Christoph Schmitz: "Lest Munro! Lest Munro!" – so rührt der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen seit geraumer Zeit die Werbetrommel für die Literatur der Kanadierin. Die Schwedische Akademie hat ihn erhört und weder Bob Dylan, Philip Roth, Thomas Pynchon und Joyce Carol Oates, noch Cees Noteboom, Umberto Eco und Amos Oz den hochdotierten Preis zugesprochen.
Rund ein Dutzend Bände mit Kurzgeschichten hat Alice Munro geschrieben, nur einen Roman. Spät hat sie angefangen, Bücher zu publizieren, knapp 40 Jahre war sie alt, als ihre erste Short-Story-Sammlung erschien, "Dance of the Happy Shades", 1968 war das. Im Bundesstaat Ontario wurde Alice Munro geboren, dort lebt sie heute noch.
Denis Scheck in Frankfurt auf der Buchmesse, Literaturredakteur im Deutschlandfunk: Aus Beziehungsgeschichten, Familienleben und Mutter-Tochter-Verhältnissen schlägt Munro literarisches Kapital. Können Sie uns das Stoff- und Motivrepertoire genauer aufschließen?
Denis Scheck: Ich kann es zumindest mal versuchen.
Schmitz: Bitte!
Scheck: Ich will Ihnen mal einen kleinen Erlebnisbericht von dieser Literaturpreisverleihung oder der Bekanntgabe vielmehr hier auf der Frankfurter Buchmesse vermitteln. Ich habe selten so viele strahlende Gesichter gesehen, als der Name Alice Munro bekannt wurde, um 13 Uhr von der Stockholmer Jury, und keineswegs nur im S. Fischer Verlag und bei Dörlemann, wo das Werk dieser Autorin auf Deutsch erscheint, sondern generell in der literarischen Welt, die sich hier in Frankfurt trifft, weil man erkannte, dass mit Alice Munro eben nicht nur eine individuelle Autorin aus Kanada ausgezeichnet wurde, sondern die beste Repräsentantin jener Form der Erzählung, der Kurzgeschichte, der Short Story, die in Munro mit ihren über zehn Erzählungsbänden eine Innovatorin gefunden hat.
Man dachte ja eigentlich, dass die Erzählung tschechowscher Prägung, also die wirkliche Auslotung des Seelenraums des Menschen, eine Geschichte ist, die abgeschlossen ist, sagen wir, im 19., spätestens im 20. Jahrhundert. Aber die breite Rezeption, die Alice Munro weltweit gefunden hat, hat bewiesen, dass sie, Alice Munro, jedenfalls diese innovative Form auch ins 21. Jahrhundert gebracht hat.
Mit welchen Mitteln schafft sie das? – Na ja, sie schreibt über, wie wir im O-Ton gehört haben, das, was viele Menschen "ordinary people" nennen, einfache, gemeine Menschen. Auch wenn sie glaubt, dass es diese Menschen so in dieser Form nicht gibt, jeder von uns ist ein Kontinent, und so sind ihre Erzählungen, die oft Paarbeziehungen thematisieren, am Anfang oft Tochter-Mutter-Verhältnisse. Dann wechselt die Perspektive mit dem erwachsen werden ihrer eigenen Kinder - drei haben überlebt, vier hat sie geboren - auf das Mutter-Dasein, teilweise aufs Großmutter-Dasein über. Paarbeziehungen, Mutter-Tochter-Beziehungen, das sind die Stoffe. Aber was schafft sie? Wie kann man irgendwie sagen, mit welchen Mitteln sie arbeitet? – Im Grunde: Wenn Tschechow einen Röntgen-Apparat zur Verfügung hat, dann hat sie einen Computer-Tomographen für die Seele. Es wird noch feiner.
Rund ein Dutzend Bände mit Kurzgeschichten hat Alice Munro geschrieben, nur einen Roman. Spät hat sie angefangen, Bücher zu publizieren, knapp 40 Jahre war sie alt, als ihre erste Short-Story-Sammlung erschien, "Dance of the Happy Shades", 1968 war das. Im Bundesstaat Ontario wurde Alice Munro geboren, dort lebt sie heute noch.
Denis Scheck in Frankfurt auf der Buchmesse, Literaturredakteur im Deutschlandfunk: Aus Beziehungsgeschichten, Familienleben und Mutter-Tochter-Verhältnissen schlägt Munro literarisches Kapital. Können Sie uns das Stoff- und Motivrepertoire genauer aufschließen?
