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Eine Goldgrube für die Wissenschaft

Das Sozialökonomische Panel ist die älteste Längsschnittstudie privater Haushalte in Deutschland und wurde 1983 in Frankfurt am Main erdacht und umgesetzt. In den USA existierte damals die Langzeituntersuchung: "panel study of income dynamics", die aber nur nach den ökonomischen Verhältnissen der Amerikaner fragte. Das SOEP fragte von Anfang an auch nach dem Verhalten und der Zufriedenheit der Menschen.

Von Eva-Maria Götz | 17.07.2008
    "Als wir begonnen haben, war damals gerade Helmut Kohl in Amt und Würden gekommen und er war sehr lange Kanzler dieser Koalition, von daher war es eine lange Phase ohne große politische Veränderung."
    Als Helmut Kohl im Jahr 1983 in Bonn seine Regierungserklärung verlas und die Gruppe "Geier Sturzflug" wochenlang mit seiner Beschwörung eines neuen Wirtschaftwunders die Charts anführte, beschäftigten sich in Frankfurt und Mannheim der Ökonom Hans Jürgen Krupp und der Soziologe Wolfgang Zapf damit, wie man gesellschaftliche Veränderung seismographisch genau erkennen und darstellen könnte. Damals hatte man bereits die erste Computer-Software für Simulationsmodelle und Prognosen entwickelt, aber Daten, die man den Analysen hätte zugrunde legen können, fehlten.

    "Wir sahen ja, dass immer mehr Probleme auf uns zukamen, die man nicht beantworten konnte, wenn man einmal fragt. Also die Armutsproblematik, die heute so wichtig ist, da ist ja entscheidend, ob die Leute mal kurz arm sind oder in Armut bleiben, und dafür muss man sie auf Dauer fragen. Oder nehmen Sie die Frage mit der Arbeitslosigkeit, da müssen Sie wissen: Wie lang sind die Leute arbeitslos? Das erfahren Sie aber nicht, wenn Sie nur einmal hingehen und fragen: "Sind Sie arbeitslos?""
    Erklärt der Gründer des Sozio-ökonomischen Panels, Hans Jürgen Krupp. Gemeinsam mit seinem Kollegen Wolfgang Zapf entwickelte Krupp einen ersten Fragebogen. Das Vorbild kam aus den USA, dort gab es bereits die Langzeituntersuchung: "panel study of income dynamics", die aber nur nach den ökonomischen Verhältnissen der Amerikaner fragte. Das SOEP fragte von Anfang an auch nach dem Verhalten und der Zufriedenheit der Menschen.

    Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Gesundheit?

    Bitte kreuzen Sie für jeden Bereich auf der Skala einen Wert an: Wenn Sie ganz und gar unzufrieden sind, den Wert "Null", wenn Sie ganz und gar zufrieden Sind, den Wert "Zehn". Wenn Sie teils zufrieden, teils unzufrieden sind, einen Wert dazwischen.

    Lautet zum Beispiel eine Frage. Andere Fragen beziehen sich auf das Einkommen:

    Ist Ihr Einkommen aus Ihrer Sicht gerecht?

    Wie beurteilen Sie Ihre heutige Stelle im Vergleich zur letzten?

    Möchten Sie in Ihrem bisherigen beziehungsweise erlernten Beruf arbeiten oder wollen Sie lieber etwas Neues machen, oder wäre Ihnen das egal?

    Auch die Situation in Schule und Freizeit, Elternhaus und Familie interessiert die Wissenschaftler:

    Glauben Sie, dass man eigene Kinder braucht, um wirklich glücklich zu sein, oder glauben Sie, man kann auch ohne ein eigenes Kind genauso glücklich oder glücklicher leben?!

    Haben Sie in Ihrer Jugend aktiv Musik gemacht?

    Was war für Sie die wichtigste Sportart, die Sie ausgeübt haben?

    An die 100 Seiten stark ist der Katalog, den die Mitwirkenden vorgelegt bekommen, das beantwortet sich nicht zwischen Tür und Angel. Die Mitarbeiter des SOEP sind angewiesen auf Freiwillige, die sich intensiv auf die Fragen einlassen. Und das am besten Jahr für Jahr:

    "Meine Intention ist die, das man am Rädchen doch ein kleines Stück mitdrehen kann, dass man für sich und die Gesellschaft ein bisschen was bewegen kann."
    Erklärt Frau X aus Berlin ihre mehr als 15-jährige Teilnahme an der Langzeitstudie. Zu ihr ins Haus kommt jedes Jahr der gleiche Interviewer des Umfrageinstituts Infratest TNS, das von Anfang an mit dem SOEP zusammenarbeitet. Der Interviewer kündigt sich einige Wochen vor seinem Hausbesuch schriftlich oder telefonisch bei Frau X an und sie weiß, jetzt ist Zeit für ihre Jahresbilanz:

    "Allerdings ist es mal ganz interessant zu erfahren, wie man sich in der Zeit entwickelt hat. Das ist so mein Resümee. Man weiß schon, was man da antwortet und wie es einem gegangen ist vor zwei, drei, vier Jahren. Schon."


