Keiner erreicht das Ziel. Der Ich-Erzähler findet Gottfried nicht, die Wanda findet Gottfried nicht, der Rabe findet Gottfried nicht, warum: Weil wir nichts Richtiges über ihn wissen. Ich mach jetzt keinen fiktionalen historischen Roman, wo dann plötzlich Gottfried auftaucht, deus ex machina oder poeta ex machina. Jeder hat so seine Vorstellungen von ihm, irgendwie reimen die sich vielleicht nachher zusammen. Eine ganze Gruppe erzählt dem Autor ja verschiedenste Versionen von diesem Gottfried. Irgendwo in diesem Raum spielt sich das ab. Letztlich ist für uns nur der Dichter interessant und das, was er gedichtet hat. Insofern bereitet das ganze Vorbuch aufs Werk vor.
Bei dieser Vorbereitung hilft Wanda, eine junge kräuterkundige Frau, sie reißt zu Fuß von Krakau nach Straßburg, um für einen Adeligen nach der Geschichte von Tristan und Isolde zu fahnden, mit gleichem Auftrag, hier von einem ungarischen Fürst, fliegt ein Rabe vom Plattensee aus zum Oberrhein, in einem als "Simulation" bezeichneten Erzählfaden sind in einem Kloster an der Loire unterschiedliche Tristan-Erzählungen zusammengetragen worden, die ein französischer Dichter nun zu einem einzigen Text zusammenfügen soll.
Die Simulation weist ein in eine andere Tradition der Tristan-Sage, da hat es zwei Fassungen gegeben, Gottfried war für das höhere feinere Publikum, dann gab es so eine Art volkstümliche Version, die mit erheblich gröberen Effekten gearbeitet hat. Die wird sozusagen als Parallelgeschichte zu dem, was später kommt, schon mal vorweg geliefert, und man lernt die Motive kennen. Man lernt kennen, worum geht es in der Geschichte: junger Mann, junge Frau betrügen älteren Ehemann.
Weiterhin galoppiert ein computeranimierter mittelalterlicher Geisterreiter durch die Szenerie des VorBuchs auf der Suche nach der schönsten Frau auf Erden, und belesen und gebildet notiert der Autor selbst in der Gegenwart in sein sogenanntes "Arbeitstagebuch" Gedanken zu seiner Annäherung an Gottfried und über archäologische und kultur- und geistesgeschichtliche Erkenntnisse zum Mittelalter. Spannender als mancher historische Roman ist dieses literarische Dokudrama des VorBuchs und erhellender als mancher reine Sachtext. Kühns VorBuch schwingt uns in einen Rhythmus ein, der nötig ist, um in den Rhythmus des mittelalterlichen Romans einsteigen und mitschwingen zu können, auch um die Leistung des literarischen Großprojekts Gottfrieds zu erfassen, etwa was die Bedeutung des Körperlichen betrifft, die das Mittelalter eher gering einstufte: Der Körper als störrischer Esel, der geprügelt gehört – eine völlige Umwertung römisch-antiker Vorstellungen.
So langsam kam man dann über die Literatur dahin, daß man doch den Körper der Frau schön findet. Und das ist ja auch Gottfrieds Leistung, daß er die Frau durch die Augen des betrogenen Ehemanns sieht, der sie so schön findet, obwohl er weiß, die liegt da mit einem anderen Mann im Bett, und sich wieder in sie verliebt. Das ist grandios. Das sind Entwicklungen, die Gottfried gefördert hat. Nicht theoretisch, aber durch die konkrete Erzählung.
Dieter Kühns Tristan-Buch ist allerdings nicht neu. Schon vor 12 Jahren hatte Kühn den Versroman übersetzt und eine Einleitung vorangestellt, die aber abstrakter war und mit der jetzigen erzählerischen Version des VorBuchs mit seinen zahlreichen neuen Erkenntnissen aus Archäologie und Mediävistik nicht zu vergleichen ist. Der Anhang mit seinen biografischen Auskünften ist umfangreicher geworden, auch an der Übertragung des mittelhochdeutschen Textes und seiner strengen vierhebigen Metrik hat Kühn gefeilt...
...damit man das vom Blatt singen kann.
Und das könnte man tatsächlich. Beschwingt, elegant, farbig und kräftig klingt Kühns Übertragung. In zahlreichen schönen musikalischen Spannungsbögen hat er Gottfrieds Rhetorik aufgehen lassen, seine psychologische Genauigkeit und seine Ironie subtil nachgezeichnet.
Also eine Sache, die ich genau wie bei der Übertragung bei Wolfram herausgearbeitet habe, wir benutzen ja heute permanent von hardware bis software, jeans und sweatshirt englische oder angloamerikanische Wörter, und damals hat man auf diese Weise französische Wörter benutzt für alles, das wurde bisher gnadenlos eingedeutscht, aber das ergibt eines der Charakteristika der Sprache Gottfrieds, das ergibt ganz neue "Nuancen" und "Valeurs", diese französischen Wörter, die da eingestreut sind.
Im vorletzten Jahr hatte der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer mit einer These in seiner deutschen Literaturgeschichte für Diskussion gesorgt, die besagt, eine nennenswerte deutschsprachige Literatur beginne erst mit der Weimarer Klassik, alles Vorausgehende sei von zweitrangiger Bedeutung.
Das Buch ist inzwischen schon wieder so vergessen, daß wir da kaum drüber reden müssen. Es war mal ein kurzer Bubblegum, der aufging, aber das ist ja schon wieder vergessen. Da kann man natürlich wunderbar drüber diskutieren, aber natürlich ist das Quatsch, mit Verlaub gesagt. Gottfried und Wolfram von Eschenbach haben – in Köln ist das naheliegend zu sagen – wie die beiden Domtürme, etwas ganz Überragendes, weithin Sichtbares geschaffen, und ich sehe überhaupt keinen Anlaß jetzt da irgendwelche Maßstäbe runterzuschrauben, wo das gar nicht geht. Ich glaube, den Punkt können wir vergessen. Oder der hat sich schon von selbst vergessen. Hat sich versendet.
Dieter Kühn
Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg
S. Fischer Verlag, 865 S., EUR 24,90