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Ein unsympathischer Held

Wie die meisten Bücher, Geschichten, glaube ich, hat es mit einer Frage oder einer Neugierde angefangen, wie Verdrängung funktioniert und wie es funktioniert, dass ja doch erstaunlich viele Leute, was sie selbst betrifft, relativ blind sind, jedenfalls ein großes Missverhältnis zwischen ihrer Außenwirkung entsteht und was sie selber von sich denken.

Von Johannes Kaiser |
    Das Kopfschütteln über Jacob Arjounis Hauptfigur seines neuen Romans 'Hausaufgaben’ beginnt schon auf den ersten Seiten. Gymnasiallehrer Joachim Linde ist einem vom ersten Moment an unsympathisch und dieses Gefühl verstärkt sich mit jeder weiteren Zeile, obwohl es schwer fällt, dieses Unbehangen in Worte zu kleiden, denn der Deutschlehrer ist weder gemein noch dumm, noch offen überheblich oder arrogant. Er ist vielmehr ein Mann, an dem alles abperlt wie an einem Friesennerz, der sich geschickt jeder Festlegung entzieht. Selbst seine Beteuerungen von Verständnis wirken aalglatt und routiniert. Man kommt einfach nicht an ihn ran. Zudem ist Linde ein Meister der Selbsttäuschung, des Schönredens eigenen Versagens, der Verdrängung. Ich-bezogen in einer Art und Weise, die einem dem Atem verschlägt, unfähig andere wirklich wahrzunehmen, steht der Mann vor den Ruinen seines Lebens und ist noch nicht einmal fähig, das zu begreifen, redet sich selbst ein, alles wäre bestens geregelt. Schuld sind stets die anderen, die einfach nicht begreifen wollen, was für ein freundlicher, toleranter, lebenslustiger, intelligenter und witziger Mensch der Lehrer ist. Ihm gehen die Argumente nie aus und genau das macht ihn – pardon – zu einem echten Kotzbrocken.

    Eigentlich hatte Joachim Linde sich ein schönes Wochenende vorgestellt. Mit dem Zug wollte er nach Berlin fahren, um von dort aus zu einer dreitägigen Wanderung durch die Mark Brandenburg aufzubrechen auf den Spuren Fontanes. Doch vorher hat er erst einmal eine heftige Diskussion in seiner Klasse über Antisemitismus und Nazischuld zu überstehen. Nur mit Mühe verhindert Linde, dass die Situation eskaliert, indem er abwiegelt. Doch es ist ihm klar, dass der Fall noch eine Menge Ärger nach sich ziehen wird.

    Doch vorerst will er erst einmal weg und das ist auch gut verständlich, denn die letzten Tage waren eine einzige Katastrophe. Sein Familienleben existiert nur noch in seiner Phantasie. Seine Frau leidet unter heftigen Depressionsschüben, ist psychisch so angeschlagen, dass er sie in eine Klinik hat bringen müssen – nicht das erste Mal. Seine Tochter hat sich ihm ebenfalls entzogen und zwar auf die dramatischste Weise, in der man seine Ablehnung ausdrücken kann: sie hat versucht, Selbstmord zu begehen. Aus dem Krankenhaus entlassen, hat sie dem Vater den Rücken gekehrt, ist ausgezogen. Linde versteht nicht, was sie ihm vorwirft. War er nicht stets ein fürsorglicher Vater?

    Familie ist ja ein ganz starkes, immer noch kräftiges Symbol für Nähe und nirgendwo erlebt man mehr Abstand zwischen den Menschen wie in der Familie. Das ist interessant und trotzdem glauben die Leute immer noch, dass man durch gemeinsam verbrachte Zeit oder Blut oder irgendwas mehr Nähe hätte als zwischen zwei Leuten, die sich auf der Straße treffen und einfach mögen. Nicht umsonst die grausamsten Sachen passieren ja oft in der Familie. Das war für mich der Rahmen, in dem der Linde lebt.

    Nicht nur die beiden Frauen haben sich gegen ihn gewandt, auch sein Sohn Pablo verweigert sich der väterlich erstickenden Fürsorge, die Verständnis nur heuchelt, während sie Beherrschung im Sinn hat. Vor allem aber gibt er seinem Vater die Schuld am Verfall der Familie, am Selbstmordversuch der Schwester. War da nicht ein Vorfall während des gemeinsamen Frankreichurlaubs, der die latenten Spannungen in der Familie implodieren ließ? Hat sich Joachim Linde seiner Tochter unsittlich genähert oder ist das alles nur ein Phantasiegebilde seiner Frau und seiner Tochter, weil sie sich anders nicht gegen ihn zur Wehr zu setzen wissen? Es kommt zum heftigen Streit, in dem der Sohn den Vater schlägt und der daraufhin es nicht lassen kann, seinen Sohn moralisch zu demütigen - eine billige Revanche, ein unfairer Tiefschlag, der dramatische Folgen hat. Allerdings macht die Situation überdeutlich, wie Joachim Linde denkt und fühlt. Für Jacob Arjouni ist seine Hauptfigur, durch deren Augen wir alles sehen

    Ein großer Verdränger und einer, der versucht, bestimmte Bilder zu erfüllen, die er von sich und dem Leben hat und wie man so zu sein hat im Leben und daran dauernd scheitert, weil die Realität mit diesen Bildern nichts zu tun hat. Also eines der idiotischsten Bilder ist sicherlich das, was er von sich hat, von sich selber. Der ist sicher kein Genie, aber er ist auch nicht unintelligent. Er kann diesen Unterschied zwischen Bild und Realität mit seiner Schläue - ich glaube, der ist schlau, der ist nicht klug und vielleicht auch intelligent, aber der hat so eine Schläue - kann diesen Unterschied verwischen für die Leute drum herum und auch für sich. Wie weit verläuft Verdrängung bewusst oder verlaufen Lügen bewusst und wie ist das Mischverhältnis. Wieweit glaubt man irgendwann seinen eigenen Lügen, wie weit geht man sich selber auf den Leim usw.. Das ist dann sicher einer, der sich selber sehr auf den Leim geht.

    Eigentlich ist man über sich selbst verblüfft, warum man solch einem Menschen durch einen ganzen Roman folgt, sich ständig seine Entschuldigungen, Selbstrechtfertigungen, Betrugsmanöver anhört. Vielleicht steckt dahinter der unbewusste Wunsch, mitzuleben, wie der Mann scheitert, endlich auf die Nase fällt. Doch so wie es im wirklichen Leben selten gerecht zugeht, so verweigert auch Jacob Arjouni die sehnlich erwünschte Strafe. Mit einem geradezu genialen Gegenangriff, der Wahrheit und Lüge raffiniert mischt, windet sich Joachim Linde aus allen Fesseln, allen Schuldzuweisungen, triumphiert über seine Gegner. Jeder kennt solche Menschen. Jacob Arjouni hält sie für gefährlich.

    Dass ich glaube, dass Politik Privatsache ist, auch Faschismus eine Privatsache ist, hat damit zu tun, wie gehe ich mit meiner Freundin um oder mit meinen Freunden. Das findet nicht im Fernsehen statt und ist nicht die große weite Welt, sondern Politik ist was ganz Privates und anhand dieser Figur dachte ich, dass ich da mal was erzählen kann und vor allem dachte ich, dass ich, wenn ich das Buch schreibe, etwas über so eine Art Mensch herauskriegen kann für mich, weil mich das schon immer beschäftigt hat.

    Das ist dem Schriftsteller gelungen. Seine Figur ist so realistisch, so lebensnah, dass man das Buch erschöpft aus der Hand legt - aber erst nach der letzten Zeile.