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Eine Lange Nacht über Albanien
"Hier ist Tirana …"

Kaum vorstellbar, dass es einmal ein Land in Europa gab, das komplett abgeschottet war. Nur eine Stimme drang durch das Rauschen im Äther nach außen: "Hier ist Tirana…". In mehr als 20 Sprachen pries Radio Tirana das "freie und fröhliche Leben der Albaner und die glänzenden Perspektiven, die ihnen der Sozialismus eröffnet". Doch wer konnte das nachprüfen?

Von Fritz Schütte |
    Die Villa des ehemaligen Diktators Enver Hoxha in der albanischen Hauptstadt Tirana, aufgenommen am 6.9.2013
    Die Villa des ehemaligen Diktators Enver Hoxha in der albanischen Hauptstadt Tirana. Das Land war jahrzehntelang von der Welt abgeschottet - einzig Radio Tirana sendete über Kurzwelle in den Äther. (imago / ZUMA Press)
    Kaum vorstellbar, dass es einmal ein Land in Europa gab, das komplett abgeschottet war. Nur eine Stimme drang durch das Rauschen im Äther nach außen. "Hier ist Tirana…." In mehr als zwanzig Sprachen pries Radio Tirana das "freie und fröhliche Leben der Albaner und die glänzenden Perspektiven, die ihnen der Sozialismus eröffnet". Doch wer konnte das nachprüfen? Touristen durften das Land nur in Reisegruppen besuchen. Kontakte zu Einheimischen waren unerwünscht. Diktator Enver Hoxha hatte 1961 mit der Sowjetunion gebrochen. Ingenieure und Facharbeiter aus China kamen ins Land. Albaner studierten in Peking. 1978 zerbrach auch diese Freundschaft, und mit der Isolation wuchs die Paranoia des Diktators. Politische "Säuberungen" und Schauprozesse waren an der Tagesordnung.
    Wie überall auf der Welt träumten auch in Albanien Jugendliche davon, Sängerinnen zu werden, Schauspieler oder Schriftsteller. Das Liederfestival war der kulturelle Höhepunkt des Jahres. Da es in Albanien keine Schallplattenindustrie gab, lebten Titel, die nicht mehr im Radio gespielt wurden, nur in der Erinnerung weiter. Nach Jahrzehnten erzwungenen Schweigens erklingt die Stimme von Alida Hisku wieder. Sie lebt jetzt in Deutschland. Der Schriftsteller Bashkim Shehu hatte gerade ein Buch veröffentlicht, als er in Ungnade fiel. Sein Vater war Ministerpräsident, der zweite Mann nach Enver Hoxha, und wurde nach seinem Selbstmord von diesem posthum der Spionage verdächtigt. Die Familie kam ins Gefängnis. Heute lebt Bashkim als Autor und Übersetzer in Spanien. Die Lange Nacht erzählt über ein Land, das 25 Jahre nach der Wende immer noch so unbekannt ist wie damals. Damit das nicht so bleibt, heißt es auch auf Kurzwelle noch heute: "Hier ist Tirana…"
    "Hier ist Tirana…"
    "Ich erinnere mich an den Radioapparat in unserer Stube mit der Taste für Kurzwelle, die ich als Kind gerne drückte. Eine der Stimmen, die das Rauschen durchdrangen, kam aus Tirana. Die Recherche im Internet ergibt: das deutsche Programm von Radio Tirana wird heute noch ausgestrahlt. Der Redakteur ist derselbe wie früher. Ein Klub von Veteranen, die dieses Programm seit Jahrzehnten hören, fährt zwanzig Jahre nach der Wende erstmals nach Tirana. Auf meiner zweiten Reise nach Albanien lerne ich Redakteur Astrit Ibro kennen, der Deutsch in Peking gelernt hat. Später besuche ich deutsche Sprecherinnen und Sprecher, die damals als überzeugte Kommunisten zwei Jahre in Tirana zubrachten. Heute haben sie ihre Illusionen verloren. Geblieben ist die Liebe zu Albanien, den Menschen und vor allem zu ihrer Musik."
    Radio Tirana ist im Internet zu hören
    Die Seite des Hörerclubs
    Waltraud Bejko ist in Chemnitz geboren, hat während des Studiums in der UdSSR ihren späteren Mann kennen gelernt und ihr Leben in Albanien verbracht.
    Davon erzählt sie in:
    Waltraud Bejko:
    Albanien – Mein Leben

    Mehr dazu - Waltraud starb 2013 nach schwerer Krankheit in Gelsenkirchen. Mehr
    Die Deutsch-Albanische Freundschaftsgesellschaft gibt die Albanischen Hefte heraus und ist ein Verein mit einer sehr spannenden Geschichte, die nachzulesen ist in:
    Thomas Kacza:
    Wie die deutschen Freunde Albaniens zusammenfanden und ihr Gang durch die Zeiten.
    Privatdruck, Bad Salzuflen 2015