    "Die üblichen Umfragen, die auch der Wahlforschung ja gar nicht so schlechte Ergebnisse liefern, jetzt für diese eine spezielle Fragestellung, haben Stichproben um die 1000 bis 2000 Fälle. Unsere Stichprobe ist deutlich größer, ist zehnfach größer als die üblichen Umfragen, mehr als 20.000 Befragte pro Jahr geben Auskunft über ihre Lebenssituation, von daher können wir auch in seltenen Familienkonstellationen wie etwa Alleinerziehende belastbare Informationen ausleuchten, also auch die Einkommenslage von solchen Gruppen wesentlich treffgenauer bestimmen als es eine normale Umfrage von nur 2000 möglich machen würde."
    Erklärt SOEP-Manager Professor Jürgen Schupp. Im vergangenen Jahr beteiligten sich 21.232 Personen in 11.689 Haushalten an der Stichprobe. Damit ist das SOEP die weltweit größte wissenschaftliche Datenerhebung.

    "Auch das zeichnet unsere Studie aus, dass man nicht plötzlich vor der Tür steht, sondern das die Studie vorher ordentlich vorgestellt wird, den Befragten mitgeteilt wird, wofür wir ihre Angaben nutzen möchten, und das in den nächste Tagen ein Interviewer mit ihnen Kontakt aufnehmen wird. Das entspannt die Lage und macht es für die Interviewer leichter."

    "Also ich habe 20 Haushalte zu befragen, jedes Jahr wieder, und da gibt es allesamt sehr positive Kontakte, es gibt Leute, die auf einen sehr engen Kontakt auch selbst Wert legen und da machen wir das auch so. Und es gibt Leute, die etwas differenzierter und zurückhaltender sind, und da wird das auch so von mir gehandelt."

    Erklärt die Infratest- Interviewerin Frau Lendt. Mittlerweile gibt es ungefähr 2400 Familien, die von Anfang an dabei sind. Es gibt sogar schon über 1000 SOEP- Enkel. Und viele Teilnehmer haben in SOEP-Familien hineingeheiratet. Der Vorteil: wer langfristig an so einer detaillierten Untersuchung teilnimmt und weiß, dass alle Daten vertraulich behandelt werden, der hat sich entschlossen, ehrlich und ausführlich zu antworten. Und nur so kann durch eine langfristige Beobachtung eine filigrane Landkarte des Lebensgefühls in Deutschland entstehen. Jürgen Schupp:

    "Unsere Stichprobeneinheit ist nicht die private Person, sondern der gesamte Haushalt, in dem diese einzelnen Personen jeweils leben. Und der Haushalt ist eine dynamische Größe, sprich: Der ist nicht über die Zeit stabil. Also da werden Kinder geboren, da verstirbt vielleicht der Großvater, da trennt sich vielleicht ein Paar voneinander, geht getrennte Wege, sucht unterschiedliche Haushalte. All solche Veränderungen machen wir zum Fokus unserer Untersuchungen."

    Bis 1988 hatte das Team um Hans Jürgen Krupp und Wolfgang Zapf die Stimmung in der alten Bundesrepublik genauestens vermessen. Hans Jürgen Krupp war mittlerweile Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung geworden und hatte das SOEP aus dem universitären Bereich herausgenommen und dem DIW angeschlossen, wo es bis heute verankert ist. 1989 wurde der Berliner Ökonom Professor Gert G. Wagner der Leiter des SOEP. Kurz nach Beginn seiner Amtszeit kam die Wende:

    "Für mich oder für das, wo ich mich in der letzten Zeit mit beschäftigt habe, ist das Erstaunlichste, wie groß die Euphorie unmittelbar nach 1990 war, in der Bevölkerung in Ostdeutschland. Wirklich ganz außerordentlich. Und wie schnell die Zufriedenheit dann in den Keller ging."
    Sagt SOEP-Leiter Gert. G. Wagner und sein Mitarbeiter Jürgen Schupp erinnert sich:

