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Eine afghanische Frau spricht

Zehn Jahre Ehe, zehn Jahre Schmerz: Als ihr Mann verletzt ins Koma fällt, beginnt seine junge Ehefrau, mit ihm zu reden. "Stein der Geduld" ist ein famoser Film über Einsamkeit und Begehren, über das Sprechen und die Stille.

Von Josef Schnelle | 10.10.2013
    An der Seite ihres schwer verletzten Mannes kniet eine junge Frau. Der Mann liegt im Koma. Sie muss bei ihm bleiben in den Ruinen von Afghanistan. Sonst kann sie nichts mehr tun. Ab und zu kommt der Imam vorbei, um zu beten. Wenn sie sagt, sie habe ihre Tage, dann schleicht er sich davon. Die Frau ergreift ihre Chance. Sie beginnt zu reden vor dem schweigenden Mann.

    "Seit drei Wochen lebst Du jetzt mit dieser Kugel in Deinem Nacken. Du lebst so lange, bis Du mich von meinem Schmerz befreit hast. Nach zehn Jahren Ehe kann ich Dir jetzt alles erzählen. Es mussten 10 Jahre vergehen."

    Der afghanische Autor Atiq Rahimi lebt in Paris. Er hat ein Buch geschrieben. Einen Bestseller, der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Er handelt vom Monolog einer Frau, die ihrem Mann im Koma endlich alles erzählen kann. Sie weiß nicht, ob er irgendetwas von dem versteht, was sie erzählt. Aber zuhören – das muss er. Für sie ist er wie der "Stein der Geduld" aus einer alten afghanischen Legende. Stellvertretend für alle Männer muss er zuhören, immer nur zuhören - bis er daran zerbricht. Eine Tante, sie ist Prostituierte geworden, erklärt ihr, was es mit dem "Stein der Geduld" auf sich hat.

    "Wenn Du diesen Stein irgendwann findest, erzähl ihm von deinen Sorgen, deinen Geheimnissen. Der Stein wird Dir zuhören. All die Dinge, die Du nie wagst auszusprechen, erzähl' sie ihm. Du erzählst und erzählst. Und er hört sich Deine Geheimnisse an. Er ist einfach nur da und hört Dir zu. Irgendwann wird dieser Stein entzwei gehen. Er zerfällt in tausend Stücke. Und ab diesem Tag wirst Du frei sein und von all Deinen Schmerzen erlöst."

    Dieser Film ist ein einziger, stilistisch präziser Monolog. Die junge Frau redet vom schmerzensreichen Drama, das ihre Ehe für sie bedeutet hat, von ihren Wünschen, ihren Sehnsüchten und Geheimnissen. Das ist ein gewagtes Filmprojekt. Eine Hauptfigur redet. Doch entspricht die Umsetzung Atiq Rahimis Romanvorlage kongenial. Das nicht-dialogisch gesprochene Wort entspricht eigentlich nicht dem stets auf neue Attraktionen und Sprechhaltungen setzenden Bild-Textkonglomerat des Films. Eigentlich befinden sich die Zuschauer nun aber in der Lage des schweigend und apathisch daliegenden Mannes. Rahimi setzt auf die Kraft seines Textes. Dagegen illustriert er das Umfeld nur mit wenigen atmosphärisch dichten Bilder und Szenen.

    Vor allem aber vertraut er seiner Hauptdarstellerin Golshifteh Farahani, der iranischen Grace Kelly – bekannt aus "All About Elly" 2009 und "Huhn mit Pflaumen" 2012. Ihr betörend schönes Gesicht trotzt jedem Schleier. Selbst wie sie – die Burka - um sich schlingt, das hat stets eine ganz besondere Grazie und zeugt von Selbstbewusstsein. Die junge Frau im Film wird von Minute zu Minute mutiger. Wenn man denn sicher wäre, dass der Mann im Koma sie versteht, dann könnte der Monolog sogar als Quälerei verstanden werden. Eines Tages interessiert sich ein junger Soldat für sie, hält sie sogar für eine Prostituierte und sie gibt sich ihm hin für Geld. Schlimmer noch - sie erzählt ihrem regungslosen Mann vom Sieg der Begierde über die soziale Einsamkeit, zu der sie eigentlich verdammt ist.

    "Hätte ich so mit Dir gesprochen, hättest Du mich längst getötet. Deine Seele, das war alles, was jemals für Dich gezählt hat: Deine Seele; Deine Ehre. Aber ich? Ich zählte nicht. Ich war nur ein Stück Fleisch. Ich nehme die Hand dieses Jungen und lege sie auf meine Brust. Ich lege sie zwischen meine Schenkel. Er sagt nichts. Ich zeige ihm ganz genau, was er wo und wie machen soll."

    Atiq Rahimi ist ein famoser Film über Sprechen und Stille, über Einsamkeit und Begehren, über Frauen und Männer und den Kampf der Geschlechter gelungen.