    "Eine der in der Sozialistischen Volksrepublik Albanien leidenschaftlich verehrten Sängerinnen lebt heute in einem Dorf in Hessen. "Die Texte waren schlimm", gesteht Alida Hisku. "Aber ich habe die Leute mit meiner Stimme mitten ins Herz getroffen." 1972 endet das Liederfestival, - heute albanischer Vorentscheid für den Grand Prix -, mit Haftstrafen für den Fernsehchef und zahlreiche Musiker. Auf meiner dritten Reise treffe ich Alidas Freunde. Es ist Sommer. Françesk Radi singt mir zu Ehren "Stille Nacht, Heilige Nacht …" Später wird mir klar, dass dieses Lied für ihn etwas anderes bedeutet."
    Ein Video über das legendäre 11te Liederfestival 1972:
    Der Lieblingstitel des Autors der Langen Nacht: Vaçe Zela. hat dieses Musikstück auf dem ersten Liederfestival gesungen
    Albanische Musik findet Sie im Internet hier - darunter auch Titel von Vaçe Zela, Alida Hisku und Françesk Radi, dem albanischen Adriano Celentano.
    Alidas Erinnerungen sind nachzulesen in:
    Alida Hisku:
    Die Hofnärrin des Diktators

    Der Dirigent Eno Koço hat seiner Mutter Tefta Tashko-Koço ein Buch gewidmet.
    Sie hat in Frankreich Gesang studiert und zwischen 1937 und 1942 einige albanische Lieder auf Schallplatte aufgenommen.
    Eno Koço
    Albanian Urban Lyric Song in the 1930s


    Der Musikwissenschaftler aus Halle bereist Albanien und dokumentiert iso-polyphone Gesänge.
    Eckehard Pistrick:
    Performing Nostalgia.
    Migration Culture and Creativity in South Albania


    "Ende der 70er Jahre überwirft sich Albanien mit China, seinem letzten Verbündeten, und am 17. Dezember 1981 erschüttert der Selbstmord von Ministerpräsident Mehmet Shehu das Land. Der schon paranoide Diktator Enver Hoxha behauptet, sein langjähriger Weggefährte sei ein Spion gewesen. Familienangehörige werden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Einer der Söhne lebt heute in Barcelona. "Über die damaligen Geschehnisse ist alles gesagt", findet Bashkim Shehu. "Ich bin Schriftsteller. Wir können über Literatur sprechen." Leider ist keines seiner Bücher auf Deutsch übersetzt. Mit den Kenntnissen aus einem Anfängersprachkurs und einem Wörterbuch mache ich mich an die Arbeit. Bashkim, erfahre ich, gilt als Stilist der albanischen Sprache. Das macht es nicht leichter. Doch die Mühe lohnt. "Mozart me vonesë" schildert ein Albanien, das es so nicht mehr gibt. In "Angelus Novus" lese ich von Häftlingen, die sich Englisch beibringen, um Kant nach einer englischen Ausgabe zu übersetzen…"

    Der renommierte Übersetzer für albanische Literatur ist Joachim Röhm
    Auf seiner Seite finden sich Übersetzungen zweier kürzerer Texte von Bashkim Shehu.
    Einige Titel liegen auf Französisch vor:
    Bashkim Shehu: L’automne de la peur
    Bashkim Shehu: Le dernier voyage d’Ago Umeri
    Bashkim war maßgeblich beteiligt an der Ausstellung über Albanien: Tiran(i)a
    Der Katalog ist zu beziehen über
    CCCB - Centre de Cultura Contemporània de Barcelona
    Eines der schönsten Bücher über Albanien hat ein neuseeländischer Autor geschrieben.
    Lloyd Jones:
    Der Mann, der Enver Hoxha war
    Das Buch ist schwer einzuordnen, aber gerade darin liegt der Reiz.

    Wenn Sie nach Tirana kommen, schauen Sie sich unbedingt die Nationale Kunstgalerie an. Die Internetseite bietet einen Vorgeschmack
    Café, Buchhandlung, Bibliothek und Oase der Ruhe in Tirana ist Friends Book House http://kafelibrari.kultura.gov.al/lista-e-kafelibrarive/friends-book-house/
    Zum Übernachten empfiehlt der Autor der Langen Nacht
    und für Sightseeing und Shopping

