Archiv

Eine Kulturgeschichte "alternativer Fakten"
Wahrheit oder Lüge?

Seit Donald Trumps Sprecherin Kellyanne Conway erklärte, ihr Boss lüge nicht, sondern präsentiere eben "alternative Fakten", gehört diese Sichtweise zu den meist diskutierten Phänomenen des letzten Jahres. Auch wenn Trump mehr als einmal nachweislich gelogen hat, fragen sich Geisteswissenschaftler, ob es alternative Fakten vielleicht tatsächlich gibt.

Von Regina Kusch und Andreas Beckmann |
    Computertaste mit der Aufschrift "alternative facts".
    Gibt es alternative Fakten? (imago)
    Fernsehgespräch (NBC):
    "Kellyanne Conway: Our press secretary gave alternative facts to that.
    Moderator: Alternative facts? Look, alternative facts are not facts. They’re falsehoods.
    Kellyanne Conway: You can laugh at me, if you want. I’m bigger than that."
    Die Szene, in der Donald Trumps Sprecherin Kellyanne Conway einem NBC-Moderator erklärt, ihr Boss lüge nicht, sondern biete bloß alternative Fakten an, ist mittlerweile Kult in Comedy-Shows. Dann lachen die Zuschauer gerne über die Frau, die sich empört, nicht ernst genommen zu werden.
    Tatsächlich hätte Kellyanne Conway ihren Standpunkt ein bisschen besser begründen können. Wäre sie geisteswissenschaftlich gebildet, hätte sie sich auf post-moderne Theoretiker berufen können wie Jean-Francois Lyotard oder Michel Foucault. Lyotard erklärte schon Ende der 60erJahre, dass es unumstößliche, empirisch gesicherte Fakten gar nicht gebe. Sondern dass Fakten nur Interpretationen bestimmter Sachverhalte seien, die man auch anders, eben alternativ deuten könne.
    Und welche dieser Interpretationen dann als wahr gelte, hänge davon ab, in welche große Erzählung sie eingebettet werde. Mit großen Erzählungen meinte Lyotard die Welt-Religionen oder auch moderne Gesellschaftstheorien, die er Narrative nannte.
    "Große Erzählungen" und "Narrative"
    "Ich ärgere mich schon sehr viel über diese Rede von Narrative, weil das wird von den radikal Rechten übernommen. Ja, wenn es keine Fakten mehr gibt, sondern nur noch Narrative, dann wollen wir das stärkste Narrativ haben."
    Deshalb, so Susan Neiman, Philosophin und Direktorin am Einstein Forum Potsdam, wiederholt einer wie Donald Trump seine Geschichten so oft er kann. So erreicht er in einer unübersichtlichen Welt, dass Menschen seine Behauptungen für wahr halten.
    So viel anders seien die großen Aufklärer seit dem 18. Jahrhundert aber auch kaum vorgegangen, behauptete Jean-Francois Lyotard. Immer wieder hätten sie erklärt, dass man in einem von der Vernunft geprägten Diskurs ermitteln könne, was ein Fakt sei und was nicht.
    Und so wie Trump seine Behauptungen immer wieder zur Bestätigung seiner rechtslastigen Ideologie anführt, hätten auch die Vertreter der Moderne ihre Fakten stets in ihre Weltanschauung eingebettet, wonach eine Kombination aus Menschenrechten, Meinungsfreiheit und repräsentativer Demokratie nicht nur die beste aller Gesellschaftsformen hervorbringe, sondern auch einen Rahmen bilde, in dem gleichberechtigte Menschen diskutieren könnten, was Fakten seien und was Lügen.
    Trump lügt - die Aufklärung auch?
    Doch in der Praxis hat das oft nicht gestimmt. So wurde etwaden Frauen lange die Fähigkeit zur Vernunft abgesprochen und das Wahlrecht vorenthalten. Farbige Menschen hat man Jahrhunderte lang versklavt. Und schließlich wurde die halbe Welt von Staaten kolonisiert, die sich aufgeklärt und demokratisch nannten.
    Angesichts dieser Fakten kann das universelle Versprechen der Moderne, allen Menschen Fortschritt und Freiheit zu ermöglichen, selbst als eine Lüge erscheinen.
    Susan Neiman: "Das ist eine extrem alte Haltung, die wird sowohl von links wie von rechts benutzt. Diese Idee, dass es weder Fakten noch moralische Ansprüche gibt. Das sind alles Machtansprüche und Versuche, uns rhetorisch zu blenden, damit wir glauben, irgendetwas ist eine universelle Wahrheit, wenn es in Wirklichkeit nur den Interessen der Mächtigen entspricht. Das klingt sehr auch nach Carl Schmitt."
