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Eindrücke aus dem Märtyrerdorf

Bis heute gilt das SS-Massaker von Oradour als Symbol für den Nazi-Terror in Frankreich. Als erster deutscher Spitzenpolitiker wird Bundespräsident Joachim Gauck heute das von Deutschen am 10. Juni 1944 niedergebrannte Oradour-sur-Glane besuchen.

Von Ursula Welter |
    Zentralmassiv. Das ländliche Limousin. Wälder, saftige Wiesen, gastfreundliche Menschen. Der sanfte Sommerwind fängt sich in den Pappeln am Dorfrand. Oradour-sur-Glane liegt in einer friedlichen Landschaft. Ein Sommertag, ähnlich dem 10. Juni 1944.

    Alle Schulen haben an diesem Tag Unterricht, auch für die Kleinsten. Aus den umliegenden Weilern sind viele Männer ins Dorf gekommen, weil die Tabakrationen verteilt werden. Oradour am Flüsschen Glane ist ein gut entwickeltes Dorf, mit seiner Eisenbahnlinie, seinen zahllosen Geschäften.

    Gegen 14 Uhr umstellt eine Einheit der SS-Panzerdivision "Das Reich" das Dorf. Die Bewohner sind ahnungslos. Soldaten durchstreifen die Stadt. Von Ausweiskontrolle ist die Rede, die Menschen werden auf dem Festplatz zusammengetrieben.

    Am Ende des Tages brennen alle Häuser, die Kirche, 642 Menschen sind tot, Männer, Frauen, Kinder, Neugeborene. Ein Massaker im von den Nazis besetzten Frankreich, minutiös geplant.

    "Auf diesem Platz wurde die Bevölkerung geteilt."

    Walter ist einer der sachkundigen Wächter im "Märtyrerdorf". Die Ruinen von Oradour-sur-Glane ragen bis heute in den blauen Himmel. Charles de Gaulle hatte den Erhalt der Mauern im März 1945 angeordnet, zur Mahnung für die Nachwelt.

    "Auf der einen Seite die Frauen und Kinder, auf der anderen die Männer."

    Walter steht am Rande des alten Festplatzes. Am Rande ein ausgebranntes Auto. Die schmale Hauptstraße fällt leicht ab, zum Flusstal.

    "Die Frauen und Kinder, mehr als vierhundert, mussten in den unteren Teil des Dorfes gehen, zur Kirche, die rund 200 Männer blieben zunächst auf dem Festplatz, wurden dann in sechs Gruppen geteilt, in Scheunen, Garagen gebracht, zunächst bewacht, dann alle erschossen, massakriert."

    Zeitgleich, ein simultanes Morden. Die Frauen und Kinder sind in der Kirche eingesperrt worden, sie hören die Schüsse.
    "Sie haben keine Schreie gehört, sie haben die Gewehrsalven gehört, da machte sich Angst in der Kirche breit, das kann man sich vorstellen."

    Die Bewohner von Oradour wussten um die Gefährlichkeit der deutschen Besatzer, aber an dieses Ausmaß an Brutalität, an Unmenschlichkeit, glaubte niemand zu diesem Zeitpunkt.

    "Vergessen wir nicht, dass 400 Frauen und Kinder durch diese Tür in die Kirche gezwängt wurden, dass es nur eine Überlebende gab, nur durch diese Frau wissen wir, was an diesem 10. Juni in der Kirche geschehen ist."

    Viele Besucher sind an diesem Tag an die Erinnerungsstätte gekommen. Kinder lärmen im Sonnenschein, Touristen machen Fotos. Aber als Walter im Kircheninnern zu schildern beginnt, was damals war, legt sich bedrückte Stille über den Ort:

    "Für die Ermordung der Frauen und Kinder verwendete die SS Gas, es gab Explosionen am Dach, am Gewölbe, es wurde dann in die Menge geschossen."

    "Hier in der kleinen Kapelle, sehen Sie, da haben wir eine kleine Stahlbarriere gebaut, um die Besucher fernzuhalten, aus Respekt vor den Opfern, hier stapelten sich die Körper meterhoch, ein Teil der Frauen und Kinder hat versucht, durch diese kleine Tür hier ins Freie zu gelangen - aber die Tür öffnet sich nach innen und in der Panik ..."

    Die SS bewachte die brennende Kirche und schießt auf jede, die zu fliehen versucht.

    "Man schafft es niemals, sich das vorzustellen."

    Der sportliche Mann mittleren Alters reibt sich die Augen:

    "Die Spannung, die Angst, muss einen Grad erreicht haben, den man sich nicht vorstellen kann. Es gibt diesen Moment, dort in der Kirche, da ist man nah dran, da schnürt sich die Kehle zu, da werden die Hände nass, man spürt auch 69 Jahre danach, wie die Menge durchatmet, die Spannung ist zu stark, da kann man vielleicht auch 2013 ahnen, was die Menschen, die Frauen und Kinder durchgemacht haben, diese Gefühle, das war ein Tsunami ..."

    Walter wendet das Gesicht ab. Setzt seinen Weg durch die Ruinen fort, die im strahlenden Sonnenlicht wie eine unwirkliche Kulisse wirken.

    Weiter oben am Hang ist ein neues Oradour-sur-Glane aufgebaut worden, manche Familien der Opfer wohnen noch dort, sie kommen regelmäßig in ihre ausgebrannte Häuser, wollen ihren Angehörigen nah sein.

    Den Dorffriedhof von einst gibt es auch noch. Auf den Gräbern die Bilder. Lachende Kindergesichter, Frauen, die sich für die Fotos hübsch gemacht hatten, Männer im Sonntagsanzug. Nur wenige Gräber tragen die Aufschrift "Hier ruht".

    "Was die Trauer zusätzlich schwer macht, ist, dass nur 51 Körper identifiziert werden konnten, von 642."

    Viele Angehörige, sagt Walter, fragen sich bis heute, wie ihre Lieben gestorben sind. Direkt, oder qualvoll in den Flammen.

    Der Wächter sagt: "Oradour-sur-Glane, diese Geschichte ist nicht zu Ende."

    Und tatsächlich: Im Frühjahr 2013 waren deutsche Staatsanwälte in Oradour-sur-Glane. In der Stasiunterlagenbehörde war Material aufgetaucht, das neue Ermittlungen über mutmaßliche Täter möglich macht. Ausgang offen.

    Und es sind immer noch Revisionisten am Werk, die das Massaker im Sinne der Nazis deuten, als Vergeltung der Besatzer gegen die Résistance. Auch um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, gibt es seit 1999, am Fuße des Märtyrerdorfes, ein Gedenkzentrum, zur historischen Einordnung. Viele Schulgruppen kommen hierher, auch deutsche Jugendliche.

    Menschen wie Walter, und auch die letzten Überlebenden des Massakers, reichen hier die Hände zur Versöhnung.

    Eines, sagt Walter, schmerze die Menschen bis heute besonders. Die Frage:

    "Warum Oradour, warum wir, wir hatten nichts getan, wir hatten das nicht verdient."