Archiv


"Ein weiter Weg":

August 1991: Der Putsch der Kommunisten in der Sowjetunion scheitert, überall im Land brechen die Dämme. Auch die drei baltischen Staaten erlangen nun wirklich ihre Unabhängigkeit. Zwar waren sie dafür schon zuvor eingetreten, doch niemand hatte das so recht ernst genommen. Nun aber, im Sommer 1991, beeilen sich die westlichen Regierungen, anzuerkennen, was nicht mehr zu übersehen ist. Und am 6. September 1991 stimmt auch Moskau zu. Zehn Jahre ist das nun her.

Jan Pallokat | 06.09.2001
    Die Reise in die baltischen Staaten beginnt in Russland, in der Ostsee-Metropole St. Petersburg. Am Prachtboulevard Newski-Prospekt halten kämpferische Rentnerinnen kommunistische Zeitschriften hoch und fordern lautstark die Wiederherstellung der Sowjetunion, ein Ende der Wirtschaftsreformen und einen kommunistischen Präsidenten. Beim Thema Baltikum allerdings sind die linientreuen Großmütter uneins.

    Es sei ganz gut, meint eine der Frauen, dass zwischen Deutschland und Russland noch ein Gürtel so seltsamer Staaten wie Estland oder Litauen liegt, ein Sicherheitskorridor für Russland. Eine andere Genossin widerspricht: die baltischen Provinzen hätten doch immer schon zu Russland gehört, nicht erst seit der Zeit der Sowjetunion. Dort liegen unsere Häfen, sagt sie, es sind unsere Marinestützpunkte, unsere Erde. Deswegen sagen wir: Das ist alles unser.

    Wir fragen nach: Ob sie nicht gehört haben, dass es den Menschen in Estland, Lettland und Litauen viel besser geht als den Russen, dass sie vermutlich wenig Interesse daran haben, wieder in eine Sowjetunion einzutreten.

    Leicht gesagt, dass es ihnen besser geht. Was haben die denn? Ein bisschen Textil, sonst nichts. Alles, was sie haben, stammt aus Russland. Wir haben dort alles aufgebaut, wir haben die Häfen gebaut und die Industrie. Aber die Balten waren immer schon große Nationalisten und Faschisten. Sie sind ungeheuer undankbar. Dafür gibt es nur eine Lösung: Dreht ihnen Öl und Gas ab, und dann wird ihrer Wirtschaft schon die Luft ausgehen.

    Es wirkt wie ein Aufschrei der Vergangenheit, der da aufbrandet unter den kommunistischen Rentnern von St. Petersburg. Die vorbeieilenden Menschen erreichen sie längst nicht mehr. Sie haben andere Probleme. Die Dauerkrise im Kaukasus etwa oder das Trauerspiel um den Untergang des Atom-U-Bootes Kursk - das belastet sie schon genug. Auch die Regierungen in Estland, Lettland und Litauen registrieren erleichtert: Das Baltikum ist in Moskau derzeit nicht das drängende Thema, lediglich das eher passive Nein Russlands zur NATO-Erweiterung in den Ostseeraum steht seit Jahren im Raum. Vor einem Jahrzehnt war die Situation noch ganz anders: Da beantwortete der Kreml das Autonomiestreben der besonders aufsässigen Litauer mit Ölblockaden. Und die hölzernen Grenzhäuschen, die Litauen aufstellen ließ, wurden nachts von Spezialtruppen überfallen. Inzwischen sind die letzten russischen Einheiten aus den baltischen Staaten abgezogen.

    Mitten in der litauischen Hauptstadt Vilnius, nicht weit vom einstigen Lenin-Platz, tanzt die Jugend in der Disko "gelizinas vilkas" unter den blutrotumrandeten Augen eines Styropor-Stalins zu russischem Beat, der Kellner knallt den Wodka auf eine Bar, die gepflastert ist mit Sowjetorden und Prawda-Ausschnitten. Die Tanzfläche nebenan bewacht ein anderer Besatzer: Adolf Hitler, lebensgroß und grimmig. Die Hakenkreuzbinde blinkt im Disko-Geflacker.