    Einer der zentralen Begriffe, die der politische Philosoph Carl Schmitt in den 1920er Jahren in die Staatsrechtslehre einführte, war der der Verfassungswirklichkeit. Mochten die modernen Verfassungstexte ein "ewiges Gespräch" aller Interessengruppen postulieren, in dem immer wieder Kompromisse erreicht werden sollten, so sah die Verfassungswirklichkeit für ihn anders aus. Dort prallten Massen-Bewegungen von rechts wie von links aufeinander. Sie suchten "die definitive Auseinandersetzung" oder "die blutige Entscheidungsschlacht" darüber, was richtig oder falsch sei. So wie seinerzeit Faschisten, Nationalsozialisten und Bolschewisten.
    Theorien von Carl Schmitt und Jean-Francois Lyotard
    Von postmodernen Linken wie Lyotard oder Foucault wurden Schmitts Theorien in den 60er Jahren wieder aufgegriffen, weil ihnen Schmitts Gegenüberstellung von Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit geeignet schien, die Herrschaftsverhältnisse in modernen Gesellschaften zu kritisieren.
    Die postmodernen Linken kritisierten insbesondere die kulturelle Vorherrschaft der heterosexuellen, weißen Männer, die ihre Vorstellungen und Normen allen Nicht-Weißen, Frauen und Homosexuellen aufgezwungen hätten.
    Diese Kritik hat in den letzten Jahrzehnten zumindest in den westlichen Demokratien grundlegende Umwälzungen vorangetrieben. Sie hat die Emanzipation der Frauen ebenso vorangebracht wie die von ethnischen oder sexuellen Minderheiten. Alle diese Gruppen haben dabei eigene Diskurse hervorgebracht, feministische oder postkoloniale, die die Gültigkeit des universalistischen Ideals der Moderne in Frage stellen, so Susan Neiman in ihrem "Manifest in postfaktischen Zeiten".
    "Aber anstatt die Geschichtserzählungen zu erweitern und zu sagen, wir müssen da auch andere Perspektiven mit einnehmen, damit wir so etwas wie eine universelle Geschichtsschreibung erreichen können, wird alles über Bord geworfen und es wird nur noch von Narrativen gesprochen. Das ist brandgefährlich."
    Denn in der gesellschaftlichen Praxis stehen diese Narrative oft unverbunden nebeneinander, ergänzt der Soziologe Andreas Reckwitz. In seinem Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" beschreibt der Professor von der Europa-Universität in Frankfurt an der Oder den Alltag post-industrieller Länder. Dort seien die Menschen in derart vielfältigen, voneinander getrennten Lebenswelten unterwegs, dass sie kaum noch die Perspektiven anderer Gruppen verstehen könnten.
    Diskursblockaden in der "Gesellschaft der Singularitäten"
    Eine Verständigung kommt laut Reckwitz schon allein deshalb nicht zustande, weil die Vertreter der verschiedenen Lebenswelten nur noch selten überhaupt miteinander ins Gespräch kämen.
    "Was die Krise des Politischen in der Spätmoderne charakterisiert, ist, dass in vieler Hinsicht die allgemeine Öffentlichkeit erodiert. Auch bestimmte Institutionen, die sich gerade das Allgemeinwohl auf die Fahnen schreiben, wie etwa die Volksparteien, erodieren und wir stattdessen die Neigung zu einer gewissen Fragmentierung und Parzellierung innerhalb der Öffentlichkeit haben. So dass dann ganz unterschiedliche Öffentlichkeiten existieren, so dass man sich wirklich fragen kann: Gibt es da noch einen gemeinsamen Diskursraum?"
    In westlichen Gesellschaften wie der Bundesrepublik sieht Andreas Reckwitz zwei Diskursräume. Der eine ist der linksliberal-konservative, der von den klassischen Medien abgebildet wird. Der andere ist der identitäre, der politisch von der AfD vertreten wird und in den Echoräumen des Internets und der sozialen Medien widerhallt. Diese beiden Diskursräume sind fast schon hermetisch voneinander getrennt.
    Sie sind vor allem deshalb so getrennt, weil sich die einen als Gewinner der Modernisierungen der letzten Jahrzehnte fühlen können, da sie größere Freiheiten gewonnen haben, zum Beispiel Frauen und Homosexuelle. Andere, etwa weiße männliche Arbeiter, sehen dagegen die relativen Privilegien sozialer Sicherheit schwinden, die sie seit dem Zweiten Weltkrieg genießen durften, und wähnen sich als Verlierer.
