Der Titel des Buches – eine Zeile aus einem Gedicht von Anna Achmatowa - klingt nach einer romantischen Liebesgeschichte. Und es ist wirklich eine große bewunderungswürdige Liebe, die die beiden Protagonisten Lew und Swetlana Mischtschenko ihr Leben lang verbunden hat: 1935 sind sie sich im Innenhof der Moskauer Universität bei den Aufnahmeprüfungen für die Physikalische Fakultät zum ersten Mal begegnet, haben 14 Jahre der Trennung durch Krieg und Straflager durchgestanden, ehe sie eine Familie gründen und mit zwei Kindern und Enkeln bis zu ihrem Tod unverbrüchlich zusammen leben konnten. Die Fotos der ernsten schönen vergeistigten Gesichter der beiden jungen Liebenden prägen sich dem Leser sogleich unvergesslich ein.
Trotzdem liegt die Substanz dieses dokumentarischen Buches nicht etwa in der Darstellung einer gefühlsseligen, zeitlosen Liebe, sondern in seiner Bedeutung als einzigartiges historisches Zeugnis, das im privaten Schicksal einzelner konkreter Menschen Zeitgeschichte fassbar macht.
Autor ist der bekannte englische Russlandhistoriker Orlando Figes, der schon mit seinem dickleibigen Band "Die Flüsterer" von 2008 - mithilfe des Archivs und der Forschungsabteilung der Menschenrechtsorganisation "Memorial" - aus einer Unmenge von Dokumenten und Interviews eine beeindruckende Alltags- und Mentalitätsgeschichte des Stalinismus zusammengestellt hat.
Als man ihm bei "Memorial" das in drei alten Holzkisten verstaute Familienarchiv der Mischtschenkos zeigte – Notizbücher, Tagebücher, Fotos und dicke Bündel von Briefen – versetzte ihn dieser Dokumentenschatz sofort in Erregung. Kernstück dieses umfassenden Archivs ist nämlich die etwa 1500 Briefe umfassende Korrespondenz der Liebenden aus den Lagerjahren 1946 bis 1954, die größte je entdeckte Sammlung von Gulag-Briefen überhaupt.
Gleich nach Kriegsende war Lew, der als Kriegsgefangener eines der berüchtigten Außenlager des KZs Buchenwald überlebt hatte, der Spionage angeklagt, zu zehn Jahren Haft verurteilt und ins nördliche Arbeitslager Petschora verschickt worden.
Der Briefwechsel stellt für Historiker des Alltagslebens einen einmaligen Glücksfall dar, weil hier über Jahre beide Seiten der Korrespondenz vorliegen: die Briefe Lews mit den detaillierten Berichten über den Lageralltag im Holzkombinat von Petschora und die Swetlanas über das schwierige Arbeits- und Familienleben im Nachkriegsmoskau, alle Briefe sorgfältig datiert und durchnummeriert. Dazu kommt, dass viele Briefe die Zensur umgingen, da sie von im Lager angestellten freien Arbeitern – meist entlassenen Exhäftlingen - herausgeschmuggelt worden waren.
Auf den Tausenden Seiten dieser Briefe entfaltet sich also mit unendlich vielen Einzelheiten die Geschichte von zwei ungewöhnlichen Menschen, die trotzdem typisch ist für die Lebenswelt der Sowjetgesellschaft der 40er und 50er-Jahre.
Der Autor hat die Fülle des Materials aus dem Privatarchiv der Mischtschenkos, dem Archiv des Heimatmuseum von Petschora und seine Erfahrungen bei Ortsbesuchen ausgewertet und lange Interviews mit den hoch betagten Protagonisten und deren Verwandten und Freunden geführt. Indem er die Vorgeschichten der Familien, die Kriegserlebnisse Lews und die Ereignisse nach der Entlassung sowie sein historisches Wissen erzählend einbringt, ist ein bewegender Roman entstanden, der im Dialog der beiden Liebenden die letzten Jahre des Stalinismus und den Beginn der Tauwetterzeit auf ungewöhnliche Weise spiegelt. Der Großteil des Buches besteht aus den authentischen Brieftexten samt vielen Fotos, Landkarten und Bleistiftskizzen aus dem Lager Petschora, das ein wichtiges Industriezentrum zur wirtschaftlichen Erschließung der Kohle- und Ölvorkommen des Nordens darstellte.
