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Eine ganz neue Qualität von Gewalt

Etwa acht Prozent der Bevölkerung Ägyptens sind koptische Christen. Vor zwei Jahren waren sie noch Seite an Seite mit den Muslimen gegen das Mubarak-Regime auf die Straße gegangen. Doch inzwischen werden die Kopten immer häufiger von radikalen Islamisten bedroht und müssen um ihr Leben fürchten.

Von Michael Briefs | 02.08.2013
    Brandanschläge auf koptische Dörfer und Kirchen gibt es, seit Ex-Präsident Hosni Mubarak vor Jahrzehnten in der Verfassung verankern ließ, dass Ägypten ein islamischer Staat sei. Unter der Regierung Mursi hatte sich die Lage verschlimmert. Das belegen jüngste Zahlen zu Ausreiseanträgen. Die Christen leiden. Ein Exodus könnte die Folge sein, wenn die Lage weiter eskaliert. Amal Ramsis:

    "”Am Sonntag ging wieder eine Kirche in Port Said in Flammen auf. Danach lieferten sich Muslime und Christen Straßenschlachten. Mittendrin bewaffnete Gruppen aus den Reihen der Muslimbruderschaft. Es gab fünf Tote und viele Verletzte. Die Anhänger Mursis hetzen die Menschen beider Glaubensrichtungen gegeneinander auf, damit aus Alltagskonflikten regelrechte Tumulte werden. Das beweist, die Muslimbrüder stecken in einer großen Krise.”"

    Die in Kairo lebende koptische Dokumentarfilmerin Amal Ramsis hat die ägyptische Revolution von Beginn an hautnah miterlebt. Wie viele Frauen unterstützt sie die sozialen Proteste gegen Militärs, gegen Fouloul, also die Mubarak-treuen Kräfte und gegen das Regime Mursis. Dessen Anhänger verdächtigt sie auch der Übergriffe auf Demonstrantinnen. Amal Ramsis:

    "”Wir haben untersuchen lassen, was sich bei unseren Kundgebungen auf dem Tahrir-Platz abgespielt hat, als dort Frauen sexuell belästigt wurden. Wochenlang haben wir Seite an Seite mit männlichen Mursi-Gegnern demonstriert und es war kaum zu sexuellen Übergriffen gekommen. Die Untersuchung ergab aber, dass an einer Stelle des Freiheitsplatzes bewaffnete Männer organisiert und massiv gegen Frauen vorgingen. Zeugen berichteten, die Muslimbruderschaft hätte sie dazu angestiftet. Ob selbst Parteimitglieder darunter waren, konnten wir nicht nachweisen.""

    Nutznießer der instabilen Lage ist die Muslimbruderschaft. Sie könnte davon profitieren, dass den Ägyptern im Kampf für "Freiheit, Brot und soziale Gerechtigkeit" irgendwann die Kraft ausgeht. Als Mubarak 2011 Schlägertrupps mit Kamelen und Pferden auf den Tahrir-Platz schickte, drohte der Kampf der Ägypter kurzzeitig verloren zu gehen. Inzwischen richtete die Übergangsregierung eine deutliche Warnung an die Adresse der Islamisten. Ihre permanenten Sitzblockaden müssten aufgelöst werden.

    "Mursis Leute reden jetzt von Massenprotesten mit Millionen Anhängern. Aber davon ist hier nicht viel zu sehen. Gut, in Raballah Da’wiyya, einem Stadtteil von Kairo, da gab es eine größere Kundgebung der Muslimbruderschaft."

    Dennoch protestieren überall im Land tausende Anhänger Mursis jeden Tag wild entschlossen gegen die neue Übergangsregierung und drohen trotz Ramadan mit dem Dschihad, dem Widerstand aller Muslime gegen Tyrannei, falls ihr Präsident nicht bald wieder im Amt ist. Amal Ramsis:

    "Aber es sind die immer gleichen Gruppen, die protestierend umherziehen. Zu ihrem Schutz haben sie bewaffnete Milizen gebildet. Sie formieren sich zu geschlossenen Blöcken und lassen niemand von außen herein. Nur Anhänger der Muslimbruderschaft."

    In der Vergangenheit vermieden es die politischen Führungen im Land, kriminelle Übergriffe auf religiöse Minderheiten konsequent und rückhaltlos aufzuklären. Auch die Regierung Mursi machte da keinen Unterschied.

