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"Eine große Gefahr für alle Inder"

Im indischen Bundesstaat Orissa bedrohen radikale Hinduisten weiterhin die christliche Minderheit, berichten die indische Ordensschwester Justine Senapati und Pater Augustine Singh, die sich für eine Verbesserung der Menschenrechtssituation in ihrem Land einsetzen. 2008 wurden bei Übergriffen hinduistischer Extremisten im Distrikt Kandhamal über 100 Menschen getötet.

Justine Senapati und Augustine Singh im Gespräch mit Melanie Grundei | 09.07.2010
    Christoph Heinemann: Orissa ist ein Bundesstaat im Osten Indiens mit rund 37 Millionen Einwohnern. Etwa zwei Prozent sind Christen. Im August 2008 fürchteten viele um ihr Leben. Auslöser der Gewalt im Distrikt Kandhamal war der Mord an einem bekannten hinduistischen Geistlichen. Trotz eines Bekennerschreibens einer maoistischen Terrorgruppe nutzten extremistische Hindu-Gruppen den Vorfall, um zu Gewalt gegen Christen in Orissa aufzurufen. Untersuchungen der Kirche zufolge wurden mehr als 100 Personen getötet.

    Schwester Justine Senapati und Vater Augustine Singh arbeiten in Orissa mit Opfern der Ausschreitungen. Schwester Senapati ist Programmdirektorin in einem Sozialzentrum in Kandhamal, Pater Singh arbeitet als Priester und Psychologe. Beide setzen sich für eine Verbesserung der Menschenrechtssituation ein. Aus diesem Grund haben sie ein Stipendium der katholischen Organisation Pax Romana erhalten, um für sechs Wochen in Genf die Mechanismen des internationalen Menschenrechtsschutzes kennenzulernen.

    Auf Einladung des Unionsfraktionschefs Volker Kauder haben sie gestern der Bundestagsdebatte zur Lage der Menschenrechte zugehört.

    Schwester Senapati arbeitet mit Opfern der Ausschreitungen und sie schilderte meiner Kollegin Melanie Grundei die Ereignisse.

    Justine Senapati: Die Opfer der Gewalt haben Unbeschreibliches durchgemacht, denn Frauen, Kinder und Männer konnten flüchten, aber die schwangeren Frauen konnten nicht fliehen. Sie mussten im Wald entbinden, unter unbeschreiblichen Zuständen. Es gab nichts, mit dem man die Nabelschnur hätte durchschneiden können, die neugeborenen Babys blieben unbedeckt. Es gab keine Kleidung, um sie zu schützen. Für vier, fünf Tage gab es kein Wasser, was die Menschen trinken konnten, und sie mussten Blätter essen.

    Melanie Grundei: Welche Hilfen haben sie von offizieller Seite erhalten?

    Senapati: Die Opfer haben nichts zu essen bekommen, denn Nichtregierungsorganisationen durften nicht in die Notlager, um Nothilfe zu leisten, keine Ärzte und keine Schwestern. Es gab Krankheiten, und Mütter mit kleinen Kindern konnten kein Essen bekommen. Das Problem war, die Regierung hat sich nicht darum gekümmert und die Regierung hat auch nicht erlaubt, dass sich die Nichtregierungsorganisationen kümmern. Auch wir als Ordensschwestern mussten dann normale Kleidung anlegen, wir konnten nicht in unserer Ordenskleidung dort hingehen, um den Menschen zu helfen, sondern mussten sozusagen in normaler Kleidung dort vor Ort hingehen, um Hilfe leisten zu können.

    Grundei: Sie kritisieren die Rolle der Regierung und werfen ihr vor, nicht entschieden vorgegangen zu sein. Was hätte genau passieren müssen?

    Senapati: Eigentlich hätte die Bundespolizei in dem Mordfall an dem bekannten hinduistischen Geistlichen ermittelt sollen. Das war unsere Forderung gewesen. Der Bischof hat auch drauf gedrängt, dass dieser Mordfall von der Bundespolizei untersucht werden sollte, denn es gab den Verdacht, dass die Christen diesen Mönch getötet hätten. Dieser falsche Verdacht sollte aus dem Weg geräumt werden und so den Gewalttaten der Boden entzogen werden, aber die Regierung ist passiv geblieben. Der Fall ist bisher nur von der Landespolizei aus Orissa untersucht worden, die die Ermittlungen sehr, sehr mangelhaft durchgeführt haben, und wir sind da nicht weitergekommen. Während der Gewalttaten selbst hat die Polizei nur zugesehen. Wir wollten, dass die Regierung von Orissa darauf regiert, aber sie hat es nicht getan.

    Grundei: Vater Singh, Sie arbeiten auch in dem betroffenen Bezirk Kandhamal. Befürchten Sie, dass es wieder zu einem Gewaltausbruch kommen könnte?

    Augustine Singh: Die Wahrscheinlichkeit ist recht hoch, dass solche Dinge wieder vorkommen können, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden vonseiten der Regierung, wenn keine Veränderungen in Politik und Justiz ergriffen werden und im Polizeiwesen.

    Grundei: Die Christen in Indien sind eine Minderheit und machen etwa zwei Prozent der Bevölkerung aus. Was sind die Gründe für die Probleme zwischen Hindus und Christen?

    Singh: Ich würde sagen, der wesentliche Faktor ist hier die Religion. Sie müssen sehen, dass es dort eine Hindu-fundamentalistische Bewegung gibt, die Kandhamal als einen Hindu-Bezirk betrachtet und möchte, dass in Kandhamal keine Christen leben und darüber hinaus auch ganz Indien als ein Hindu-Land betrachten, das frei sein soll von Christen. Das ist die Auffassung der RSS, einer Gruppierung. Das ist - und das möchte ich betonen - eine fundamentalistische hinduistische Strömung, denn die Mehrheit der Hindu-Bevölkerung ist tolerant und gut. Aber wir haben es hier mit einer Minderheit zu tun, mit einer Gruppierung, die die Sprache der Bedrohung spricht. Es ist die fundamentalistische Gruppe, die die Sprache des Hasses verwendet und Hassreden von sich gibt.

    Senapati: Ich möchte zu dem noch etwas hinzufügen. Wir müssen nicht nur in Orissa Maßnahmen ergreifen, sondern auf nationaler Ebene, denn diese fundamentalistisch, hinduistischen Gruppierungen haben sich zum Ziel gesetzt, dass sie diese Maßnahme in jedem Staat durchführen wollen, sie wollen in jedem Staat gegen die Minderheiten vorgehen. Indien hat eine demokratische, säkulare Verfassung und diese greifen die Fundamentalisten an. Im Jahr 2005 gab es die Bestrebungen der Hindu-Partei BJP, eine Verfassungsänderung durchzuführen, die zum Glück an den säkular gesinnten Parteien dann gescheitert ist. Aber diese fundamentalistischen Aktivitäten finden wir auf der gesamten nationalen Ebene und das ist eine große Gefahr für alle Inder, nicht nur für die Christen oder Muslims, sondern für alle Minderheiten, zum Beispiel Buddhisten und Sikhs, denn diese Minderheiten sind zur Zielscheibe geworden für diese fundamentalistischen Hindus. Sie wollen sie vernichten, und das stellt eine Gefahr für den gesamten Staat Indien dar.

    Heinemann: Die indische Ordensschwester Justine Senapati und Pater Augustine Singh im Gespräch mit meiner Kollegin Melanie Grundei.