In den Briefen von Lew und Sweta findet die von Widersprüchen geprägte geistige Atmosphäre dieser schweren Zeit beredten Ausdruck: die heute kaum noch vorstellbare Mischung von normalem Alltag mit Angst und Terror, die Allgegenwart der sowjetischen Ideologie und die verblüffende Unangefochtenheit vieler anständiger Menschen davon, besonders in bestimmten Milieus der Intelligenzija mit ihrem traditionellen Ethos der Selbstlosigkeit und des Eintretens für andere.
Sweta, die in einem Forschungsinstitut für neue Methoden der Reifenherstellung aus synthetischem Kautschuk arbeitet, dessen Forschungsergebnisse auch militärisch verwendbar sind und deshalb als "Staatgeheimnis" gelten, ist durchaus aktives Mitglied der Partei und zweifelt trotzdem keinen Augenblick an der Unschuld Lews, und ihr Chef unterstützt sie mit größter Selbstverständlichkeit und ermöglicht durch Dienstreisen ihre Besuche bei ihm im Lager.
Ihre zahllosen Briefe an Lew, die in ihrem trockenen, sachlichen Duktus den Geist der technischen Intelligenz atmen, sind alles andere als sentimentale Liebesbriefe, sondern laufende Kommentare über ihren Alltag, mit denen sie den fernen Geliebten an ihrem Leben teilnehmen lässt. Sie enthalten unschätzbare Informationen über das Moskauer Nachkriegsleben, den Hunger, die langen Schlangen vor den Geschäften, das Ende der Rationierung, die Späteinkaufsläden, die 800- Jahrfeier Moskaus, die Demonstrationen am 1. Mai, die Schwierigkeit, Eisenbahnfahrkarten zu ergattern usw. Und die Listen des Inhalts der unzähligen Pakete, die sie ins Lager schickte, sprechen Bände: Fußlappen, Unterwäsche, Zahnbürsten, Medikamente, Verbandmaterial, Brillen, aber auch wissenschaftliche Lehrbücher und Fotomaterial ... .
Lews ausführliche und detailreiche Briefe über die Arbeits- und Lebensbedingungen in Petschora dokumentieren den allmählichen Wandel des Lagerwesens in der Nachkriegszeit, die wachsende Vermischung von Gulag- und Zivilwirtschaft sowie den sichtlichen Verfall der Effektivität von Zwangsarbeit und des Gulagsystems überhaupt, der sogleich nach Stalins Tod zur Entlassung von Millionen führte.
Lew arbeitet - wie Solschenizyns Iwan Denissowitsch – im Lager mit höchstem Einsatz für die Erhöhung der Kapazität des Stromkraftwerkes des Holzkombinats, lässt sich von Sweta ein Lehrbuch für Elektrotechnik schicken und unterrichtet sogar andere Häftlinge.
Seine Briefe sind sehr viel emotionaler, er wird für die häufig von Depressionen geplagte Sweta zum liebevollen Tröster. Eine große Rolle in seinen Briefen spielen die Berichte über die interessanten Persönlichkeiten seiner Mithäftlinge und deren oft erschütternde Schicksale. Er bittet um Medikamente oder andere Hilfeleistungen für sie, und Sweta tut alles, was sie kann, um auch ihnen zu helfen.
Besonders spannend sind die Berichte über Swetas mutige Besuche im Lager. Schon im Herbst 1946 war es ihr auf abenteuerliche Weise gelungen, Lew dort zu treffen, indem sie sich als Frau eines im Lager angestellten freien Arbeiters ausgab; und 1950 konnten die beiden drei glückliche gemeinsame Tage und Nächte als Mann und Frau in dem inzwischen für derartige Treffen eingerichteten Haus der Begegnung miteinander verbringen.