    Litauen sieht sich als Opfer, erst von Hitler, dann von Stalin. In der Disko sind die einstigen Eindringlinge zur bizarren Kulisse geworden für eine eigenwillige Art der Vergangenheitsbewältigung.

    Die Erwachsenen machen es nicht anders: Sie reisen zu Tausenden nach Druskininkiai in die tiefste litauische Provinz, zum "Stalin-Park" des Pilzkonservenfabrikanten Viliumas Malinauskas. In einem Waldstück hat Malinauskas Dutzende Lenins, Engels‘ und sogar einen Stalin aufgestellt – die Denkmale wachten einst an Plätzen und Straßen überall im Land. Die Säulenheiligen des Kommunismus nun nach Belieben in Wälder oder auf Abstellflächen zu verfrachten, hat etwas Befreiendes: Seinerzeit konnte schon ein kleiner Witz über sie, unbedacht erzählt, zur Deportation in die stacheldrahtumzäunten Lager Sibiriens führen, erinnert Park-Initiator Malinauskas:

    Von Geburt an haben sie uns die Geschichten eingebleut vom guten Onkel Lenin und Stalin, dem Freund der Kinder. Wenn Sie das täglich hören, dann kommt irgendwann der Moment, da glauben sie auch daran. Kommende Generationen, unsere Enkel, verdienen es zu wissen, wie es war. Allein aus Litauen wurden 360.000 Menschen nach Sibirien deportiert. Praktisch jede litauische Familie ist betroffen.

    In Litauen und den anderen baltischen Staaten gibt es Rückwärts- und Vorwärtsgewandte, Fortschrittliche und Konservative – aber stramme Sowjetnostalgiker wie die kommunistischen Rentner von St. Petersburg gibt es nicht. Für die meisten Balten war der Kommunismus weder Befreiung noch revolutionäre Hoffnung, sondern schlicht Besatzung. Als die Chance kam, ihn abzuschütteln, machten sie alle mit: In Litauen allen voran der einstige Volkstribun Vytautas Landsbergis und seine nationalistische Sajudis-Bewegung, aber auch der langjährige Landsbergis-Gegenspieler Algirdas Brazauskas, einst Sekretär für Wirtschaftsfragen und letzter Chef der KP Litauens, der aber bereits 1989 mit der Moskauer KPdSU brach. Zwischen den beiden so gegensätzlichen Politikern, dem anti-russischen Nationalisten Landsbergis und dem zum Pragmatiker gewordenen Ex-Kommunisten Brazauskas, schwankte das litauische Wahlvolk zehn Jahre lang hin und her. Schon im Herbst ’92 wählten die Litauer zur weltweiten Verwunderung die Ex-Kommunisten zurück, nur um sie vier Jahre später genauso eindeutig wieder aus dem Amt zu verjagen. Inzwischen ist der Ex-Kommunist Brazauskas wieder oben auf, er regiert seit einigen Monaten, nachdem er seine eigene Partei mit der neugegründeten Sozialdemokratischen Partei verschmolz. Kestutis Petraukis vom Nachrichtenmagazin "Veidas" ist einer der angesehensten litauischen Publizisten:

    Die Anfangsphase des Kampfes um die Unabhängigkeit ist vorbei. Das Leben ist normal geworden. Für ein normales Leben braucht man andere Leute, eine andere Generation. Leute, die vielleicht auch andere Erfahrungen haben. Jetzt ist die Zeit gekommen, alles aufzubauen, zu probieren, einen eigenen Platz zu finden, auch in Europa.

