Der fünfjährige Julian ist hoch erfreut: Er wird nach Herzenslust kreischen und toben, denn die Mutter ist mit seiner älteren Schwester und seiner soeben geborenen kleinen Schwester auf ein paar Wochen verreist. Endlich frei herumlärmen können! Endlich hat er seinen Vater ganz für sich allein!
Der Vater war Schriftsteller, hieß Nathaniel Hawthorne, lebte von 1804 – 1864, und er gehört zu den wichtigsten Autoren der dunklen amerikanischen Romantik; sein Name wird in einer Reihe mit Melville und Poe genannt. In seinen Erzählungen und Romanen beschäftigte sich der aus einer puritanischen Familie stammende Hawthorne mit Themen wie Sünde, Schuld, Strafe und Intoleranz; in seinem Umfeld galt er als melancholisch und grüblerisch. Phasenweise lebte er mit seiner Familie sehr zurückgezogen in den Wäldern von Massachusetts. Und es heißt, dass er sich bei seinen Spazierwegen oft hinter Felsen versteckte, um nicht mit anderen Spaziergängern sprechen zu müssen.
Zwanzig Tage verbrachte Hawthorne allein mit dem kleinen Julian, und sein Tagebuch aus dem Sommer 1851 schildert die Nichtigkeiten und Banalitäten des Alltags, der von den Bedürfnissen des Sohnes bestimmt wird. Morgens versucht der Vater mit mäßigem Erfolg, Julians Haar zu kräuseln, dann holen sie Milch, wandern zum See, später ins Dorf. Zu Hause würde der Vater gern lesen, aber der putzmuntere Sohn betäubt und verwirrt ihn mit seinem endlosen Geplapper. Hawthorne notiert, was der Sohn zu sagen und zu fragen hat: Zieht der Vater heute saubere Hosen an, weil Mama vielleicht wieder kommt? Ein böser Riese hat absichtlich einen Kuhfladen so am Weg ausgelegt, dass er selbst hineintreten musste! Der Holzfäller soll die schönen Bäume draußen nicht umhauen, lieber verzichtet Julian künftig aufs Herdfeuer und trinkt seine Milch kalt! Hawthorne schreibt:
"Gott sei mir gnädig, wurde je ein Mann so sehr mit Kindergerede gepeinigt wie ich?"
Aber natürlich liebt er das Kind, verwöhnt es vor dem Schlafengehen mit Scheingefechten und passt sich ihm an. Wenn Julian das Brot nicht schmeckt, sagt Hawthorne:
"Aber es ist mit Hefe gebacken!"
Das verändert in den Augen des Söhnchens natürlich alles.
Der Autor, dessen Romane in einer dichten, hochkomplexen Sprache geschrieben sind, notiert in seinem Tagebuch impulsiv, einfach und teils fast naiv, wie er seine Tage verbringt.
Nun könnte man fragen: Warum soll man lesen, dass Julian so wie gestern auch heute Disteln köpft, dass das Kind, "seine Majestät" oder "der alte Gentleman" sein Schaukelpferd reitet und nimmermüde im Sand gräbt? Paul Auster schreibt in seinem Nachwort, das durch ausführliche Zitate des schon bekannten Textes von Hawthorne arg in die Länge gezogen ist: Wenn man bei diesem Dokument von Größe sprechen wolle, dann von einer Größe der Miniatur. Etwas gewunden erklärt Auster weiter, die Qualität beruhe im Grunde allein auf dem Vergnügen derjenigen Leser, die die Gegenwart von Kindern genießen würden. Das heißt im Klartext: Hier hat man es nicht mit einem ausgearbeiteten Stück Literatur, sondern eben schlicht mit privaten Aufzeichnungen zu tun. Natürlich lässt sich spekulieren, ob bestimmte Beobachtungen an den Kindern beispielsweise in die Figur der kleinen Pearl aus Hawthornes Roman "Der scharlachrote Buchstabe" einflossen. Aber es ist ein weitverbreiteter Irrtum, anzunehmen, dass Autoren ihre Mitmenschen lediglich unter dem Gesichtspunkt der literarischen Verwertbarkeit betrachten.
Die Notizbücher Hawthornes waren vor allem für den privaten Austausch bestimmt. Seine Frau Sophia sollte sie lesen; nach ihrer Heimkehr sollte sie über die Briefe ihres Mannes hinaus wissen, was sich zu Hause abgespielt hatte. Auster erklärt, dass Frau und Kinder ihrerseits in das Familiennotizbuch schrieben beziehungsweise kritzelten und malten. Man würde gern einmal das Original dieses Notizbuchs sehen, das offenbar ein authentischer Vorläufer unseres heutigen Bilderdatenmülls über das Heranwachsen von Kindern war. In dem handschriftlichen "Müll" von Hawthornes Notizbüchern finden sich aber auch Perlen. So zitiert Paul Auster im Nachwort den folgenden Wortwechsel, der sich bei Tisch nach dem Abendessen abgespielt hat. Vater: "Lass mich dir dein Lätzchen abnehmen". Kind: "Lass mich deinen Kopf abnehmen!" Solche Fundstücke gibt es allerdings in Hawthornes Buch nicht allzu häufig; der Autor hat auch viel mit sich selbst zu tun. Mal ist er erkältet, mal stört ihn das Kaninchen Bunny. Mal ist es draußen zu heiß, mal brechen Bekannte überraschend ein und er vermisst seine praktische Ehefrau. Man spürt, hier befindet sich ein Mann auf etwas unsicherem Gelände. Die Notiz, wie er einen Wespenstich bei seinem Sohn behandelt, hat etwas Fragendes, als suche er den Rat seiner Frau.