Die mitfühlende Anteilnahme am privaten Schicksal der Liebenden und die historischen Einblicke ins Funktionieren der spätstalinistischen Sowjetunion machen das Buch zu einer gleichzeitig emotionalen wie höchst informativen Lektüre.
Orlando Figes: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne. Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors
Aus dem Englischen und Russischen von Bernd Rullkötter
Hanser, Berlin 2012
376 Seiten, 24,90 Euro
Trotzdem liegt die Substanz dieses dokumentarischen Buches nicht etwa in der Darstellung einer gefühlsseligen, zeitlosen Liebe, sondern in seiner Bedeutung als einzigartiges historisches Zeugnis, das im privaten Schicksal einzelner konkreter Menschen Zeitgeschichte fassbar macht.
Autor ist der bekannte englische Russlandhistoriker Orlando Figes, der schon mit seinem dickleibigen Band "Die Flüsterer" von 2008 - mithilfe des Archivs und der Forschungsabteilung der Menschenrechtsorganisation "Memorial" - aus einer Unmenge von Dokumenten und Interviews eine beeindruckende Alltags- und Mentalitätsgeschichte des Stalinismus zusammengestellt hat.
Als man ihm bei "Memorial" das in drei alten Holzkisten verstaute Familienarchiv der Mischtschenkos zeigte – Notizbücher, Tagebücher, Fotos und dicke Bündel von Briefen – versetzte ihn dieser Dokumentenschatz sofort in Erregung. Kernstück dieses umfassenden Archivs ist nämlich die etwa 1500 Briefe umfassende Korrespondenz der Liebenden aus den Lagerjahren 1946 bis 1954, die größte je entdeckte Sammlung von Gulag-Briefen überhaupt.
Gleich nach Kriegsende war Lew, der als Kriegsgefangener eines der berüchtigten Außenlager des KZs Buchenwald überlebt hatte, der Spionage angeklagt, zu zehn Jahren Haft verurteilt und ins nördliche Arbeitslager Petschora verschickt worden.
Der Briefwechsel stellt für Historiker des Alltagslebens einen einmaligen Glücksfall dar, weil hier über Jahre beide Seiten der Korrespondenz vorliegen: die Briefe Lews mit den detaillierten Berichten über den Lageralltag im Holzkombinat von Petschora und die Swetlanas über das schwierige Arbeits- und Familienleben im Nachkriegsmoskau, alle Briefe sorgfältig datiert und durchnummeriert. Dazu kommt, dass viele Briefe die Zensur umgingen, da sie von im Lager angestellten freien Arbeitern – meist entlassenen Exhäftlingen - herausgeschmuggelt worden waren.
Auf den Tausenden Seiten dieser Briefe entfaltet sich also mit unendlich vielen Einzelheiten die Geschichte von zwei ungewöhnlichen Menschen, die trotzdem typisch ist für die Lebenswelt der Sowjetgesellschaft der 40er und 50er-Jahre.
Der Autor hat die Fülle des Materials aus dem Privatarchiv der Mischtschenkos, dem Archiv des Heimatmuseum von Petschora und seine Erfahrungen bei Ortsbesuchen ausgewertet und lange Interviews mit den hoch betagten Protagonisten und deren Verwandten und Freunden geführt. Indem er die Vorgeschichten der Familien, die Kriegserlebnisse Lews und die Ereignisse nach der Entlassung sowie sein historisches Wissen erzählend einbringt, ist ein bewegender Roman entstanden, der im Dialog der beiden Liebenden die letzten Jahre des Stalinismus und den Beginn der Tauwetterzeit auf ungewöhnliche Weise spiegelt. Der Großteil des Buches besteht aus den authentischen Brieftexten samt vielen Fotos, Landkarten und Bleistiftskizzen aus dem Lager Petschora, das ein wichtiges Industriezentrum zur wirtschaftlichen Erschließung der Kohle- und Ölvorkommen des Nordens darstellte.