Denis Scheck: Ich kann es zumindest mal versuchen.
Schmitz: Bitte!
Scheck: Ich will Ihnen mal einen kleinen Erlebnisbericht von dieser Literaturpreisverleihung oder der Bekanntgabe vielmehr hier auf der Frankfurter Buchmesse vermitteln. Ich habe selten so viele strahlende Gesichter gesehen, als der Name Alice Munro bekannt wurde, um 13 Uhr von der Stockholmer Jury, und keineswegs nur im S. Fischer Verlag und bei Dörlemann, wo das Werk dieser Autorin auf Deutsch erscheint, sondern generell in der literarischen Welt, die sich hier in Frankfurt trifft, weil man erkannte, dass mit Alice Munro eben nicht nur eine individuelle Autorin aus Kanada ausgezeichnet wurde, sondern die beste Repräsentantin jener Form der Erzählung, der Kurzgeschichte, der Short Story, die in Munro mit ihren über zehn Erzählungsbänden eine Innovatorin gefunden hat.
Man dachte ja eigentlich, dass die Erzählung tschechowscher Prägung, also die wirkliche Auslotung des Seelenraums des Menschen, eine Geschichte ist, die abgeschlossen ist, sagen wir, im 19., spätestens im 20. Jahrhundert. Aber die breite Rezeption, die Alice Munro weltweit gefunden hat, hat bewiesen, dass sie, Alice Munro, jedenfalls diese innovative Form auch ins 21. Jahrhundert gebracht hat.
Mit welchen Mitteln schafft sie das? – Na ja, sie schreibt über, wie wir im O-Ton gehört haben, das, was viele Menschen "ordinary people" nennen, einfache, gemeine Menschen. Auch wenn sie glaubt, dass es diese Menschen so in dieser Form nicht gibt, jeder von uns ist ein Kontinent, und so sind ihre Erzählungen, die oft Paarbeziehungen thematisieren, am Anfang oft Tochter-Mutter-Verhältnisse. Dann wechselt die Perspektive mit dem erwachsen werden ihrer eigenen Kinder - drei haben überlebt, vier hat sie geboren - auf das Mutter-Dasein, teilweise aufs Großmutter-Dasein über. Paarbeziehungen, Mutter-Tochter-Beziehungen, das sind die Stoffe. Aber was schafft sie? Wie kann man irgendwie sagen, mit welchen Mitteln sie arbeitet? – Im Grunde: Wenn Tschechow einen Röntgen-Apparat zur Verfügung hat, dann hat sie einen Computer-Tomographen für die Seele. Es wird noch feiner.
"Wir sind so romanbesessene Leser geworden"
Schmitz: Sie haben es beschrieben: eher kleinbürgerliche Verhältnisse sind die Konstellationen, aus denen sie große Dramen ja wohl destilliert. So hieß es auch in einer amerikanischen Kritik. Steckt also bei ihr im Kleinen der ganz schwache, der böse Mensch, der hurt, lügt, stiehlt und mordet, wie es bei Büchner heißt, den wir heute auch noch besprechen werden hier in dieser Sendung?
Scheck: Ja. Mord – oh ja, sie schreibt auch über Mörder, über Menschen, die zum Beispiel ihre Kinder umgebracht haben oder über Mädchen, die eine missliebige Freundin mehr oder minder aus Versehen quälen und dabei töten. Das kann schon passieren. Aber sie schreibt auch für mich unvergesslich in ihrem vorletzten, auf Deutsch erschienenen Erzählungsband über eine Ehe mit einem Geologen. Alice Munros letztes Jahr verstorbener Mann war selber Geologe. Und diese Erzählung ist deshalb unvergesslich, weil sie dieses Bild des Geologen, der sich über die verschiedenen Schichten der Erdformungen von Ontario beugt, kontrastiert mit den Bildern der Frau, die an Krebs erkrankt und selber beschädigte Zellschichten Schicht um Schicht analysiert. Das sind beides Menschen mit dem gleichen Blick: der eine geht nach außen in die Welt, der andere, der Blick der Frau, nach innen, und die setzt sie gegeneinander.
