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Eine Arena ohne Regelwerk

Zwischen Arm und Reich hat sich in Deutschland eine drastische Spanne aufgetan, die der Historiker Hans-Ulrich Wehler auf den Einbruch der neoliberalen Theorie im vergangenen Jahrzehnt zurückführt. Sie gehe "von der geradezu aberwitzigen Vorstellung aus, dass der Markt eine Arena sei, die keines Regelwerks bedürfe". Es sei Aufgabe der Politik, solche neuen Regeln endlich wieder einzuführen.

Hans-Ulrich Wehler im Gespräch mit Peter Kapern |
    Peter Kapern: Der Historiker Hans-Ulrich Wehler, ein Experte der historischen Empirie, hat gerade ein Buch über die soziale Ungleichheit geschrieben. "Die neue Umverteilung", so heißt es. Ihn habe ich vor der Sendung gefragt, wie er den Streit um den Reichtums- und Armutsbericht bewertet.

    Hans-Ulrich Wehler: Es gab ja einen ersten Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts und aus der ersten Fassung ging hervor, dass in der Berichtsspanne - das sind jeweils vier Jahre - der Reichtum, also Vermögen und Einkommen, nach oben gewandert waren, in der gesellschaftlichen Pyramide, und zwar das Nettovermögen von vier Billionen auf neun Billionen nach oben, und zwar ganz wesentlich zu den obersten zwanzig, ganz drastisch sogar zu den obersten zehn Prozent. Und dem steht gegenüber eine Stagnation der Realeinkommen in den letzten zehn Jahren, wobei die Bundesrepublik das einzige europäische Land ist, das sich so etwas erlaubt. Also das ist schon eine drastische Spanne, die sich da aufgetan hat.

    Kapern: Kann man daraus sogar schließen, dass sich die Schere immer weiter öffnet, oder ist das sozusagen ein Zustand, der über Jahrzehnte mittlerweile stabil ist?

    Wehler: Nein, das hat sich in den letzten zehn Jahren ausgebildet. Man kann sogar im Grunde sagen, dass die alte Bundesrepublik dank der pragmatisch klugen Politik von Unternehmern und Gewerkschaften etwa 40 Jahre lang das erwirtschaftete Sozialprodukt ziemlich verteilungsgerecht verteilt hat. Dann kommt der Einbruch der sogenannten neoliberalen Theorie. Die ging von der geradezu aberwitzigen Vorstellung aus, dass der Markt eine Arena sei, die keines Regelwerks bedürfe. Da hatten eben die Akteure gegeneinander anzutreten und dann sollte sich am Ende das Gemeinwohl herausstellen. Das ist nun definitiv durch die große Finanzkrise dementiert worden und jetzt ist das große Aufgabenbündel der gegenwärtigen Politik, solche neuen Regeln endlich verbindlich wieder einzuführen.

    Kapern: Wie konnte es geschehen, Herr Wehler, dass der alten verteilungsgerechten Bundesrepublik, die ja doch auch große ökonomische Erfolge aufzuweisen hatte, der Garaus gemacht wurde, so urplötzlich durch den Neoliberalismus?

    Wehler: Wenn ich mal zurückblicke - es gab mal um 1900 den Durchbruch des sogenannten Sozialdarwinismus, wo der Kampf der Tüchtigsten und Besten dazu führte, dass diese sich im Kampf um das Dasein durchsetzten, und so muss man jetzt zurückblicken auf eine Phase in den 90er-Jahren und im frühen neuen Jahrhundert, in der sich dieser merkwürdige ideologische Duktus durchsetzte, dass - ich kann es nicht anders sagen - in der Arena des Marktes im Grunde genommen jetzt sozusagen das freie Spiel der Kräfte allein vorherrsche, und dem ist man eine Zeit lang gefolgt. Das beginnt in der Bundesrepublik so etwa in der Mitte der 80er-Jahre, setzt sich dann immer stärker durch, ist auch in gewisser Hinsicht unsicher vom politischen Regime. Also das hält sich in der Spätphase von Helmut Schmidt, dann unter Kohl, dann unter Rot-Grün zur großen Verblüffung, denn dort hätte man es besser wissen können. Und dann kommt sozusagen die große dramatische Zuspitzung, dass während der Finanzkrise dieser ganze sozusagen ideologische Duktus dementiert wird.