    Gewinner und gefühlte Verlierer
    Wo es aber, und sei es nur gefühlt, Gewinner und Verlierer gibt, ist der universelle Fortschritt zum Stehen gekommen.
    Andreas Reckwitz: "Mir geht es ja jetzt primär um die Veränderung in den ehemaligen Industriegesellschaften und die hat eben zu einer sozialen und kulturellen Polarisierung geführt. Also zum Aufstieg einer neuen Mittelklasse einerseits und zum Abstieg einer neuen Unterklasse andererseits, dazwischen befindet sich die alte Mittelklasse und das ist ja ein Prozess, der auch mit Deklassierungen und Entwertungserfahrungen verbunden ist."
    In dieser Perspektive erscheint dann die Vorstellung einer modernen Gesellschaft, in der freie Individuen die Bedingungen des Zusammenlebens im offenen Diskurs miteinander aushandeln, schnell wie eine Weltanschauung, die nur Gewinnern nützt.
    Noch polarisierter sieht das Bild aus, wenn man über Europa und Nordamerika hinaus die gesamte Welt in den Blick nimmt, sagt der Soziologe Pankaj Mishra, der in London und Delhi lebt.
    Für ihn beinhaltet die Idee der Moderne nicht nur, dass Individuen im freien Diskurs ihre Gedanken, sondern auch auf freien Märkten ihre Waren austauschen. Und sie beinhaltet das Versprechen, dass diese Märkte zur Steigerung des allgemeinen Wohlstands beitragen würden.
    Menschenrechte, Demokratie und die kapitalistische Wirtschaftsordnung gehören für Pankaj Mishra untrennbar zusammen.
    "Diese drei dominanten Ideale der bürgerlichen Gesellschaft wurden den Menschen im globalen Süden immer als eine Einheit präsentiert. Doch das liberale Fortschrittsversprechen der Moderne hat sich nie erfüllt, im Gegenteil: die Ungleichheiten zwischen dem Westen auf der einen Seite und der Rest der Welt auf der anderen sind stetig gewachsen. Für die Völker des Südens erscheint der Universalismus daher als eine Maske, die der Westen aufsetzt, bevor er den Rest der Welt ausraubt."
    Wut auf den Westen und seine Moderne
    Doch dieser Rest der Welt habe von dieser Lüge die Nase voll, ergänzt Pankaj Mishra in seinem Buch "Zeitalter des Zorns". Denn was nütze die Erklärung der Menschenrechte, wenn Milliarden hungern und keinen Zugang zu sauberem Wasser haben?
    Weil dies das Schicksal von Milliarden Menschen sei, laufe das chinesische Modell inzwischen dem Westen den Rang ab.
    "China konfrontiert heute den Westen mit seinen Lebenslügen. Die Partei dort macht gar keinen Hehl daraus, dass sie das Volk autoritär führen will. Aber sie verspricht sozialen Fortschritt und viele Millionen Chinesen haben ja auch den Aufstieg in die Mittelklasse geschafft. In Asien und Afrika findet dieses Modell immer mehr Nachahmer, von Vietnam bis Angola, während das Konzept der westlichen Moderne nur noch Zorn und Ablehnung hervorruft."
    Anders als Pankaj Mishra will Achille Mbembe die Versprechen der Moderne noch nicht ganz auf aufgeben. Der Professor für Politologie an der Witwatersrand-Universität Johannesburg sieht eine Chance auf ihre Erneuerung, wenn die Europäer anerkennen, dass in der Praxis die Menschenrechte oft nur für sie allein gegolten hätten.
    Die Erfahrung der Ausbeutung
    Sie müssten endlich ihre Lügen und Irrtümer eingestehen und jene Fakten anerkennen, die den Erfahrungsschatz der Afrikaner ausmachten.
    "Ein Grund, warum es so schwer ist, über allgemein gültige Fakten zu reden, liegt darin, dass wir uns nicht einigen können, was denn die Fakten sind, die unsere gemeinsame Weltgeschichte ausmachen. Europa erzählt uns etwas von der Moderne, von Vernunft und Menschenrechten und einem Fortschritt in diese Richtung. Aber wir erleben wieder und wieder das Drama einer brutalen Ausbeutung."
    In einem Vortrag im Haus der Kulturen der Welt in Berlin erklärte Mbembe im Frühjahr 2017, dass diese strukturelle Gewalt der Ausbeutung ebenso verheerende Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Menschen habe wie die offene Gewalt von Kriegen.
