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Katerina Poladjan: «Zukunftsmusik»
Ein Trauermarsch als Signal der Freiheit

Noch ahnt keiner der Bewohner einer Kommunalka, einer russischen Gemeinschaftswohnung, dass der 11. März 1985 einst als historisches Datum gelten wird. In ihrem neuen Roman «Zukunftsmusik» verzaubert Katerina Poladjan die sowjetische Vergangenheit mit übermütiger Verspieltheit.

Von Sigrid Löffler | 23.02.2022
Das Buchcover von Katerina Poladjan: „Zukunftsmusik“ vor einer Wand mit den Portraits von Stalin und Gorbatschow
Die Kommunalka ist ein Emblem der sowjetischen Zeit. Der notorische Mangel an Wohnraum erzwang in der Sowjetunion diese Form der Gemeinschaftswohnung. Ehemals herrschaftliche Großwohnungen wurden zimmerweise unter mehrere Familien aufgeteilt. Küche, Bad und Toilette mussten alle miteinander teilen. Das Potenzial für tägliche kleinliche Reibereien und soziale Konflikte innerhalb dieser Notgemeinschaften war demnach beträchtlich.

Eine solche exemplarische Kommunalka fern von Moskau, irgendwo in der Provinz, ist der Schauplatz von Katerina Poladjans neuem Roman «Zukunftsmusik». Sechs Familien drängen sich in den Zimmern entlang dem zentralen Korridor unter dem bröckelnden Stuck der Gründerzeit. Um die Benutzung des Badezimmers wird ständig gerangelt, vor allem morgens, wenn alle zur Arbeit müssen. Für die Toilette hat jede Familie ihre eigene Klobrille. Und wehe, jemand hat seine nicht ordnungsgemäß an den richtigen Haken gehängt. Die Küche aber ist der Ort, wo alle Wohnparteien notgedrungen aufeinandertreffen, denn jede Familie hat dort ihren eigenen Herd, auf dem immer irgendetwas köchelt, und ihren eigenen Esstisch. Dessen Länge und Breite wird von der Gemeinschaft misstrauisch kontrolliert – kein Tisch darf um einen Zentimeter größer sein als die anderen. Gezankt wird natürlich auch ums Aufräumen.



Das Radio spielt Chopins-Trauermarsch



Keiner beobachtet die Vorgänge in der Kommunalka schärfer als der Ingenieur Matwej Alexandrowitsch, der allein in seinem Zimmer lebt und vor allem das Zimmer vis-à-vis genau im Blick hat, in dem vier Frauengenerationen zusammenwohnen, von der munteren Urgroßmutter Warwara, der lebenslustigen Großmutter Maria und deren Tochter Janka, einer Möchtegern-Popmusikerin, die ein Küchenkonzert geben will, bis zur Urenkelin im Kindergarten-Alter.

„Maria klopfte entschieden gegen die Badezimmertür. Janka, komm endlich raus. Janka ließ noch ein wenig heißes Wasser nachlaufen. Wie wunderbar es im Bauch der Wanne war. Alles liegt noch vor mir, lieber Gott, mach, dass ich noch viele Münder küssen werde, mach, dass meine Lieder gehört werden.

Am Abend würde sie ein Konzert in ihrer Küche geben, ein Kwartirnik, sie allein mit der Gitarre vor zehn, vielleicht zwanzig Leuten. Wenn so viele kämen, würde es eng werden, und noch immer hatte sie kein anständiges Instrument. Andrej war vor ein paar Tagen betrunken in ihre Gitarre gestolpert. Er hatte seine Verlegenheit feixend überspielt, du musst mir dankbar sein, Janka, jetzt klingt es endlich nach Punkmusik.

Pawel hatte versprochen, eine neue Gitarre zu besorgen, war aber jedes Mal mit Ausflüchten gekommen: Schwierig zu beschaffen, zu teuer. Was ist eigentlich mit Andrejs Gitarre? Er hat sie versetzt.“

Der Roman spielt an einem einzigen Tag, dem 11. März 1985. Was es mit diesem Tag für eine Bewandtnis hat, das kündigt sich bereits in den frühen Morgenstunden an:


„Im hinteren Teil der Wohnung wurde ein Radio eingeschaltet, es erklangen die letzten Takte von Chopins Trauermarsch, dann intonierte ein Chor: Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin. Das Radio wurde wieder ausgeschaltet.

Es ist ja nicht zu überhören, dass in Moskau schon wieder einer gestorben ist, bemerkte Maria Nikolajewna.

Und wer ist gestorben? Sie spielen Chopin.

Der verehrte Matwej Alexandrowitsch vermutet –

Solange nichts offiziell verlautbart ist, vermute ich gar nichts! rief Matwej Alexandrowitsch mit ungewöhnlicher Heftigkeit.

Wer auch immer gestorben ist, beschwichtigte Maria Nikolajewna, ich muss mich jetzt fertig machen. Bis später.“

Chopins Trauermarsch ist die Kennmelodie dieses Tages, die im Roman immer wieder erklingt. Schließlich wird offen ausgesprochen, was los ist. Gestern sei schon wieder ein Generalsekretär gestorben, heißt es in der Kommunalka, mit zynischem Achselzucken. Und auch der Besen in der Küche sei verschwunden.

Und doch ist der Trauermarsch die Zukunftsmusik, die diesem Roman den Titel gibt. Denn der Tod des alten und kranken Parteichefs Tschernenko nach nur einem Jahr im Amt markiert eine Zeitenwende in der Sowjetunion. Noch kann es niemand wissen, doch nach all den Jahren des «Stillstands in allen Richtungen» beginnt jetzt eine neue Epoche unter dem neuen Parteichef Gorbatschow.


Ein elegantes, leichthändiges Capriccio


Das Pathos eines historischen Epochenwechsels liegt Katerina Poladjans verspieltem Roman allerdings vollkommen fern. «Zukunftsmusik» ist ein elegantes, leichthändiges Capriccio, funkelnd zwischen Ernsthaftigkeit und skurrilen Kapriolen, das sich seine Erzählweisen und Tonlagen von überallher aus der russischen Literatur zusammenborgt. Die Kommunalka-Bewohner führen formvollendet höfliche Konversationen miteinander, wie aus einem Gesellschaftsroman von Tolstoj.

Erinnerungen an die härteste Stalin-Zeit tauchen zwar auf, doch ihre Bitterkeit wird dadurch gemildert, dass ein alter Herr sie einem Kindergartenkind erzählt. Und zwischendurch verbeugt sich die Autorin mit phantastischen und absurden Schlenkern vor Satirikern wie Gogol, wenn etwa Leute das Fenster öffnen und einfach davonfliegen aus der bedrängenden sowjetischen Enge. Am Schluss stürmen alle aus der Wohnung, denn das sowjetische Haus wird abgerissen, oder vielleicht auch nur umgebaut. „So genau weiß das niemand.“ Bis heute wissen wir das ja nicht so genau.
Katerina Poladjan: «Zukunftsmusik»
Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
188 Seiten, 22 Euro.