    "Unter Mursi wurde es für die Christen sehr gefährlich. Seit dem 30. Juni bis heute wurden zwei Priester ermordet. Im Süden des Landes töteten islamistische Gruppen viele Christen. In einem Jahr wurden sehr viele Kirchen niedergebrannt und Dörfer attackiert und deren Bewohner vertrieben. Die Kopten fühlten sich nicht mehr nur wie Bürger zweiter Klasse, wie oft geschrieben wird. Heute geht es um eine ganz neue Qualität von Gewalt.Deswegen haben so viele Christen das Land verlassen. "

    Die 42-jährige Koptin und studierte Juristin ist gerade damit beschäftigt, ihren zweiten Dokumentarfilm über die Revolution mit dem Titel "Wendepunkt" fertigzustellen. Die Lebensgeschichte einer Ägypterin, deren Bruder vor zwei Jahren von Militärs ermordet wurde.

    "Ich lebe und arbeite hier in einer vom Einfluss der Muslimbruderschaft befreiten Zone. Und daher habe ich keine Probleme, wenn ich das Haus verlasse. Aber in Stadtteilen mit hoher Bevölkerungsdichte ist das Leben für die Menschen schlimm. So miserabel war es selbst unter Mubarak nicht. Genauso in vielen anderen Städten."

    Rebellen der Tamarodd-Bewegung – also der Mursi-Gegner - sorgen dafür, dass dort, im Kairoer Zentrum rund um den Tahrir-Freiheitsplatz, keine Islamisten durchkommen. Einer der offensichtlichen Belege für die unüberbrückbare Spaltung des Landes.

    "Kairo ist bereits eine geteilte Stadt. Die östlichen Stadtteile sind vom Rest der Stadt abgetrennt. Meine Mutter lebt in einem Viertel, in dem sich Muslimbrüder verschanzt halten. Sie lassen niemand hinein oder heraus und terrorisieren die Bewohner. Diese wagen sich kaum noch aus dem Haus. Anwohner und Polizei berichten, dass in der Nähe der Barrikaden der Muslimbrüder die Leichname einiger Leute aus dem Viertel entdeckt wurden. Ihre Körper weisen Folterspuren auf. Seit zwei Wochen kann ich meine Mutter nicht mehr besuchen, da ich nicht an der Sitzblockade der Muslimbrüder vorbeikomme. Es ist zu gefährlich."

    Aus den Protestcamps der Mursi-Anhänger kommen ähnlich lautende Berichte. Dass auch sie fast jede Nacht von Schlägerbanden überfallen werden und dabei Menschen zu Tode kommen. Die Täter kämen nachts im Schutz von Armee und Polizei. Gerüchte um eine bevorstehende brutal agierende Militär-Junta machen die Runde.

    "Ich glaube nicht daran, was viele über Ägypten sagen, dass wir hier einen Militärputsch erleben. Vielmehr handelt es sich um den Willen der gesamten Bevölkerung gegen eine Minderheit, die das Land ein Jahr im Würgegriff gehalten hat. Mittlerweile ist diese reformunwillige Fraktion der Muslimbrüder zu einer sektenartigen Splitterpartei verkommen. Wir haben Mubarak aus dem Amt gejagt, und jetzt mit weitaus größerem Protest Mursi. Und ich bin beileibe niemand, der irgendeiner Armee viel Vertrauen schenken würde, aber in drei Jahren habe ich gelernt, den Menschen zu vertrauen."

    Als am dritten Juli die Armeeführung vor die Presse trat, um über die Bildung einer Übergangsregierung zu sprechen, trat neben dem Scheich der Al-Azhar auch der koptische Patriarch Tawadros der Zweite vor die Mikrofone und meldete zum ersten Mal öffentlich politische Mitsprache an. Ein Novum in der jüngeren Geschichte des ägyptischen Koptentums.

    "”Zum ersten Mal seit dem politischen Wandel sind in der Übergangsregierung Christen und Muslime repräsentiert. Und ich bin sicher, alle Christen haben diesen Wandel gewollt. Auf den Straßen sehen wir auch, dass wieder tausende christliche Familien gemeinsam Seite an Seite mit muslimischen Familien friedlich für eine bessere Zukunft Ägyptens demonstrieren. Ohne jegliche Diskriminierung.”"

    Das stimmt optimistisch. Es gibt permanent Bewegung in breiten Teilen der ägyptischen Gesellschaft. Die Menschen diskutieren öffentlich und im Internet die Situation, werden in den verschiedensten Bereichen aktiv. Mit der Politik Mursis war niemand zufrieden. Selbst die Salafisten haben sich gegen sie positioniert. Ob aber die Rufe der Tamarodd-Bewegung nach demokratischen gesellschaftlichen Spielregeln wirklich gehört werden, kann im Ägypten der Gegenwart niemand beantworten.