Bis heute bezeichnen die Franzosen die Epoche zwischen Rokoko und Revolution als das Zeitalter Voltaires. Die außergewöhnliche literarische Begabung Voltaires, 1694 als jüngster Sohn eines königlichen Hofrats im Herzen von Paris geboren, macht sich früh bemerkbar.
Doch erst als er 1726 nach einem Konflikt mit einem Mitglied des Hochadels ins Londoner Exil gehen musste und mit dem naturwissenschaftlich-kritischen Denken des englischen Empirismus in Berührung kam, entwickelte sich das "enfant terrible" des literarischen Rokoko zum begeisterten Vertreter der Aufklärung.
Seine "Philosophischen Briefe" von 1734 waren eine schonungslose Abrechnung mit den französischen Verhältnissen. Sein Streben nach Anerkennung trieb ihn dennoch an den Hof von Versailles, an dem er mittels hemmungsloser Selbstverleugnung eine glänzende Stellung erlangte – bis er schließlich in Ungnade fiel.
Die Lange Nacht über den Höfling und Revolutionär versucht eine Annäherung an das wechselvolle Leben des Francois Marie Arouet, genannt Voltaire. (Wdh. v. 28./29.5.2016)
Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendefassung hier: Manuskript als PDF/Manuskript als TXT.
Die jungen Jahre Voltaires
"Die ganze "Henriade" atmet nichts als Menschlichkeit. Unablässig hebt Voltaire diese Tugend hervor, die für den Fürsten so nötig ist. Da Fanatismus und Aberglaube stets die Triebfedern der abscheulichen Politik der Großen und Geistlichen waren, so muss ihnen unbedingt ein Damm entgegengesetzt werden. Mit der ganzen Glut seiner Einbildungskraft hat der Dichter die Torheiten unserer Vorfahren der Gegenwart vor Augen gestellt, um uns für immer davor zu bewahren." (Vorwort von König Friedrich II.)
Der Autor der "Henriade" ist Voltaire, bereits in jungen Jahren kein seichter Schönschreiber mehr, sondern ein ernsthafter, geistvoller Kulturphilosoph. Dank guter finanzieller Absicherung – er gilt mit 30 als der reichste Literat von Paris – kann er sich in seinen Schriften ideellen Motiven zuwenden. In der drastischen Schilderung der grausamen Religionskriege in diesem Buch und dem flammenden Bekenntnis zum "guten König" verbirgt sich zugleich eine harsche Kritik an der religiösen Intoleranz seiner Zeit. Voltaire propagiert erstmals die Idee einer "natürlichen Religion", eines humanen Glaubens jenseits aller Konfessionen.
Seine Lebenspläne geraten durcheinander, als Philippe II. Ende 1723 überraschend stirbt. Voltaire hatte ihm die "Henriade" widmen wollen. Weil er nicht auf eine behördliche Genehmigung warten möchte, lässt er das Epos in Rouen drucken und in Möbelwagen nach Paris schmuggeln. Es bekommt dadurch den Reiz des Verbotenen; zumal, als sich der päpstliche Nuntius offiziell über das Werk beschwert. Für Voltaire ist es der Beginn seines ewigen Kampfes mit der Zensur. Zahllose seiner Schriften werden später anonym oder mit fingierten Angaben erscheinen.
Anlässlich der Hochzeit von König Ludwigs XV. und Maria Leszczyńska 1725 werden gleich drei Stücke Voltaires in Versailles aufgeführt. Es ist eine paradoxe Situation: Der Verfasser der "Henriade", die noch immer heimlich vertrieben wird, ist auf dem besten Weg, zum Hofdichter des Königs zu werden.
Doch dann tritt ein Ereignis ein, das seine Karriere bei Hof abrupt beendete. Voltaire lebt in einer Zeit, die geprägt ist durch den Konflikt zwischen dem aufstrebenden Bürgertum und dem Adel, der auf alte Privilegien pocht, aber seine gesellschaftliche Funktion verloren hat. Auf die praktische Überlegenheit des Bürgertums reagieren viele Aristokraten damit, dass sie die Ungleichheit der Herkunft noch stärker betonen. Voltaire hätte mit seinem Pseudonym "Monsieur de Voltaire" nie Ärger erregt, hätte er es bei einer Buchstabenspielerei belassen. Aber dass er sich ungeniert das Adelsprädikat "de" zulegt, "Monsieur de Voltaire", das wird von manchen als unverzeihliche Anmaßung empfunden.
