der Europäischen Gemeinschaft und auch der westlichen Staatengemeinschaft und darauf warten die Bosnier auch dringend, weil sie sind natürlich alle unzufrieden mit den Zuständen eines Staates, der in der Schwebe steht.
Heinemann: Wie spürbar und sichtbar sind noch die Kriegswunden?
Neudeck: Die sind an allen Ecken und Enden erkennbar, aber vielleicht auch noch stärker in den Köpfen. Es ist noch nicht das Grundvertrauen eingetreten, das notwendig ist, um einen Staat zu begründen. Das Grundvertrauen, was darin besteht, dass man weiß, man ist jetzt zusammen in einem Staat, auf Gedeih und Verderb zusammen in einer Gemeinschaft, in einer Schicksalsgemeinschaft, in einer Verfassungsgemeinschaft, auch in einer Art Verfassungspatriotismus, wie wir das von Deutschland her sagen würden. Das ist in den Köpfen noch nicht da. Man ahnt immer noch, dass etwas ausbrechen kann, was damals noch nicht, damals in dem Krieg, der so schrecklich für uns war, als im Juli 1995 der Völkermord von Srebrenica stattfand, ohne dass die westliche Staatengemeinschaft, ohne dass die anwesenden holländischen UNO-Soldaten daran etwas haben ändern können. Das alles ist in den Köpfen und in der Realität dieses Landes weiter vorhanden, und deshalb ist es, noch einmal gesagt, dringlich, dass eine Rekonstruktion der Verfassungsgeschichte Bosnien-Herzegowinas stattfindet.
Heinemann: Herr Neudeck, könnte der bosnische Islam ein Vorbild für den Islam in Europa werden?
Neudeck: Das ist vielleicht die einzige wirkliche Hoffnungsgeschichte, die man von Sarajevo aus erzählen kann heute nach Europa, nach Mitteleuropa. Wir haben ja alle nun Probleme mit der Anwesenheit einer starken Religion, die von außen kommt, oder die von außen vermeintlich kommt. Vermeintlich meine ich deshalb, weil wir haben hier in diesem Bosnien-Herzegowina längst schon das, was wir in Deutschland uns immer wünschen, nämlich einen europäischen Islam. Der ist bestimmt durch die beiden großen Grundkonstituanten, dass er schon längst akzeptiert hat, dass es eine Scheidung, eine Trennung von Staat und Kirche geben muss. Der bosnische große Mufti von Sarajevo, Reisu-l-ulema Mustafa Ceric, hat eine große Charta des europäischen Islam vor zehn Jahren veröffentlicht und hat darin neben den großen theologischen Elementen und Pfeilern des Dar-ul-Islam, also der Uma, der großen Gemeinschaft der Gläubigen, und des Dar-ul-Harp, das ist die Geschichte praktisch des islamischen Dschihad, er hat ein neues Element in die Debatte des Weltislam hineingebracht, nämlich in Dar-ulSul. Das ist die Formel, unter der er einen Kontrakt, also das, was Rossow für die Demokratie beschrieben hat, den sozialen Kontrakt entwickelt hat. Und das zweite Element, mit dem der Islam in Bosnien auch auftrumpfen kann, in Europa als europäischer Islam, ist die Stellung der Frau hier, die nicht unterdrückt ist, die nicht diskriminiert ist, wie das in vielen muslimischen, islamischen Staaten der Fall ist.
Hier dieser europäische Islam, der könnte für die Bundesrepublik Deutschland und für andere Staaten in der Europäischen Union noch einmal eine große Vorbildfunktion haben und eine große Modellfunktion, denn hier haben wir schon historisch gewachsen und nicht erst aufgrund einer neuen politischen Anforderung, hier haben wir schon längst das, was wir eine Europäische Union im Rahmen europäischer Verfassungen haben.
Heinemann: Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Grünhelme. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören nach Sarajevo.
Neudeck: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Rupert Neudeck: Ja guten Morgen, Herr Heinemann!
Heinemann: Wie weit hat sich Bosnien-Herzegowina an die Europäische Union angenähert?
Neudeck: Bosnien-Herzegowina hat sich noch nicht in dem Maße angenähert, wie wir das von den anderen Beitrittsländern her gewohnt sind. Das hat aber einen Grund, der darin liegt, dass hier dieses Land eigentlich aus zwei bis drei Ländern zusammengesetzt wurde, und diese drei oder zwei Länder bestehen weiter. Wir haben hier in diesem Lande zwei verschiedene Länder, die auch durch eine Grenzmarkierung gekennzeichnet sind. Das ist die Föderation aus Muslimen und Kroaten und wir haben die sogenannte Republika Srpska, das ist eine eigenständige Einheit, die mit einer eigenen Hauptstadt operiert, und die haben nicht die gemeinsame Armee, die haben nicht gemeinsame Polizei. Das ist alles versucht worden von dem Office des eben genannten europäischen Beauftragten, des Hohen Repräsentanten der Europäischen Union, das ist aber über 15 Jahre eigentlich nicht gelungen und deshalb haben wir hier weiter ein ziemliches Unikum, ein Monstrum eines Staates, das aus zwei bis drei Staaten besteht. Drei Staaten meine ich damit, dass hier in der Herzegowina mit der Hauptstadt Mostar auch noch immer kroatische Eigensüchteleien bestehen auf einen eigenen Staat. Also dieser Staat ist ein Monstrum und als solcher kann er ganz sicher nicht in die Europäische Union aufgenommen werden.