    "Dies wirft grundsätzliche moralische Fragen auf, ob es zwischen denen, die bisher von Ausbeutung profitiert haben und denen, die sie erlitten haben, überhaupt noch eine Basis gibt für Gespräche darüber, was richtig oder falsch ist. Oder ob wir einfach feststellen müssen, dass Feindschaft das Kennzeichen unserer Zeit ist."
    Die Frustration kann Susan Neiman gut verstehen. Aber wenn sie sich gegen die Moderne, gegen die Aufklärung und gegen das Konzept richtet, mit Hilfe der Vernunft Wahrheiten und Fakten von Lügen zu unterscheiden, dann meint sie, sei diese postkoloniale Wut fehlgeleitet.
    "Die Aufklärer im 18. Jahrhundert waren die ersten, die den Begriff vom Eurozentrismus überhaupt erfunden haben. Und die ständig gesagt haben, dass die Europäer sehr viel zu lernen haben aus anderen Ländern, aus anderen Kulturen, aus China, aus Persien, aus Afrika."
    Aufklärung und Kolonialismus
    Doch im 19. Jahrhundert geriet das alles zusehends in Vergessenheit, räumt auch Susan Neiman ein.
    "Das war die erste große Zeit des Kolonialismus. Da war Hegel mit der Behauptung Preußen, Europa sei das Ende der Geschichte, der große Entscheidungsträger der Welt."
    Pankaj Mishra: "Was wir erlebt haben im globalen Süden ist die Schaffung eines sozialen Dschungels, in dem die Menschen vor allem Konkurrenten sind. Und diese Verhältnisse schlagen jetzt auf Europa zurück, wo der Sozialstaat immer schwächer wird. Alle Formen der demokratischen Kooperation werden dadurch beschädigt und es öffnet sich ein Raum, in den faschistische oder zumindest halb-faschistische Bewegungen hineinstoßen."
    Donald Trump, die AfD und andere rechte Bewegungen sind für Pankaj Mishra nicht die Ursache des Problems, sondern sein Ausdruck. Die westliche Demokratie wirkt vor allem deswegen so schwach, weil in den Gesellschaften selbst immer mehr Menschen das Vertrauen in sie verlieren. Noch sind es nur relevante Minderheiten. Doch Trump hat gezeigt, dass man auch ohne Mehrheit der Wähler an die Macht kommen und die politische Agenda bestimmen kann.
    Den Grund für den Vertrauensverlust sieht Andreas Reckwitz paradoxerweise im Erfolg jener politischen Strömung, die sich seit der Aufklärung wie keine andere die Ideale der Moderne auf ihre Fahnen geschrieben hat: des Liberalismus.
    "Einerseits der Wirtschaftsliberalismus, der eben auf den Wettbewerbsstaat setzt, anderseits aber auch der Linksliberalismus, der auf individuelle Persönlichkeitsrechte, auf Diversity setzt. Beide Seiten hängen ja faktisch, auch wenn die Akteure das gar nicht unbedingt so sehen, zusammen, weil sie das begründet haben, was man einen differentiellen Liberalismus nennen kann, also einen Liberalismus, der auf Unterschiede setzt. Auch der Linksliberalismus setzt teilweise auf die Unterschiede von Individuen und von kulturellen Gemeinschaften. Aber natürlich, diese Form des Liberalismus hat seine Kosten und Nebenfolgen."
    Demokratie und Ungleichheit
    Indem er wachsende soziale Unterschiede in Kauf nimmt, erzeugt dieser differentielle Liberalismus bei immer mehr Menschen die Furcht, sie könnten eines Tages zu Verlierern werden. Andere haben das Gefühl, ihr traditioneller Lebensstil werde als überholt abgewertet, wenn Flüchtlinge und Homosexuelle als gesellschaftliche Bereicherung gefeiert werden. Auch wenn diese Ängste oft unberechtigt sind, bestimmen sie politisches und gesellschaftliches Verhalten.
    Angesichts aktueller wirtschaftlicher und technologischer Entwicklungen steht zu befürchten, dass diese Ängste weltweit zunehmen, meint Achille Mbembe in seinem aktuellen Buch "Politik der Feindschaft".
    "Die Digitalisierung macht alle Menschen überall auf der Welt zu Rädchen im Getriebe eines globalen Turbokapitalismus. Jeder wird jederzeit austauschbar und muss sich deshalb einer neuen Weltherrschaft weniger Konzerne unterwerfen."