    Kapern: Wohin führt die sich öffnende Schere unsere Gesellschaft? Wo stehen wir in zehn, zwanzig Jahren?

    Wehler: Die führt dazu, dass die Zusammenballung von Vermögen und Einkommen in einem ganz ungewöhnlich dramatischen Maße sich immer mehr nach oben bewegt. Das muss man ja jetzt mal sehen, ob der Armuts- und Reichtumsbericht da Farbe bekennt. Man kann es aber auch aus den Zahlen des Statistischen Bundesamtes entnehmen, dass sich diese Zusammenballung an der Spitze - ganz drastisch ist es bei den obersten zehn Prozent - zusammenballt, und unten, im untersten Quintil, wie die Statistiker sagen, bei den untersten zehn Prozent, zwanzig Prozent da sind es maximal vier Prozent. Und in der Mitte bewegen sich sozusagen die Mittelklassen, die aber auch in der letzten Zeit einem Erosionsprozess ausgesetzt sind.

    Kapern: Vielleicht, Herr Wehler, sagt Ihnen der Name Daniel Vasella etwas. Das ist der ehemalige Chef des Pharmakonzerns Novartis. Der sollte 72 Millionen Franken dafür bekommen, dass er nach seinem Ausscheiden bei Novartis nicht mehr, jedenfalls nicht bei der Konkurrenz arbeitet. Und der hat den Satz gesagt: "Erst die soziale Ungleichheit dynamisiert unsere Gesellschaften." Heißt das, wir müssen für die weiter auseinanderklaffende Schere letzten Endes dankbar sein?

    Wehler: Ja, das ist ein ungeheuer hochmütiger und arroganter Ausspruch. Nein, ich bin sehr für Wettbewerb. Ich bin sehr dafür, dass exzellente Leistung auch gut belohnt wird. Aber es gibt kein rationales Argument, mit dem man etwa rechtfertigen kann, dass die Vorstände der 30 deutschen DAX-Gesellschaften, der größten börsennotierten Unternehmen, am Ende der 1980er-Jahre vor der Wiedervereinigung etwa 500.000 D-Mark verdienten. Keiner hat behauptet, er sei fast verhungert. Aber 2010 verdienen sie etwa sechs Millionen Euro, das wären also zwölf Millionen gewesen. Und es geht eigentlich nie um Privatunternehmer, sondern immer um Topmanager wie etwa Winterkorn von VW, der es auf 17,5 Millionen gebracht hat und jetzt unter dem Druck der öffentlichen Debatte das zurückstecken muss.

    Kapern: Herr Wehler, lassen Sie mich noch mal diesen Begriff der Dynamisierung der Gesellschaften aufgreifen und versuchen, den Historiker zu einer Spekulation zu verleiten. Wohin führt uns diese Dynamisierung, die Daniel Vasella da meint oder möglicherweise auch gar nicht meint, vor allem vor dem Hintergrund, dass es ja auch schon gesellschaftliche Dynamisierungen gegeben hat, die beispielsweise dazu geführt haben, dass Ludwig XVI. und Marie Antoinette einen Kopf kürzer gemacht wurden?