    Ein Platzregen treibt mich in eine der Bars an der Uferpromenade aus geborstenen Betonplatten. Eilig schickt der Wirt einen Jungen los, der kurz darauf mit einem älteren Herrn zurückkehrt. "Ich heiße Vangjel. In welcher Stadt wohnen Sie? …" Er habe sich selbst Deutsch beigebracht, erzählt er und weiß die Adresse seines Brieffreundes aus der DDR, mit dem er sich im Pionierlager angefreundet hat, auswendig. Das muss in den 50er Jahren gewesen sein, überlege ich, bevor der Vorhang zwischen Albanien und der UdSSR und ihren Verbündeten fiel. Vangjel klemmt meine Reisetasche auf den Fahrradgepäckträger und begleitet mich zur Fähre, die mich nach Italien zurückbringt. Seit meiner ersten Reise im Jahre 2001 kam regelmäßig zu Weihnachten eine Karte aus Durrës.
    Tirana Altes neben Neuem: Et-hem-Bey-Moschee, Uhrturm, Rathaus, TID Tower
    Tirana Altes neben Neuem: Et-hem-Bey-Moschee, Uhrturm, Rathaus, TID Tower (Fritz Schütte)
    Albanien war bis 1991 ein völlig abgeschottetes Land, in das man nur als Mitglied einer Reisegruppe kam. Ich erinnere mich an den Radioapparat in unserer Stube mit der Taste für Kurzwelle, die ich als Kind gerne drückte. Eine der Stimmen, die das Rauschen durchdrangen, kam aus Tirana. Die Recherche im Internet ergibt: das deutsche Programm von Radio Tirana wird heute noch ausgestrahlt. Der Redakteur ist derselbe wie früher. Ein Klub von Veteranen, die dieses Programm seit Jahrzehnten hören, fährt zwanzig Jahre nach der Wende erstmals nach Tirana. Auf meiner zweiten Reise nach Albanien lerne ich Redakteur Astrit Ibro kennen, der Deutsch in Peking gelernt hat. Später besuche ich deutsche Sprecherinnen und Sprecher, die damals als überzeugte Kommunisten zwei Jahre in Tirana zubrachten. Heute haben sie ihre Illusionen verloren. Geblieben ist die Liebe zu Albanien, den Menschen und vor allem zu ihrer Musik.
    Tirana - Der Kulturpalast am Skanderbeg-Platz  beherbergt Oper und Nationalbibliothek.
    Tirana - Der Kulturpalast am Skanderbeg-Platz beherbergt Oper und Nationalbibliothek. (Fritz Schütte)
    Eine der in der Sozialistischen Volksrepublik Albanien leidenschaftlich verehrten Sängerinnen lebt heute in einem Dorf in Hessen. "Die Texte waren schlimm", gesteht Alida Hisku. "Aber ich habe die Leute mit meiner Stimme mitten ins Herz getroffen." 1972 endet das Liederfestival, - heute albanischer Vorentscheid für den Grand Prix -, mit Haftstrafen für den Fernsehchef und zahlreiche Musiker. Auf meiner dritten Reise treffe ich Alidas Freunde. Es ist Sommer. Françesk Radi singt mir zu Ehren "Stille Nacht, Heilige Nacht …" Später wird mir klar, dass dieses Lied für ihn etwas anderes bedeutet.
    Der Skanderbeg-Platz ist das Zentrum Tiranas.
    Der Skanderbeg-Platz ist das Zentrum Tiranas. (Fritz Schütte)
    Ende der 70erJahre überwirft sich Albanien mit China, seinem letzten Verbündeten, und am 17.Dezember 1981 erschüttert der Selbstmord von Ministerpräsident Mehmet Shehu das Land. Der schon paranoide Diktator Enver Hoxha behauptet, sein langjähriger Weggefährte sei ein Spion gewesen. Familienangehörige werden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Einer der Söhne lebt heute in Barcelona. "Über die damaligen Geschehnisse ist alles gesagt", findet Bashkim Shehu. "Ich bin Schriftsteller. Wir können über Literatur sprechen." Leider ist keines seiner Bücher auf Deutsch übersetzt. Mit den Kenntnissen aus einem Anfängersprachkurs und einem Wörterbuch mache ich mich an die Arbeit. Bashkim, erfahre ich, gilt als Stilist der albanischen Sprache. Das macht es nicht leichter. Doch die Mühe lohnt. "Mozart me vonesë" schildert ein Albanien, das es so nicht mehr gibt. In "Angelus Novus" lese ich von Häftlingen, die sich Englisch beibringen, um Kant nach einer englischen Ausgabe zu übersetzen…
    Blick vom Hotel Tirana auf den Skanderbeg-Patz.
    Blick vom Hotel Tirana auf den Skanderbeg-Patz. (Fritz Schütte)
    Ähnliches kenne ich doch irgendwoher… Als ich Vangjel auf einer späteren Reise besuche, ist er allein zu Hause. Seine Frau besucht den Sohn in Italien, auf der anderen Seite der Adria. An der Wand hängen eingerahmte Bilder, die ihm sein wieder aufgespürter Freund aus dem Pionierlager geschickt hat. Vangjel schaut Satellitenfernsehen und nimmt deutsche Volksmusiksendungen auf VHS-Kassetten auf. Sein Liebling ist Hansi Hinterseer.
    Zwei Jahre darauf ist sein Handy abgemeldet. Ich kann Vangjel nicht erreichen. Ich frage in Durrës nach seiner Wohnung und stehe vor einer zusätzlich mit einem Eisengitter gesicherten Tür, auf der sein Name steht. Als niemand öffnet, schiebe ich einen Zettel mit einem Gruß unter der Tür hindurch.