    Die Alten, ob Nationalisten oder Kommunisten, haben dafür die Grundlagen geschaffen. In den letzten zehn Jahren gelang die Aussöhnung mit dem alten Erzfeind Polen – eine Leistung, die im auf den Balkan konzentrierten Westen nur selten gewürdigt wird. Dafür wurde Litauen wiederholt wegen der zögernden Aufarbeitung der Kollaboration mit den Nazis Anfang der 40er Jahre kritisiert. Die deutschen Besatzer ermordeten damals die jüdische Mehrheit der heutigen Hauptstadt Vilnius und zerstörten damit eines der intellektuellen Zentren des Ostjudentums. Dabei fanden sie auch einige litauische Helfer. Litauen entschied sich wie die baltischen Nachbarn für den Westen, für den Beitritt in NATO und EU. Die Leute wollen leben wie im Westen, konsumieren wie der Westen, einen Stil pflegen wie den westlichen. Vor allem unter konservativer Regentschaft nahm dieser Drang Züge eines Ausverkaufs an. Dies zeigte sich etwa beim Verkauf des Ölkomplexes Mazaikiai. Obwohl es auch interessante Angebote aus dem Osten gab, setzten Landsbergis und der aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Präsident Valdas Adamkus den Verkauf der Anlagen an einen US-amerikanischen Investor durch. An dieser umstrittenen Privatisierung schieden sich die Geister – und zerbrachen gleich mehrere Regierungen. Der Journalist Petraukis:

    Von der Globalisierung sind wir auch betroffen. Da kommen große ausländische Unternehmer, die kaufen sich ein, machen kleine und mittlere Unternehmen zugrunde, die können nicht mehr konkurrieren. Das macht den Leuten Angst: Was wird dann aus uns. Das sind die Ängste, die auch im Westen sehr verbreitet sind.

    Immer deutlicher wird den Menschen in Litauen, dass sie mit ihrem Beitrittsersuchen in die Europäische Union schon jetzt viel von der gerade erst erkämpften Souveränität abgegeben haben. Denn im Brüsseler "aquis communitaire", dem seitenstarken Kriterienkatalog für Beitrittsaspiranten, ist bis zum Fettgehalt der Milch praktisch jeder Lebensbereich reguliert.

    Litauischen Politikern bleibt seither nur, im Einzelfall Ausnahmen und Übergangsfristen zu erstreiten – etwa beim Atomkraftwerk Ignalina, das 80 Prozent der litauischen Stromversorgung garantiert. Auf Druck der EU legt Litauen einen der beiden Blöcke vom Typ Tschernobyl bis 2004 still, beschränkt sich aber bislang auf eine vage Absichtserklärung zur Schließung auch des zweiten Blocks. Das Ringen um die Stromversorgung hat die Europa-Begeisterung in Litauen erheblich abgekühlt.

    Für Litauen gibt es keine Alternative. Aber diese Alternative macht ängstlich. Die Leute sehen, dass diese andere Gesellschaft, die westliche Gesellschaft, flexibler ist, besser gebildet, sie hat bessere Kenntnisse, die Menschen dort haben eine bessere berufliche Ausbildung. Das spüren die Menschen, und das macht ein bisschen Angst. Dieser Konkurrenzkampf: Wir haben wahrscheinlich nicht so viel Kraft, diesen Konkurrenzkampf durchzuhalten.

    Dennoch gab es in den vergangenen zehn Jahren keine wirkliche Opposition gegen den Beitritt in die westlichen Institutionen, weder in Litauen, noch in Lettland, und auch nicht in Estland, dem kleinsten der baltischen Staaten im hohen Nordosten des Kontinents. Estland ist mit seinen gerade einmal 1,5 Millionen Einwohnern hochflexibel – und führte marktwirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen in einem atemberaubenden Tempo durch. Der "Tiger an der Ostsee", wie der britische "Econmist" das Land taufte, hat seither anders als Litauen und Lettland einen Platz in der ersten Reihe der EU-Beitrittskandidaten – gleichauf mit Staaten wie Polen oder Tschechien. Estland hat seit Jahren eine stabile Mitte-Rechts-Regierung – und Politiker wie Heiki Kranich von einer Partei mit dem programmatischen Namen "Reformpartei".