Heinemann: Dieses Monstrum ist Ergebnis des Vertrages von Dayton von 1995. Muss dieser Vertrag neu aufgedröselt werden?
Neudeck: Das ist das Dringendste, was man sich für den Balkan und auch für die Europäische Union wünscht, denn natürlich ist der Balkan insgesamt und Bosnien-Herzegowina ein ureuropäisches Land, das zu Europa mehr gehört, sicher noch viel mehr gehört, schon allein aus geografischen Gründen, aus geohistorischen Gründen, als die Türkei, die danach hätte aufgenommen werden können. Wir brauchen dringend eine Reform des Dayton-Vertrages, also Dayton II, wenn man so will, und das steht auf der Tagesordnung der Europäischen Gemeinschaft und auch der westlichen Staatengemeinschaft und darauf warten die Bosnier auch dringend, weil sie sind natürlich alle unzufrieden mit den Zuständen eines Staates, der in der Schwebe steht.
Heinemann: Wie spürbar und sichtbar sind noch die Kriegswunden?
Neudeck: Die sind an allen Ecken und Enden erkennbar, aber vielleicht auch noch stärker in den Köpfen. Es ist noch nicht das Grundvertrauen eingetreten, das notwendig ist, um einen Staat zu begründen. Das Grundvertrauen, was darin besteht, dass man weiß, man ist jetzt zusammen in einem Staat, auf Gedeih und Verderb zusammen in einer Gemeinschaft, in einer Schicksalsgemeinschaft, in einer Verfassungsgemeinschaft, auch in einer Art Verfassungspatriotismus, wie wir das von Deutschland her sagen würden. Das ist in den Köpfen noch nicht da. Man ahnt immer noch, dass etwas ausbrechen kann, was damals noch nicht, damals in dem Krieg, der so schrecklich für uns war, als im Juli 1995 der Völkermord von Srebrenica stattfand, ohne dass die westliche Staatengemeinschaft, ohne dass die anwesenden holländischen UNO-Soldaten daran etwas haben ändern können. Das alles ist in den Köpfen und in der Realität dieses Landes weiter vorhanden, und deshalb ist es, noch einmal gesagt, dringlich, dass eine Rekonstruktion der Verfassungsgeschichte Bosnien-Herzegowinas stattfindet.
Heinemann: Herr Neudeck, könnte der bosnische Islam ein Vorbild für den Islam in Europa werden?
Neudeck: Das ist vielleicht die einzige wirkliche Hoffnungsgeschichte, die man von Sarajevo aus erzählen kann heute nach Europa, nach Mitteleuropa. Wir haben ja alle nun Probleme mit der Anwesenheit einer starken Religion, die von außen kommt, oder die von außen vermeintlich kommt. Vermeintlich meine ich deshalb, weil wir haben hier in diesem Bosnien-Herzegowina längst schon das, was wir in Deutschland uns immer wünschen, nämlich einen europäischen Islam. Der ist bestimmt durch die beiden großen Grundkonstituanten, dass er schon längst akzeptiert hat, dass es eine Scheidung, eine Trennung von Staat und Kirche geben muss. Der bosnische große Mufti von Sarajevo, Reisu-l-ulema Mustafa Ceric, hat eine große Charta des europäischen Islam vor zehn Jahren veröffentlicht und hat darin neben den großen theologischen Elementen und Pfeilern des Dar-ul-Islam, also der Uma, der großen Gemeinschaft der Gläubigen, und des Dar-ul-Harp, das ist die Geschichte praktisch des islamischen Dschihad, er hat ein neues Element in die Debatte des Weltislam hineingebracht, nämlich in Dar-ulSul. Das ist die Formel, unter der er einen Kontrakt, also das, was Rossow für die Demokratie beschrieben hat, den sozialen Kontrakt entwickelt hat. Und das zweite Element, mit dem der Islam in Bosnien auch auftrumpfen kann, in Europa als europäischer Islam, ist die Stellung der Frau hier, die nicht unterdrückt ist, die nicht diskriminiert ist, wie das in vielen muslimischen, islamischen Staaten der Fall ist.
Hier dieser europäische Islam, der könnte für die Bundesrepublik Deutschland und für andere Staaten in der Europäischen Union noch einmal eine große Vorbildfunktion haben und eine große Modellfunktion, denn hier haben wir schon historisch gewachsen und nicht erst aufgrund einer neuen politischen Anforderung, hier haben wir schon längst das, was wir eine Europäische Union im Rahmen europäischer Verfassungen haben.
Heinemann: Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Grünhelme. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören nach Sarajevo.
Neudeck: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.