So privat die Aufzeichnungen sind, so allgemeingültig wirken sie dann auch wieder, zumindest für eine bestimmte Psychoklasse: Die Hawthornes waren Eltern, die weniger auf Disziplin, Strenge und Autorität als auf Freundlichkeit und annähernde Gleichberechtigung setzten. Der Bericht über einen Tag im März 1848, den Auster im Nachwort zitiert, verzichtet auf moralisierende Urteile oder sentimentale Floskeln, wie man sie im 19. Jahrhundert vielleicht erwarten könnte; es ist, als würde Hawthorne einfach mitstenografieren. Ein Exerzitium in Geduld.
"Zwanzig Tage mit Julian und little Bunny" ist ein bescheidener, trockener und dann wieder witziger Bericht, der gerade in seinen Wiederholungen, in dem Seufzen über das ewige Einerlei die Tür zum Raum der Kindheit aufstößt: Das Zeitempfinden verändert sich. Als Leser kann man sich mühelos in die Position des Erwachsenen wie in die des Kindes versetzen. Für den im Sand grabenden Jungen ist der nächste Tag himmelweit weg, er lebt ausschließlich in einer unendlichen Gegenwart. Umgekehrt ist ein Tag, sind zwanzig Tage lang mit seinem energiegeladenen Kind für den Vater so, als stünde die Zeit still. Und doch ist an dem Söhnchen selbst alles Bewegung und Veränderung, von Augenblick zu Augenblick.
Hawthornes Aufzeichnungen gewinnen den spröden Charme einer Idylle, die für den Vater im Grunde erst künftig wieder eine werden wird: dann nämlich, wenn seine Frau sich als schützende Pufferzone zwischen ihn und das Kind stellt.
Nathaniel Hawthorne: Zwanzig Tage mit Julian und Little Bunny. Deutsch von Alexander Pechmann. Mit einem Nachwort von Paul Auster. Jung und Jung. 128 Seiten. 18 Euro.
Der Vater war Schriftsteller, hieß Nathaniel Hawthorne, lebte von 1804 – 1864, und er gehört zu den wichtigsten Autoren der dunklen amerikanischen Romantik; sein Name wird in einer Reihe mit Melville und Poe genannt. In seinen Erzählungen und Romanen beschäftigte sich der aus einer puritanischen Familie stammende Hawthorne mit Themen wie Sünde, Schuld, Strafe und Intoleranz; in seinem Umfeld galt er als melancholisch und grüblerisch. Phasenweise lebte er mit seiner Familie sehr zurückgezogen in den Wäldern von Massachusetts. Und es heißt, dass er sich bei seinen Spazierwegen oft hinter Felsen versteckte, um nicht mit anderen Spaziergängern sprechen zu müssen.
Zwanzig Tage verbrachte Hawthorne allein mit dem kleinen Julian, und sein Tagebuch aus dem Sommer 1851 schildert die Nichtigkeiten und Banalitäten des Alltags, der von den Bedürfnissen des Sohnes bestimmt wird. Morgens versucht der Vater mit mäßigem Erfolg, Julians Haar zu kräuseln, dann holen sie Milch, wandern zum See, später ins Dorf. Zu Hause würde der Vater gern lesen, aber der putzmuntere Sohn betäubt und verwirrt ihn mit seinem endlosen Geplapper. Hawthorne notiert, was der Sohn zu sagen und zu fragen hat: Zieht der Vater heute saubere Hosen an, weil Mama vielleicht wieder kommt? Ein böser Riese hat absichtlich einen Kuhfladen so am Weg ausgelegt, dass er selbst hineintreten musste! Der Holzfäller soll die schönen Bäume draußen nicht umhauen, lieber verzichtet Julian künftig aufs Herdfeuer und trinkt seine Milch kalt! Hawthorne schreibt:
"Gott sei mir gnädig, wurde je ein Mann so sehr mit Kindergerede gepeinigt wie ich?"
Aber natürlich liebt er das Kind, verwöhnt es vor dem Schlafengehen mit Scheingefechten und passt sich ihm an. Wenn Julian das Brot nicht schmeckt, sagt Hawthorne:
"Aber es ist mit Hefe gebacken!"
Das verändert in den Augen des Söhnchens natürlich alles.