Dafür wird er angefeindet, ein Aristokrat lässt ihn von seinen Dienern verprügeln. In den nächsten Wochen macht Voltaire eine Erfahrung, die ihn zutiefst verletzt: Keiner seiner adligen Freunde unterstützt ihn. Der Täter gilt als ein Windbeutel – aber er ist ein Standesgenosse. Und gegen einen Bourgeois halten die Aristokraten zusammen, ausnahmslos. Voltaire fordert ein Duell, aber er ist nicht "satisfaktionsfähig" für ein Mitglied des Hochadels. Aufs äußerte gekränkt, lästert er in den Pariser Salons so lange über die Feigheit des Aristokraten, bis er im April 1726 in die Bastille eingeliefert wird. Der designierte Hofdichter im Staatsgefängnis – es spricht sich herum wie ein Lauffeuer in Paris. Ludwig XV. ist unwohl dabei. Deshalb gibt er seinem Minister Anweisung, beim Gouverneur der Bastille für angemessene Bedingungen zu sorgen.
Voltaire im englischen Exil
Trailer zu "Candide, oder der Optimismus" Aufführung in Theaterperipherie Frankfurt am Main:
Voltaire geht nach kurzer Zeit Aufenthalt in der Bastille ins Exil nach England. Das England dieser Jahre ist den europäischen Mächten in vielem voraus. Nach der Glorious Revolution hatte Wilhelm III. von Oranien 1689 die konstitutionelle Monarchie eingeführt. Die politische Liberalisierung war einhergegangen mit einer allgemeinen Befreiung des Denkens von der Vormundschaft der Kirche.
Ihn beeindruckt, dass englische Bauern als freie Männer auf ihrem eigenen Grund und Boden leben, während sie in Frankreich noch immer ein gedrücktes und menschenunwürdiges Dasein führen. Nicht weniger fasziniert ihn, dass Menschen aller Stände in Cafés und Straßen über politische und religiöse Themen diskutieren.
Zur prägenden intellektuellen Erfahrung wird ihm die geistige Begegnung mit Sir Isaac Newton und John Locke. In Frankreich, seiner Heimat, wird die Philosophie seit Jahrzehnten vom Cartesianismus dominiert. Sein Begründer, René Descartes, hat die Geschichte der Philosophie entscheidend geprägt. In seiner an der Geometrie geschulten Methodik ist er seiner Zeit um Längen voraus, ein Vordenker der Moderne. Gleichzeitig aber hält Descartes an der mittelalterlichen Verbindung von Theologie und Wissenschaft fest.
Für Voltaire ist die Begegnung mit diesem neuen Denken eine Offenbarung. Newton erklärt das Weltall mit Bezug auf natürliche Prozesse, mit der Mechanik und der Physik. An die Stelle des spekulativen Denkens des Mittelalters setzt er die objektive Forschung. Voltaire veröffentlicht hier nun die "Philosophischen Briefe", eine schonungslose Abrechnung mit den französischen Verhältnissen.
Rückkehr aus dem Exil
So bedeutend die englischen Einflüsse für Voltaires Denken sind, so wenig versteht er sich auf Dauer mit den Menschen. Zwischen Ende 1728 und Anfang 1729 verlässt er England und lässt sich in einem kleinen Ort bei Paris nieder. Erst einige Monate später darf er wieder in die Hauptstadt zurück.
Die fünf Jahre nach dem Exil werden zu einer der fruchtbarsten Perioden seines Lebens. Er arbeitet an historischen Werken, es entstehen Dramen, Gedichte, Aufsätze, Satiren. Stark durch die Englanderfahrung geprägt ist seine Tragödie "Brutus" von 1731. Noch im selben Jahr erscheint "Die Geschichte Karls XII.". Um die Zensur zu umgehen, lässt Voltaire das Buch erneut in Rouen drucken und nach Paris schmuggeln. Das glänzend geschriebene Geschichtswerk über den Schwedenkönig macht Furore. Es erscheint allein zu Voltaires Lebzeiten in rund 60 Auflagen. Wie weit sein Autor dem Geist des Rokoko entwachsen ist, belegt sein Brief an einen Leser, den Marschall Graf von der Schulenburg:
"Wäre Peter der Große weniger grausam und Karl XII. weniger starrsinnig gewesen, so hätte dies mehr zum Glück der Menschen beigetragen. Ich ziehe diesen beiden unbedingt einen Fürsten vor, der die Menschlichkeit als erste Tugend ansieht, der den Frieden liebt, weil er die Menschen liebt, mit einem Wort: einen Philosophen auf dem Thron. Haben Sie, Herr Marschall, nicht schon oft darüber nachgedacht, dass Ihr glorreicher Beruf, mag er auch notwendig sein, ein abscheulicher ist?"