    Es ist zu früh, vom Verteilen zu sprechen. Der Wettbewerb zwischen den Reformstaaten ist sehr hart. Estland ist so klein, jeder Fehler wird sofort Folgen haben. Von außen sieht vielleicht alles gut aus, gute Wirtschaft, gute Entwicklung. Aber von innen betrachtet sehen wir, es reicht noch nicht.

    Estland ahmt alles nach, was auch im Westen zwischenzeitlich begeisterte und Börsenregeln außer Kraft zu setzen schien: Mobiltelefone und Online-Banking erreichen inzwischen skandinavische Verbreitungsquoten, und auch eine komplette Genkarte der gesamten Bevölkerung lässt das Land derzeit erstellen, um die kommerzielle Erforschung des menschlichen Erbgutes voranzubringen. Datenschutzrechtliche oder ethische Bedenken werden kaum laut.

    Dieser radikalliberale Kurs trägt Früchte: Estland bringt es trotz seiner geringen Größe auf die unter den Reformstaaten höchsten ausländischen Direktinvestitionsraten pro Kopf. Die Hauptstadt Tallinn ist heute der zentrale Finanzplatz des Baltikums, nicht die lettische Millionenmetropole Riga. Eines aber bekommt auch das Reformlabor Estland, trotz der niedrigen Löhne, nicht in Griff: Die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich seit 1993 und liegt inzwischen bei deutlich über 14 Prozent. Dennoch lobt EU-Kommissar Günther Verheugen die Reformen Estlands als "extrem erfolgreich”.

    Doch die Zweifel wachsen, stellvertretend auch bei dieser Kunsthändlerin in der estnischen Hauptstadt Tallinn.

    Die Esten wollen immer alles besser machen. Das hat etwas mit unserer Geschichte zu tun: Weil wir hier stets sehr mächtige Nachbarn hatten. Um zu überleben, mussten wir immer etwas schlauer sein als unsere Nachbarn. Das hat bis heute überlebt. Allerdings mache ich mir derzeit Sorgen um unsere geistige Gesundheit. Denn die Veränderungen waren dermaßen schnell. Natürlich lächeln wir, wir überleben, wir verdienen. Das kann man sehen. Aber es gibt auch etwas, was man nicht sehen kann, was in uns ruht. Das macht mir Angst.

    Das diffuse Unbehagen ist inzwischen meßbar: Während am EU- und NATO-Mitgliedswunsch keine der wesentlichen estnischen Parteien zweifelt, sprach sich eine Mehrheit der Bevölkerung zuletzt gegen den EU-Beitritt aus. Das ist schon deshalb bedeutsam, weil es vor dem endgültigen Beitritt zur EU eine Volksabstimmung geben soll. Doch allein, warnt EU-Kommissar Verheugen, kann es Estland nicht schaffen:

    Ohne die EU-Perspektive wäre Estland nicht nur weniger attraktiv für Investoren, es wäre gar kein Investitionsstandort. Der Markt ist einfach zu klein.

    Eine ähnliche Rechnung machen Volkswirte auf: Sie berechnen den Zins und damit den Preis für Kapital in Estland um mehrere Prozentpunkte höher, sollte die Beitrittsperspektive wegfallen. Peeter Tulviste, Psychologie-Professor und aussichtsreicher Kandidat für die letzte Runde der Präsidentschaftswahlen Mitte September, mahnt, nach den Wirtschaftsreformen müsse man nun auch an soziale Reformen denken – ein in Estland bislang kaum gehörter Satz.

    Ich verstehe die Bedenken. Aber wenn es wirklich ernst wird, wird das Volk seine Meinung noch einmal genau abwägen. Wenn es ernst wird, folgt das Volk doch wieder den Intellektuellen.