    "Und dann hat uns letztlich völlig überrascht, auch als Forscher überrascht, wie rasch die Öffnung der Mauer dann auch zu einer völligen Veränderung unserer Studie geführt hat, Wir saßen quasi hier in Berlin, im Jahr 1989 noch im Frühsommer um noch ein Studiendesign zu entwickeln, wo von der Einheit noch keine Ahnung war."
    Erst hatten die SOEP-Wissenschaftler um Gert G. Wagner befürchtet, dass mit dem Fall der Mauer das Ende des sozio-ökonomischen Panels gekommen sei, weil die Daten ja nun nicht mehr für ganz Deutschland repräsentativ waren. Dann wurde ihnen klar: Es ist eine einmalig Chance, die Bevölkerung der DDR möglichst rasch zu befragen, um zu dokumentierenden, was der Wandel der Gesellschaft mit dem Einzelnen macht. Jürgen Schupp:

    "Wandel ist eine ganz normale Erscheinungsform von dynamischen Gesellschaften, aber wie stark Dynamik zunehmen kann und wo dann auch letztendlich die Grenzen sind der subjektiven Belastbarkeit oder des Wohlbefindens, ab wann resignieren Menschen, das war mit diesem Studiendesign durchführbar. Von daher waren wir waren wir sehr engagiert dann, als sich dieses Fenster der historischen Möglichkeiten bot, dass wir mit Kollegen noch damals in der ehemaligen DDR Kontakt aufnehmen konnten und vorbreiten konnten auch eine Studie in Ostdeutschland durchzuführen und zu starten."

    "Wir konnten eigentlich feststellen, dass der Fragebogen doch mit sehr viel Enthusiasmus aufgenommen wurde, das war die Zeit des Aufbruchs, der Veränderung, viele der Befragten erklärten sich sehr gerne bereit, auf die Fragen zu antworten, weil sie auch der Meinung waren, mit ihrer Befragung können sie Einfluss nehmen, können etwas verändern, können etwas bewirken. Also in der Hinsicht waren die Kollegen aus dem damaligen West- Berlin auch sehr begeistert, wie offen und bereit die Bürger der DDR damals waren."
    Eckhart Priller arbeitete damals als Soziologe an der Akademie der Wissenschaften der DDR und er war einer der ersten ost-deutschen SOEP-Mitarbeiter. Er schmeckte den Fragebogen sozusagen vor und achtete darauf, dass bestimmte Begrifflichkeiten den anderen Verhältnissen angepasst wurden.

    "Die Abschlüsse im Bildungssystem unterschieden sich zwischen Ost und West ja sehr stark, der Begriff "Polytechnische Oberschule" war ein Begriff, der in der alten Bundesrepublik nicht vorkam, da musste man eben bestimmte Ergänzungen vornehmen. Es gab auch kein "Ehrenamt", der Begriff kam in der ehemaligen DDR auch nicht vor, es wurde da eher der Begriff "Gesellschaftliche Beteilung" verwendet."
    Bereits im Frühsommer 1990, also noch vor der Wiedervereinigung, begannen die Umfragen im Osten Deutschlands. Die Resonanz war überwältigend: Mehr als 70 Prozent der zufällig ausgewählten Haushalte machten mit. Die Stimmung im Lande war gut, jeder rechnete mit einem schnellen Zusammenwachsen des geteilten Landes und mit einem Wirtschaftsboom. Eckhardt Priller:

    "Es war damals schon eine Situation, dass man meinte, bestimmte Angleichungsprozesse würden sich schnell vollziehen, der Ruf nach der D- Mark würde alles lösen. Ich glaube, wenn man sehr nüchtern an die Dinge herangegangen ist, dann musste man sehen, dass bestimmte Differenzierungsprozesse eintreten, dass es nicht alles so reibungslos verlaufen wird, also man konnte schon sehen, dass bestimmte Erwartungen, die man als DDR- Bürger hatte an die Gesellschaft sich vielleicht nicht erfüllen würden und damit auch die Zufriedenheit zurückgehen würde."
    Als die ersten gesamtdeutschen Daten vorlagen, wurde den Wissenschaftlern klar, wie unterschiedlich die Menschen in ihren Erfahrungen und Erwartungen waren. Ein Beispiel: die Arbeitssituation von Frauen. Im Westen war in den 80er Jahren das Teilzeitarbeitsmodell für Frauen und insbesondere für Mütter groß in Mode, flexible Arbeitszeiten wurden entwickelt , die Kinderbetreuungsmöglichkeiten waren stark eingeschränkt. Im Osten sah das anders aus. Jürgen Schupp:

    "Da war die spannende Frage: wie wird sich das annähern? Wird die ostdeutsche hohe Arbeitsbeteilung von Frauen- das waren überwiegend Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse, die Frauen in der ehemaligen DDR ausübten - wird sich das annähern und wer nähert sich da wem an. Und mit allen, mit denen ich da in Westdeutschland gesprochen hatte, waren eigentlich überzeugt, also wenn sich jemand anpasst, dann wird es die ostdeutschen Frauen an die Westdeutschen sein und ich war damals schon überzeugt, der Trend, der wird durch das gesamtdeutsche Verhältnis beschleunigt werden und wir werden eher in die Richtung gehen, dass die Arbeitswelt und die Arbeitswirklichkeit von Frauen in den 80er Jahren, die wir beobachtet haben in unseren Daten, 20 Jahre später komplett anders sein werden."
    Die Lebenssituation von Frauen und die Veränderungen, die sich durch für die Gesellschaft ergeben, sind ein wichtiges Thema in den Studien, die auf SOEP-Daten basieren. Eine geht zum Beispiel der Frage nach, ob Männer in den letzten 25 Jahren im Haushalt aktiver geworden sind:
    Im Jahr 1985 leisteten Frauen noch 81 Prozent aller Arbeit für Haushalt und Kinderbetreuung. Im Jahr 2006 waren es nur noch 75 Prozent. Die Zeit, die Väter mit ihren Kindern täglich verbringen, stieg in dieser Zeit von 65 auf 100 Minuten.

    "Was man auf jeden Fall sagen kann; das Thema Kinderbetreuung ist eines, wo die SOEP-Zahlen unmittelbar in der Politik gewirkt haben. Da wurden die Zahlen unmittelbar aufgegriffen und haben dann zu Veränderungen auf der Bundesebene geführt."
    Für die Studie wurden die Bildungswege von mehr als 1000 deutschen Kindern, die zwischen 1990 und 1995 geboren wurden, miteinander verglichen. 16 Prozent dieser Kinder haben eine Krippe besucht. Die Auswertung ergab: Jedes zweite Krippenkind lernte später auf einem Gymnasium. Von den Kindern ohne Krippenerfahrung schaffte das nur ein Drittel. In besonderer Weise profitierten Kinder, deren Eltern aus dem Ausland stammen oder nur über einen geringen Bildungsgrad verfügen.
    Seit 25 Jahren erfasst SOEP auch die Lebenssituation von Migranten. Daher wissen wir, dass Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation sich stärker "ganz und gar als Deutsche" fühlen als noch ihre Eltern und sich zunehmend als Unternehmer selbständig machen. Außerdem hat sich der Anteil derer, die über einen Hochschulabschluss verfügen in den Jahren zwischen 2001 und 2006 verdoppelt. Wirtschaft und Handel können sich diese Daten nur indirekt zunutze machen, indem sie sie analysieren lassen. Sich beteiligen und einzelne Fragen beisteuern oder die Untersuchungen kaufen, können Außenstehende nicht. Die erhobenen Daten stehen ausschließlich Wissenschaftlern zur Verfügung und dienen auf diesem Weg auch der Politikberatung. So fließen sie beispielsweise in den Armutsbericht der Bundesregierung ein.

    "Derzeit ist in der großen Debatte: Nimmt die Armut weiter zu? Das ist eine der uns drängenden Fragen, wo wir noch nicht auf die Dynamik schauen, sondern wirklich nur auf den Trend."
    Seit auch Psychologen mit im SOEP-Team arbeiten, wird die Schlüsselrolle der Beschäftigungssituation immer deutlicher: Nichts außer einem körperlichen Gebrechen beeinträchtigt die Zufriedenheit der Menschen so sehr wie einmal erlebte Arbeitslosigkeit, auch noch, wenn der Betroffene längst wieder Arbeit gefunden hat. Das multidisziplinäre Zusammenarbeiten ist seit 25 Jahren ein Qualitätsmerkmal von SOEP und soll in den nächsten Jahren noch ausgebaut werden: Erziehungswissenschafter und Psychologen werden neue Fragen zu Sozialverhalten und -kompetenz in der frühsten Kindheit entwickeln. Mehr in den Blickpunkt rückt auch das Generationenverhalten in Familie und Gesellschaft. Dass es zum SOEP- Jubiläum in der vergangenen Woche klare Zusagen aus dem Forschungsministerium gab, dass die Finanzierung der Längsschnittstudie auch in Zukunft gesichert sei, freute die Beteiligten. Eine weitere Anerkennung: Der Wissenschaftsrat hat die Forschungsqualität von SOEP im April dieses Jahres als "exzellent" ausgezeichnet.
    SOEP-Gründer Hans Jürgen Krupp:

    "Was die Länge anbetrifft, da waren wir ganz stolz, als wir die erste Zusage für die ersten fünf Jahre hatten, auch noch mit einer kleinen Klausel, dass man zur Not noch vorher aussteigen kann, aber mit dieser Länge, die wir heute feiern, ist es natürlich wirklich eine Goldgrube für die Wissenschaft, und zwar nicht nur national, sondern auch international."