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"Eine gewaltige Lebensleistung"

Ihr Kollege Thomas Reschke würdigte die Russisch-Übersetzerin Swetlana Geier als eine "ungemein kluge, hochgebildete Frau, die bis in die tiefsten Tiefen der russischen Werke vorgedrungen ist". Dieser Leistung zolle er Respekt.

Thomas Reschke im Gespräch mit Rainer Berthold Schossig | 09.11.2010
    Rainer Berthold Schossig: Die Stimme der russisch-deutschen Übersetzerin Swetlana Geier aus dem biografischen Dokumentarfilm "Die Frau und die fünf Elefanten". Gemeint sind die fünf großen Romane Dostojewskis, die eben jene Swetlana Geier sämtlich neu übersetzt hat, und sie hat ihnen nicht nur eine vollkommen neue Textgestalt, sondern zum Teil auch neue Titel gegeben, statt "Schuld und Sühne" "Verbrechen und Strafe" etwa. - Die geniale Übersetzerin Swetlana Geier ist vorgestern Nacht im Alter von 87 Jahren gestorben. – Frage an den Übersetzerkollegen Thomas Reschke in Berlin: Sie haben Swetlana Geier persönlich gekannt. Was war sie für eine Frau?

    Thomas Reschke: Ich habe sie gekannt und ich war sogar einmal in Freiburg bei ihr zu Gast. Sie war eine ungemein kluge, hochgebildete Frau, die bis in die tiefsten Tiefen der russischen Werke vorgedrungen ist mit ihrem Bewusstsein und die eine gewaltige Lebensleistung hingelegt hat, vor der ich respektvoll stehe.

    Schossig: Swetlana Geier ist am 26. April 1923 in Kiew geboren, als Kind russischer Eltern wohl gemerkt, und hat von Kind an dann auch Deutsch gelernt.

    Reschke: Ja.

    Schossig: Ist diese frühkindliche, ich sage mal, Doppelsprachprägung das Geheimnis ihres viel gelobten einfühlsamen Übersetzens?

    Reschke: Das würde ich so nicht sagen, denn meine Lebenserfahrung sagt, dass man eigentlich nur in seine Muttersprache übersetzen kann. Aber sie hat so lange in Deutschland gelebt, dass sie auch die deutsche Sprache vorzüglich beherrscht hat. Sie hat sich mit der Sprache auseinandergesetzt, immer wieder deutsche Literatur gelesen und natürlich russische übersetzt, und das ist ein Prozess, wo ständig eins ins andere greift und auch die Qualifikation, sage ich jetzt mal, immer höher und immer größer wird.

    Schossig: Was ist das Schwierige an so einem großen, schweren Text, den sowohl ins moderne Deutsch zu bringen als auch gleichzeitig das alte wieder zu verstehen? Wo ist sozusagen die Vermittlung zwischen beiden?

    Reschke: Erst mal braucht man eine unendlich lange Puste. Man steht morgens auf, man frühstückt und setzt sich an die Maschine, oder an den Computer, und dann muss man sesshaft sein. Und es ist ein sehr einsamer Beruf. Und man muss immer wieder innere Kraft schöpfen und immer wieder seine Motivation aufpolieren, um immer wieder Monat für Monat, Jahr für Jahr immer wieder an den Text zu gehen und das Beste daraus zu machen.

    Schossig: Es gehört ja auch Mut dazu?

    Reschke: Ja.

    Schossig: Diese Frau hat aus "Schuld und Sühne", was wir alle in der Schule gelernt haben, "Verbrechen und Strafe" gemacht, aus den Dämonen die bösen Geister.

    Reschke: Ich bin anderer Meinung, ich habe sie ihr auch mal gesagt. Ich finde das nicht gut, denn Verbrechen und Strafe ist zwar eine genaue, aber eine lexikalische Übersetzung, während Schuld und Sühne eine etwas feinere und dafür poetische Übersetzung ist. Der russische Titel lautet "Prestuplenie i nakazanie". Da ist eine Assonanz drin, die bei ihrem Titel verloren geht, während Schuld und Sühne diesen poetischen Klang etwas rüberbringt.

    Schossig: Swetlana Geier war Russisch-Übersetzerin. Was ist das Besondere? Meine Russisch-Lehrerin hat immer gesagt, in der russischen Sprache hört man das Rauschen der russischen Wälder und Flüsse. Wie ist Russisch ins Deutsche überhaupt zu übersetzen?

    Reschke: Na ja, das mit den Flüssen und Wäldern ist schiere Poesie. Der Alltag sieht etwas prosaischer aus. Für mich ist der Hauptunterschied darin, dass die russische Sprache zwischen Schul- und Umgangssprache nicht so stark trennt wie das Deutsche. Im Deutschen ist die Hochsprache die Norm, an die sich die Leser gewöhnt haben, und die Umgangssprache, die noch dazu reich ist an Regional- und Sozialelementen der Sprache, die herüberzubringen, das ist ziemlich schwierig.

    Schossig: Und das hat Swetlana Geier perfekt geschafft?

    Reschke: Nein, das hat sie nicht perfekt geschafft. Sie hat immer das Bild gebraucht, ein Übersetzer schwebt wie ein Adler über den Dingen und hat den großen Überblick, er ist nicht wie eine Raupe, die sich millimeterweise durch die Blätter frisst. Und ich bin der Meinung, der Übersetzer ist beides. Der Übersetzer frisst sich millimeterweise durch die Blätter und die Details, die Millionen Details jedes Originalwerkes müssen stimmen. Und der große Durchblick, der muss natürlich auch sein, aber der hilft dafür nicht.

    Schossig: Wie Russisch zu Deutsch machen? – Das war zum Tod der großen Übersetzerin Swetlana Geier der Berliner Übersetzer Thomas Reschke.