In den Briefen von Lew und Sweta findet die von Widersprüchen geprägte geistige Atmosphäre dieser schweren Zeit beredten Ausdruck: die heute kaum noch vorstellbare Mischung von normalem Alltag mit Angst und Terror, die Allgegenwart der sowjetischen Ideologie und die verblüffende Unangefochtenheit vieler anständiger Menschen davon, besonders in bestimmten Milieus der Intelligenzija mit ihrem traditionellen Ethos der Selbstlosigkeit und des Eintretens für andere.
Sweta, die in einem Forschungsinstitut für neue Methoden der Reifenherstellung aus synthetischem Kautschuk arbeitet, dessen Forschungsergebnisse auch militärisch verwendbar sind und deshalb als "Staatgeheimnis" gelten, ist durchaus aktives Mitglied der Partei und zweifelt trotzdem keinen Augenblick an der Unschuld Lews, und ihr Chef unterstützt sie mit größter Selbstverständlichkeit und ermöglicht durch Dienstreisen ihre Besuche bei ihm im Lager.
Ihre zahllosen Briefe an Lew, die in ihrem trockenen, sachlichen Duktus den Geist der technischen Intelligenz atmen, sind alles andere als sentimentale Liebesbriefe, sondern laufende Kommentare über ihren Alltag, mit denen sie den fernen Geliebten an ihrem Leben teilnehmen lässt. Sie enthalten unschätzbare Informationen über das Moskauer Nachkriegsleben, den Hunger, die langen Schlangen vor den Geschäften, das Ende der Rationierung, die Späteinkaufsläden, die 800- Jahrfeier Moskaus, die Demonstrationen am 1. Mai, die Schwierigkeit, Eisenbahnfahrkarten zu ergattern usw. Und die Listen des Inhalts der unzähligen Pakete, die sie ins Lager schickte, sprechen Bände: Fußlappen, Unterwäsche, Zahnbürsten, Medikamente, Verbandmaterial, Brillen, aber auch wissenschaftliche Lehrbücher und Fotomaterial ... .
Lews ausführliche und detailreiche Briefe über die Arbeits- und Lebensbedingungen in Petschora dokumentieren den allmählichen Wandel des Lagerwesens in der Nachkriegszeit, die wachsende Vermischung von Gulag- und Zivilwirtschaft sowie den sichtlichen Verfall der Effektivität von Zwangsarbeit und des Gulagsystems überhaupt, der sogleich nach Stalins Tod zur Entlassung von Millionen führte.
Lew arbeitet - wie Solschenizyns Iwan Denissowitsch – im Lager mit höchstem Einsatz für die Erhöhung der Kapazität des Stromkraftwerkes des Holzkombinats, lässt sich von Sweta ein Lehrbuch für Elektrotechnik schicken und unterrichtet sogar andere Häftlinge.
Seine Briefe sind sehr viel emotionaler, er wird für die häufig von Depressionen geplagte Sweta zum liebevollen Tröster. Eine große Rolle in seinen Briefen spielen die Berichte über die interessanten Persönlichkeiten seiner Mithäftlinge und deren oft erschütternde Schicksale. Er bittet um Medikamente oder andere Hilfeleistungen für sie, und Sweta tut alles, was sie kann, um auch ihnen zu helfen.
Besonders spannend sind die Berichte über Swetas mutige Besuche im Lager. Schon im Herbst 1946 war es ihr auf abenteuerliche Weise gelungen, Lew dort zu treffen, indem sie sich als Frau eines im Lager angestellten freien Arbeiters ausgab; und 1950 konnten die beiden drei glückliche gemeinsame Tage und Nächte als Mann und Frau in dem inzwischen für derartige Treffen eingerichteten Haus der Begegnung miteinander verbringen.
Die mitfühlende Anteilnahme am privaten Schicksal der Liebenden und die historischen Einblicke ins Funktionieren der spätstalinistischen Sowjetunion machen das Buch zu einer gleichzeitig emotionalen wie höchst informativen Lektüre.
Orlando Figes: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne. Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors
Aus dem Englischen und Russischen von Bernd Rullkötter
Hanser, Berlin 2012
376 Seiten, 24,90 Euro