    Auch in Lettland ist das Reformtempo hoch, und es hat sich auch in den letzten Jahren nicht verlangsamt. Dennoch begegnet man in Lettland am ehesten einer in rasanten Zeiten ungewohnten Nachdenklichkeit. Vielleicht liegt es daran, dass die lettische Millionenstadt Riga die einzige wirkliche Metropole des Baltikums ist – vielleicht auch daran, dass Lettland noch mehr auf sich allein gestellt ist als die Nachbarn im Baltikum. Denn die Esten lehnen sich an die eng verwandten Finnen an, Litauen sucht die Kooperation mit Polen. Lettland, geografisch ungünstig gelegen, muss ohne potenten Partner auskommen – und spürt den russischen Nachbarn im Rücken. Wenn Moskau, was in den letzten Jahren immer seltener vorkam, über die angebliche Diskriminierung der russischsprachigen Minderheiten im Baltikum klagte, dann war zuletzt fast immer Lettland als schwächstes Glied an der Ostsee das Ziel. Sabine Belz, Leiterin des Rigaer Goethe-Instituts, beobachtet eine gewisse Unsicherheit unter den Letten auch im eigen Staat.

    Das hat sicher auch damit zu tun, dass sie mit der Frage: was ist das Lettland, noch keine schlüssige Antwort bekommen. Haben wir schlüssige Antworten auf die Frage: Was bedeutet es heute Deutscher zu sein, jenseits von Kartoffelsalat? Eine schlüssige Antwort gibt es das nicht, für keine Nation. Aber die Letten sind der Meinung, dass sie die lettische Identität definieren müssten. Da kommen sie immer wieder ans ganze deutsche Vorfeld. Denn Lettland hat es ja vor 150 Jahren nicht gegeben. 1831 wurde die Leibeigenschaft abgeschafft.

    Lettlands und auch Estlands Geschichte ist eine Geschichte der Fremdherrschaft: Deutsche, Schweden, Russen wechselten sich ab. Beide Länder feiern seit der Unabhängigkeit die gute alte Hanse-Zeit, als handle es sich um ihre Geschichte. Dabei waren die Einheimischen stets nur die Diener der deutschen Oberschicht, und die alte Innenstadt von Riga, die sich im Rahmen der diesjährigen 800-Jahr-Feiern herausgeputzt hat, war für die Letten selbst kaum zugänglich. Dennoch stehen bei den 800-Jahr-Feiern Rigas in diesen Wochen Jugendstil-Kaufmannshäuser und Alt-Rigaer Kopfsteinpflaster im Mittelpunkt, als hätte es den russischen Einfluss auf die Region nie gegeben. Ojars Kalnins, aus Amerika zurückgekehrter Exilant und Leiter der staatlichen Marketing-Agentur "Latvijas Instituts", verteidigt dennoch das neue lettische Geschichtsbild:

    Die Deutschen, die Holländer und Schweden hatten zumindest den besseren Geschmack. Richard Wagner und Herder lebten hier, viele betrachteten Lettland zwar als Teil Deutschlands, und da irrten sie sich, aber ich denke, sie leisteten einen Beitrag zu unserer Kultur, ließen viel zurück, und das ist etwas, was wir schätzen. Sicherlich nicht die Erfahrungen vom 2. Weltkrieg und der Nazi-Zeit.

    Lettland sucht weiter nach der eigenen Identität. Die Schwierigkeiten dabei werden nirgendwo deutlicher als eben in Riga. Denn die russischsprachige Minderheit, die in den Augen vieler Letten nicht zur eigenen Identität passt, stellt in der Hauptstadt die Mehrheit. Viele der Russen sprechen die Landessprache Lettisch kaum, und von den inzwischen erleichterten Einbürgerungsmöglichkeiten machen nur wenige Gebrauch. Auch die Leiterin des örtlichen Goethe-Instituts, Sabine Belz, sieht die Schwierigkeiten: Obwohl die Russen teilweise seit Jahrzehnten in Lettland zu Hause sind, sagt Belz: Sie sind einfach anders.