    Die Europäer hätten zwar immer gedacht, sie seien das Maß aller Dinge und die anderen würden ihnen folgen auf dem Weg des Fortschritts in Richtung Freiheit und Wohlstand. Aber für Mbembe ist es an der Zeit, dass sie sich mit einem alternativen Faktum vertraut machen: ihnen drohe das Schicksal, dass die Afrikaner schon kennen. Nämlich die Ausbeutung durch anonyme Mächte, die in fernen Firmenzentralen und Bankentürmen residieren.
    Ist die Zukunft schwarz?
    Seine Antwort auf diese Gefahr nennt Achille Mbembe Necropolitics, eine Politik, die auf den Erfahrungen Afrikas aufbaut.
    "Necropolitics beginnt in dem Moment, wo wir erkennen, dass wir im Grunde alle Afrikaner sind. Dass wir alle gleich sind in dem Sinne, dass uns allen die gleiche Ausbeutung droht und damit die gleiche Unfreiheit. Daraus müssen wir uns befreien und auf der Basis der Gleichheit lernen, die Welt miteinander zu teilen."
    Achille Mbembe klingt an manchen Stellen sehr spirituell, an anderen geradezu neo-marxistisch. Nicht mehr die Proletarier aller Länder sollen sich vereinen, sondern die sich mehr oder weniger selbst befreienden Individuen aller Kontinente. Das Internet, das alle mit allen verbindet, könnte die Infrastruktur für ein derartiges Modell einer Weltrevolution bereitstellen.
    Als innerer Widerspruch dieser Utopie bleibt allerdings das Problem, dass gerade dieses Internet längst von denselben Konzernen und Staatsapparaten beherrscht wird, die die Entwicklung zum globalen Turbokapitalismus vorantreiben.
    Insofern erscheint der Impuls der neuen Rechten, die fortlaufende Modernisierung zu stoppen und die Entwicklung zurückzudrehen, schon verständlich. Aber er ist eben aussichtslos, betont Andreas Reckwitz.
    "Sowohl ökonomisch als auch technisch, Stichwort Digitalisierung, als auch bei der Pluralisierung der Lebensstile ist es so, ist ein Zurück auch nicht wünschenswert. Aber trotzdem sollte man sich fragen, ob eine Stärkung des Sozialen oder auch bestimmter allgemeingültiger Elemente von Kultur, ob das nicht wieder eine größere Rolle spielen kann."
    Ein regulativer Liberalismus
    Andreas Reckwitz plädiert deshalb für einen neuen, einen regulativen Liberalismus, um das Projekt der Moderne vor seinem Zerfall zu bewahren.
    "Da geht es ja wieder um klassische Fragen von Sozialstaat, wie verschiedene Formen von Arbeit trotz ihrer hohen Unterschiedlichkeit, trotz der Unterschiede zwischen hoch und niedrig qualifizierten, trotzdem so etwas wie eine allgemein gültige Behandlung, auch allgemeine Wertschätzung erfahren sollten. Und auf der anderen Seite haben wir die Frage, inwiefern die Gefahr besteht, dass sich zu viele kleine kulturelle Gemeinschaften mit ihren jeweiligen Binnenlogiken ausdifferenzieren und was diese dann zusammenhält, auf kultureller und normativer Ebene zusammenhält."
    Mehr soziale Gleichheit sollte den gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder stärken. Und das könnte die vereinzelten Milieus motivieren, ihre jeweiligen partikularen Debatten wieder stärker inklusiv zu führen und nach Wahrheiten und Fakten zu suchen, auf die sich die Gesellschaft insgesamt einigen kann.
    Leute wie Donald Trump oder die Politiker der AfD haben daran kein Interesse. Sie halten ihre Reden über alternative Fakten, um andere auszuschließen oder sich gegen sie durchzusetzen.
    Doch in der Geschichte konnten alternative, einander womöglich widersprechende Fakten noch nie auf Dauer friedlich nebeneinander existieren. Früher oder später suchte stets eine Gruppe ganz im Sinne von Carl Schmitt die Entscheidungsschlacht darüber, was als richtig oder falsch zu gelten habe.
    Am Ende einer solchen Entscheidungsschlacht stand allerdings nie eine demokratische Gesellschaft von Gleichen. Sondern stets das Diktat einer Gruppe, die ihre Vorstellung von Fakten für alternativlos erklärte.
    Literatur:
    Susan Neiman: Widerstand der Vernunft – Ein Manifest in postfaktischen Zeiten, Ecowin 2017
    Achille Mbembe: Politik der Feinschaft - Suhrkamp 2017
    Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns – Eine Geschichte der Gegenwart, S. Fischer 2017
    Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten - Suhrkamp 2017