Der Autor, dessen Romane in einer dichten, hochkomplexen Sprache geschrieben sind, notiert in seinem Tagebuch impulsiv, einfach und teils fast naiv, wie er seine Tage verbringt.
Nun könnte man fragen: Warum soll man lesen, dass Julian so wie gestern auch heute Disteln köpft, dass das Kind, "seine Majestät" oder "der alte Gentleman" sein Schaukelpferd reitet und nimmermüde im Sand gräbt? Paul Auster schreibt in seinem Nachwort, das durch ausführliche Zitate des schon bekannten Textes von Hawthorne arg in die Länge gezogen ist: Wenn man bei diesem Dokument von Größe sprechen wolle, dann von einer Größe der Miniatur. Etwas gewunden erklärt Auster weiter, die Qualität beruhe im Grunde allein auf dem Vergnügen derjenigen Leser, die die Gegenwart von Kindern genießen würden. Das heißt im Klartext: Hier hat man es nicht mit einem ausgearbeiteten Stück Literatur, sondern eben schlicht mit privaten Aufzeichnungen zu tun. Natürlich lässt sich spekulieren, ob bestimmte Beobachtungen an den Kindern beispielsweise in die Figur der kleinen Pearl aus Hawthornes Roman "Der scharlachrote Buchstabe" einflossen. Aber es ist ein weitverbreiteter Irrtum, anzunehmen, dass Autoren ihre Mitmenschen lediglich unter dem Gesichtspunkt der literarischen Verwertbarkeit betrachten.
Die Notizbücher Hawthornes waren vor allem für den privaten Austausch bestimmt. Seine Frau Sophia sollte sie lesen; nach ihrer Heimkehr sollte sie über die Briefe ihres Mannes hinaus wissen, was sich zu Hause abgespielt hatte. Auster erklärt, dass Frau und Kinder ihrerseits in das Familiennotizbuch schrieben beziehungsweise kritzelten und malten. Man würde gern einmal das Original dieses Notizbuchs sehen, das offenbar ein authentischer Vorläufer unseres heutigen Bilderdatenmülls über das Heranwachsen von Kindern war. In dem handschriftlichen "Müll" von Hawthornes Notizbüchern finden sich aber auch Perlen. So zitiert Paul Auster im Nachwort den folgenden Wortwechsel, der sich bei Tisch nach dem Abendessen abgespielt hat. Vater: "Lass mich dir dein Lätzchen abnehmen". Kind: "Lass mich deinen Kopf abnehmen!" Solche Fundstücke gibt es allerdings in Hawthornes Buch nicht allzu häufig; der Autor hat auch viel mit sich selbst zu tun. Mal ist er erkältet, mal stört ihn das Kaninchen Bunny. Mal ist es draußen zu heiß, mal brechen Bekannte überraschend ein und er vermisst seine praktische Ehefrau. Man spürt, hier befindet sich ein Mann auf etwas unsicherem Gelände. Die Notiz, wie er einen Wespenstich bei seinem Sohn behandelt, hat etwas Fragendes, als suche er den Rat seiner Frau.
So privat die Aufzeichnungen sind, so allgemeingültig wirken sie dann auch wieder, zumindest für eine bestimmte Psychoklasse: Die Hawthornes waren Eltern, die weniger auf Disziplin, Strenge und Autorität als auf Freundlichkeit und annähernde Gleichberechtigung setzten. Der Bericht über einen Tag im März 1848, den Auster im Nachwort zitiert, verzichtet auf moralisierende Urteile oder sentimentale Floskeln, wie man sie im 19. Jahrhundert vielleicht erwarten könnte; es ist, als würde Hawthorne einfach mitstenografieren. Ein Exerzitium in Geduld.
"Zwanzig Tage mit Julian und little Bunny" ist ein bescheidener, trockener und dann wieder witziger Bericht, der gerade in seinen Wiederholungen, in dem Seufzen über das ewige Einerlei die Tür zum Raum der Kindheit aufstößt: Das Zeitempfinden verändert sich. Als Leser kann man sich mühelos in die Position des Erwachsenen wie in die des Kindes versetzen. Für den im Sand grabenden Jungen ist der nächste Tag himmelweit weg, er lebt ausschließlich in einer unendlichen Gegenwart. Umgekehrt ist ein Tag, sind zwanzig Tage lang mit seinem energiegeladenen Kind für den Vater so, als stünde die Zeit still. Und doch ist an dem Söhnchen selbst alles Bewegung und Veränderung, von Augenblick zu Augenblick.
Hawthornes Aufzeichnungen gewinnen den spröden Charme einer Idylle, die für den Vater im Grunde erst künftig wieder eine werden wird: dann nämlich, wenn seine Frau sich als schützende Pufferzone zwischen ihn und das Kind stellt.
Nathaniel Hawthorne: Zwanzig Tage mit Julian und Little Bunny. Deutsch von Alexander Pechmann. Mit einem Nachwort von Paul Auster. Jung und Jung. 128 Seiten. 18 Euro.