    Erstaunlicherweise haben die Russen hier nicht das Gefühl, dass sie ein schlechtes Gewissen haben müssten oder dass sie eine Vergangenheit mittragen, die für dieses Land sehr schwer war. Sie treten im Gegenteil sehr selbstbewußt auf, sie haben ja auch das Kapital. Sie haben auch etwas expressiveres, extrovertierteres als die Letten, die wegen ihrer gebrochenen Identität immer etwas schwanken zwischen neuer Sicherheit und alter Unsicherheit.

    Wohl organisierte russischsprachige Rentner demonstrieren in Riga regelmäßig und beklagen sich lautstark über angebliche Benachteiligungen. Ihr kongeniales Gegenstück sind die schweigsam-gruseligen Aufmärsche lettischer SS-Legionäre, die jedes Jahr zum 16. März durch die Altstadt ziehen.

    Doch die Protagonisten dieser Gegensätze werden immer älter, registriert Stefan Hanselmann, Manager der Ziegler Mähmaschinen-Werke in Lettland und als solcher einer der wenigen deutschen Geschäftsleute im Land, die nicht nur verkaufen wollen.

    Die über 40jährigen sind so indoktriniert russisch und indoktriniert lettisch, dass da nichts mehr zu machen ist. Die Jüngeren sind viel kosmopolitischer, viele Leute sprechen englisch, die Kommunikation fällt leichter. Die sind alle gekleidet wie im Westen, die gucken alle MTV, da findet diese Globalisierung von Kultur statt. Und die macht keinen Unterschied zwischen Russen und Letten.

    Es war die einigende Kraft des Nationalismus, die die Völker an der Ostsee dazu brachte, ein Jahrzehnt rasanter, harter Reformen über sich ergehen zu lassen. Aber das hat sie zugleich von einander entfernt. Zeiten, in denen die Balten mit kilometerlangen Menschenschlangen quer durch die Region Gemeinsamkeiten demonstrieren, sind nicht mehr denkbar. Statt dessen betonen Esten, Letten und Litauer ihre Unterschiedlichkeit. Für die gibt es auch gute Gründe: Sprachlich, kulturell und historisch gibt es große Unterschiede. Der Begriff "Baltikum" verbindet vor allem durch die jüngsten Erfahrungen in der Sowjetunion und ist somit eher negativ besetzt.

    Doch statt in der globalisierten Welt unter neuen Vorzeichen die regionale Zusammenarbeit zu suchen, verrennt sich die baltische Außenpolitik in teils groteske Grabenkämpfe um Grenzen, Fischereirechte, und die Frage, wer wann und wie stark die Ostsee verschmutzen darf. Auch beim lukrativen Transithandel mit dem russischen Öl konkurrieren die baltischen Häfen, statt den russischen Ölriesen gemeinsam gegenüberzutreten. Kritische Stimmen dagegen kommen vor allem aus der Wirtschaft – wenn auch Visionen wie die von Uldis Cerps, dem Chef der Rigaer Börse, außerhalb seiner Kreise ungehört verhallen:

    Wir können doch nicht zu einem Investor in London oder Frankfurt gehen und sagen, schauen Sie her, wir haben viele gute lettische Firmen? Nein, wir müssen ein Produkt namens "Baltikum" verkaufen und vermarkten. Die Idee ist, ins Baltikum zu investieren, nicht in den lettischen oder litauischen Markt.

    Lettland, Estland, Litauen – die drei Ostsee-Länder haben in den letzten zehn Jahren weite Wege zurückgelegt. Von Ländern wie Weißrussland sind sie wirtschaftlich und nach Mentalität weit entfernt. Das Zusammenleben mit den großen Minderheiten, der Umbau der voll nach Osten ausgerichteten Volkswirtschaften – es waren große Aufgaben, die die Balten erstaunlich erfolgreich gemeistert haben. Sie haben ihre Städte verschönert, sozialistische Denkweisen zurückgedrängt, die Märkte geöffnet. Auf Marshall-Plan und großen Bruder mussten sie dabei verzichten.

    010906