    Wehler: Das ist natürlich im Grunde genommen eine sozusagen ideologische Rechtfertigung ganz exorbitanter Gewinne, die sich auch in den Schweizer Chefetagen durchgesetzt haben. In der Bundesrepublik ist das auch so. Der "Spiegel" hat ja gerade vor kurzer Zeit festgestellt, dass die großen Topmanager nicht nur ein hohes Einkommen, damit ein großes Vermögen auch bilden können, sondern dass sie sogar noch Betriebsrenten bekommen. Zetsche von Daimler-Benz bekommt etwa knapp 30 Millionen, wenn er aufhört, Winterkorn würde etwas über 20 Millionen bekommen. Das sind abenteuerliche Entfernungen von dem, was ein normaler Arbeitnehmer verdient. In den späten 80er-Jahren verdienten die Arbeitnehmer in den DAX-Gesellschaften im Verhältnis von 1 zu 20. 20 kriegten die da oben. Jetzt ist das Verhältnis aber 200 zu 1 und das kann man auf die Dauer nicht rechtfertigen, und in meinen Augen ist das entscheidende Dilemma, dass damit die Legitimationsbasis der Bundesrepublik infrage gestellt wird, denn die beruht letztlich immer darauf, dass die Verteilungsgerechtigkeit gewahrt bleibt.

    Kapern: Herr Wehler, was passiert mit einem Land, dessen Legitimationsbasis zerstört wird?

    Wehler: Das ist die große Frage. Es gibt sozusagen eine rote Gefahrenschwelle. Wir wissen nicht, wann wir uns dieser Schwelle nähern, oder wann wir sie überschreiten. Aber wenn sie sich unmittelbar einstellt, dann haben wir eine wirkliche fundamentale politische Krise, und deshalb bin ich dezidiert der Meinung, diese Probleme, die sich in der letzten Zeit so herausgeprägt haben, müssen endlich offen diskutiert werden und da muss auch über die Remedur gesprochen werden, wo sozusagen hohe Gehälter und sozusagen mittelmäßige Boni gezahlt werden, aber nicht diese absurden Summen der letzten Jahre.

    Kapern: Die Ministerin Ursula von der Leyen fordert Reiche auf, mehr zu spenden und mehr soziales Engagement zu zeigen. Könnte das eine Lösung der Probleme sein oder ist das der Weg zurück in den Almosenstaat?

    Wehler: Nein, das ist mir aus der Seele gesprochen. Ich frage mich ja ohnehin, wie Frau von der Leyen bei dem Kampf um den neuen Armuts- und Reichtumsbericht sich verhalten hat. Aber erstens einmal kann man natürlich über das Steuersystem etwas tun, das in den letzten Jahren sehr zugunsten der Neureichen verändert worden ist. In der Kohl-Zeit war die Einkommenssteuer bei etwa 56 Prozent, jetzt sind wir bei 48 Prozent. Wenn man das aber genauer nachrechnet, werden da Millionenbeträge bewegt. Wir haben keine Vermögenssteuer mehr, die hat 1995 das Bundesverfassungsgericht untersagt quasi, daraufhin ist sie ja eingestellt worden. Wenn ich mit Kollegen aus dem westeuropäischen Ausland zusammentreffe, dann sind die immer erstaunt, dass das reichste Land der Europäischen Union keine solche Steuer hat. Und dann ist natürlich der eigentliche Skandal die Erbschaftssteuer. Der Bundesfinanzgerichtshof hat jetzt soeben erklärt, dass sie nicht mehr verfassungsgemäß sei, und zwar nach der letzten Reform, die anstatt eine Verbesserung, also eine Erhöhung der Erbschaftssteuer zu bringen, eine schroffe Absenkung ergeben hat, und nun soll das Bundesverfassungsgericht da sozusagen Remedur schaffen.

    Der weitere Gesichtspunkt, der bei von der Leyen eine Rolle spielt: Man muss endlich wie in Amerika das Spendenwesen, die großen Stiftungen, die muss man fördern. Ich bin nun öfters in Amerika gewesen und habe erlebt, dass die Eltern unserer reichen Studenten dort alle Abermillionen, wenn sie sehr reich sind, auch Milliarden in die Stiftungen lenken. Davon sind wir in der Bundesrepublik noch weit entfernt, aber da müsste endlich Druck ausgeübt werden, dass viel, viel mehr Geld in das Stiftungswesen hinübergelenkt würde.


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