Der Effekt, wenn man Alice Munro liest, ist, dass man das Gefühl hat, man hat einen großen umfangreichen russischen Roman aus dem 19. Jahrhundert gelesen. Dabei war es "nur" eine 30, 40 Seiten umfassende Erzählung. Sie hat sich mit Händen und Füßen immer dagegen gewehrt, dass man ihre Erzählungen als Miniaturen bezeichnet, weil sie darauf insistierte, dass die Form der Erzählung genauso innovativ und genauso künstlerisch wichtig sein kann wie die Form des Romans. Wir sind so romanbesessene Leser geworden in den letzten 200 Jahren, aber wer weiß: Vielleicht kann dieser Literaturpreis dieses Jahr daran auch ein bisschen was ändern. Das wäre jedenfalls zu wünschen. Munro ist ja das typische Produkt vom "New Yorker". Der hat sie, dieses amerikanische Wochenmagazin, wirklich international berühmt gemacht, und vielleicht läutet ja jetzt der Nobelpreis für Alice Munro eine Renaissance der Erzählung ein.
Schmitz: Sie meinen, das war möglicherweise auch eine bewusste Entscheidung der Jury, einer Kurzgeschichtenautorin den Preis zu geben, um dieses Signal zu setzen: Leute, schaut auf die Kurzgeschichte in aller Kürze?
Scheck: Aber natürlich! Nicht nur ein Polit-Clown mit seinen Theaterstücken wie Dario Fo, sondern jetzt auch mal die große alte Lady der Kurzgeschichte. Das ist das über die Person Munro hinausweisende, das Tolle an dieser Entscheidung.
Schmitz: Denis Scheck, vielen Dank für das Gespräch über die neue Literaturnobelpreisträgerin, die Kanadierin Alice Munro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Scheck: Ja. Mord – oh ja, sie schreibt auch über Mörder, über Menschen, die zum Beispiel ihre Kinder umgebracht haben oder über Mädchen, die eine missliebige Freundin mehr oder minder aus Versehen quälen und dabei töten. Das kann schon passieren. Aber sie schreibt auch für mich unvergesslich in ihrem vorletzten, auf Deutsch erschienenen Erzählungsband über eine Ehe mit einem Geologen. Alice Munros letztes Jahr verstorbener Mann war selber Geologe. Und diese Erzählung ist deshalb unvergesslich, weil sie dieses Bild des Geologen, der sich über die verschiedenen Schichten der Erdformungen von Ontario beugt, kontrastiert mit den Bildern der Frau, die an Krebs erkrankt und selber beschädigte Zellschichten Schicht um Schicht analysiert. Das sind beides Menschen mit dem gleichen Blick: der eine geht nach außen in die Welt, der andere, der Blick der Frau, nach innen, und die setzt sie gegeneinander.
Der Effekt, wenn man Alice Munro liest, ist, dass man das Gefühl hat, man hat einen großen umfangreichen russischen Roman aus dem 19. Jahrhundert gelesen. Dabei war es "nur" eine 30, 40 Seiten umfassende Erzählung. Sie hat sich mit Händen und Füßen immer dagegen gewehrt, dass man ihre Erzählungen als Miniaturen bezeichnet, weil sie darauf insistierte, dass die Form der Erzählung genauso innovativ und genauso künstlerisch wichtig sein kann wie die Form des Romans. Wir sind so romanbesessene Leser geworden in den letzten 200 Jahren, aber wer weiß: Vielleicht kann dieser Literaturpreis dieses Jahr daran auch ein bisschen was ändern. Das wäre jedenfalls zu wünschen. Munro ist ja das typische Produkt vom "New Yorker". Der hat sie, dieses amerikanische Wochenmagazin, wirklich international berühmt gemacht, und vielleicht läutet ja jetzt der Nobelpreis für Alice Munro eine Renaissance der Erzählung ein.
Schmitz: Sie meinen, das war möglicherweise auch eine bewusste Entscheidung der Jury, einer Kurzgeschichtenautorin den Preis zu geben, um dieses Signal zu setzen: Leute, schaut auf die Kurzgeschichte in aller Kürze?
Scheck: Aber natürlich! Nicht nur ein Polit-Clown mit seinen Theaterstücken wie Dario Fo, sondern jetzt auch mal die große alte Lady der Kurzgeschichte. Das ist das über die Person Munro hinausweisende, das Tolle an dieser Entscheidung.
Schmitz: Denis Scheck, vielen Dank für das Gespräch über die neue Literaturnobelpreisträgerin, die Kanadierin Alice Munro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.