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Eine andere Moderne

Estland hat ein nationales Kunstmuseum bekommen. Die Ausstellung in der Hauptstadt Tallin wirft auch ein deutliches Schlaglicht auf die politische Geschichte des Landes. Die Moderne im Estland der Sowjetzeit sei eine andere gewesen als die europäische Moderne, sagt Museumsdirektorin Sirje Helme.

    Im vornehmen Tallinner Stadtpark Kadriorg, deutsch Katharinental, gibt es ein barockes Zarenschloss, Schwanenteich und Sommer-Pavillon, hohe, alte Parkbäume und Straßenschilder, die vor kreuzenden Eichhörnchen warnen. Hier, nur wenige Straßenbahnhaltestellen vom Zentrum der estnischen Hauptstadt entfernt, residiert seit der Wende der estnische Präsident. Doch seit kurzem ist etwas anders. Tritt der Präsident an seinen Wachen vorbei auf den Vorplatz des Palastes, dann sieht er etwas, dass ihn ganz klar überragt. Grünlich schimmert es zwischen den Bäumen hindurch, fünf Stockwerke hoch: das Estnische Kunstmuseum, KUMU. Museumsleute bringt die Idee zum Schmunzeln, dass die Kunst jetzt über dem Staatsoberhaupt thront. Vor allem eines aber bedeutet der Bau: Estlands Rückkehr zur Normalität, nach der wiedererlangten Staatlichkeit nun auch auf dem Gebiet der Kunst. Sirje Helme, die KUMU-Direktorin:

    "Anfang der 90er Jahre war es ganz klar: Wir brauchen ein Museum. Wir waren das letzte europäische Land, dass so etwas nicht hatte. In den 80ern bekam in Westeuropa jedes kleine Land ein neues Kunstmuseum. Es gab also einen internationalen Wettbewerb, und ein junger Finne gewann."

    Pekka Vapaavuori heißt der Mann aus dem sprachverwandten Nachbarland, das Estnische Kunstmuseum war sein erstes größeres Projekt:

    "Es war 1994, 1. April, also der 'fool’s day', als ich den Anruf bekam. Ein interessanter Ausgangspunkt für solch ein Projekt. Mein Anrufbeantworter hatte das aufgezeichnet, und es gab im Hintergrund viel Gelächter wie von einer Bar. Sie hatten nämlich ein großes Fest gefeiert an dem Abend - und den Briefumschlag geöffnet."

    Der Bau selbst indes ist eher sachlich. Leicht geschwungen erstreckt er sich den Hügelkamm entlang. Die Außenhaut aus grünlich patiniertem Kupferblech und mattem Glas erinnert stark an das Haus der Nordischen Botschaften in Berlin. Für die Kunst selbst sind 5000 Quadratmeter Ausstellungsfläche reserviert. Sirje Helme, die Museumsdirektorin, konnte aus über 55.000 Stücken wählen, Bilder, Drucke, Plastiken, die bisher in diversen kleineren Museen und Depots rund um Tallinn verstreut waren und den Fundus des Museums bilden.

    "Es wurde geplant als Museum in zwei Teilen. Unsere Ausstellung beginnt mit dem 18. Jahrhundert und geht bis 1990. Es gibt zwei Ausstellungen, Vor- und Nachkriegszeit. Das heißt, wir folgen nicht der klassischen Einstufung, Klassische Moderne, Nachkriegsmoderne, Avantgarde, und so weiter, und zeitgenössische Kunst ab den 60er Jahren. Unsere zeitgenössische Kunst beginnt erst mit den 90ern. Einen eigenen Museumsbereich dafür zu reservieren, funktioniert nicht. Dafür hatte sie einfach zu wenig Zeit, sich zu entfalten."

    Die Teilung in Vor- und Nachkriegszeit ist sinnvoll. Der Einschnitt, den der Beginn der Sowjetzeit bedeutete, erfasste alle Lebensbereiche tief, auch die Kunst. Deutlich wird beim Rundgang durch den Vorkriegsabschnitt, wie eng sich Estlands Künstler damals an den großen europäischen Strömungen orientierten. Das ändert sich nicht schlagartig mit dem Beginn der sowjetischen Zeit, doch kommt zugleich Staatstragendes ins Spiel: monumentale Stalin-Darstellungen und sozialistischer Realismus. Die Ausstellungsmacher trauten sich, diese Bilder auch aufzuhängen in der nationalen Galerie - neben jene mutigeren, unangepassten, bisweilen subversiven Arbeiten, die damals auch entstanden. Das ist deswegen so bedeutsam, weil nach der Wende viele Esten so taten, als ginge sie die Sowjetzeit gar nichts an, als sei sie ein böser Traum gewesen, der sie nie wirklich beeinflusst habe.

    Helme: "Anfang der 90er Jahre, als die Grenzen aufgingen und wir erstmals unsere Bilder draußen zeigen konnten, war unsere Kernbotschaft: Wir haben Verbindungen zur europäischen Kunst. Wir haben immer europäisch gedacht, europäisch gemalt. Unser Wertesystem war das gleiche. Jetzt aber nach 15 Jahren überdenken wir das. Und ich stimme der These der "verschiedenen Modernen" zu: Es war die Moderne, aber eine andere. Das ist ja auch normal. Die Umstände waren anders."

    Und damit künftig auch die noch junge Gegenwartskunst des Landes weiter gedeiht, widmet sich ein ganzer Trakt im Gebäude aktuellen Arbeiten in Wechselausstellungen. Denn eines sei ihr wichtig: Dass die große Energie und Experimentierlust, die in den 90er Jahren Estlands Erstarrung löste, wenigstens im Kunstmuseum erhalten bleibt. Denn oft sagen Esten heute nach den Stürmen der Veränderung, wir haben genug Bewegung erlebt, jetzt einmal langsam.

    "Die Leute wollen am liebsten provinziell leben, warum auch nicht. Aber wenn die Kultur das anstrebt, dann können wir einpacken. Das zu verhindern, gehört zu unseren Ambitionen."