1732 vollendet Voltaire sein dramatisches Meisterwerk "Zaire". Die Tragödie, in der es um die fatalen Folgen religiöser Vorurteile geht, spielt im Jerusalem der Kreuzfahrerzeit. Der Sultan tötet aus Eifersucht die christliche Sklavin Zaire, seine große Liebe, und folgt ihr dann in den Tod. Voltaire lässt die Heldin zu der Einsicht kommen, dass die Zugehörigkeit zu einer Religion nicht von einer höheren Fügung, sondern vom Zufall der Geburt abhängig ist. Zaire wird bewusst, dass sie an den Ufern des Ganges Hinduistin und in Bagdad Muslimin geworden wäre. Das Drama wird zum größten Theatererfolg der Epoche. Manchen gilt es als die beste französische Tragödie des 18. Jahrhunderts überhaupt.
Die "Philosophischen Briefe"
Die Kehrseite seiner literarischen Produktivität sind schwere gesundheitliche Krisen. Seine Taschen sind stets mit Pillen und Fläschchen gefüllt. Voltaires geliebte Schwester Catherine war während seines Exils mit nur 40 Jahren gestorben, nun fürchtet er, ihr bald ins Grab zu folgen. Zuvor möchte er unbedingt seine zuvor schon im englischen Exil veröffentlichten "Philosophischen Briefe" auch in Frankreich publizieren. Mit dieser Schrift wird er den "englischen Bazillus" nach Frankreich einschleppen, das alle Dogmen hinterfragende, naturwissenschaftlich-kritische Denken.
Die "Philosophischen Briefe" streifen nicht nur alle späteren Lebensthemen, sie zeigen auch alle charakteristischen Merkmale seiner Philosophie. Voltaire ist kein systematischer Denker. Er legt kein geschlossenes Lehrwerk vor, wie ein Aristoteles oder Descartes. Sein Denken entfaltet sich in der Auseinandersetzung, im polemischen Streit, in Artikeln und Essays, in der Korrespondenz. Kaum eine seiner Thesen ist originell – er bedient sich ohne Scheu bei anderen. Seine unnachahmliche Begabung besteht darin, theoretische Einsichten mit leichter Hand in die Alltagssprache zu übersetzen, sie virtuos zu vereinfachen oder ironisch zu wenden.
Für die Kirche und die Krone sind die "Philosophischen Briefe" eine unerträgliche Provokation. Der Drucker wird in die Bastille geworfen, das Werk auf Befehl des Königs vom Henker verbrannt. Gegen den anonymen Verfasser, der sich M. de V. nennt, ergeht ein Haftbefehl. Es ist ein offenes Geheimnis, wer sich hinter dem Kürzel verbirgt. Tage vor der geplanten Inhaftierung erhält Voltaire eine Warnung und kann rechtzeitig fliehen.
Korrespondenz mit Friedrich II
Im Sommer 1736 arbeitet Voltaires langjährige Freundin und intellektuelle Partnerin Émilie an einem Traktat "Über das Feuer", Voltaire an den "Elementen der Philosophie Newtons", als ihn ein Brief aus Potsdam erreicht:
"Monsieur, wenngleich ich nicht die Genugtuung habe, Sie persönlich zu kennen, so sind mir Ihre Werke sehr wohl bekannt. Es sind, wenn ich mich so ausdrücken kann, Schätze des Esprits. Ich vermeinte darin den Charakter ihres ingeniösen Schöpfers widerzuerkennen, der unserem Jahrhundert zur Ehre gereicht. In solchen Augenblicken fühle ich, dass die Vorzüge von Geburt zu wenig nütze sind, oder besser ausgedrückt: zu nichts. Wie sehr sind ihnen die Gaben des Geistes vorzuziehen. Ihr zutiefst ergebener Freund, Frederic, Kronprinz von Preußen."
Mit diesem Brief beginnt die fast 42 Jahre andauernde Korrespondenz zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen, den beiden "Königen des Jahrhunderts", wie Voltaire-Biograf Jean Orieux formulierte. Ihre Schreiben berühren weite Bereiche der Theologie, Philosophie, Literatur, Geschichte und Politik. Sie diskutierten auch eigene Werke wie den "Anti-Machiavelli", den Friedrich 1739 zu verfassen beginnt. Es ist sein Grundsatzprogramm des tugendhaften Herrschers, der sich als der erste Diener seines Staates versteht. Voltaire besucht Friedrich auch mehrfach in Preußen, einmal sogar als Spion für den französischen König (was Friedrich II. allerdings weiß). Voltaire missachtet dabei mehrfach höfische Regeln, sodass es zum Bruch kommt – so veröffentlicht er gegen den Willen Friedrich II. eine Spottschrift gegen seinen Widersacher am preußischen Hof, Pierre Louis Moreau de Maupertuis, der mit seiner roten Perücke eine exzentrische Erscheinung ist.
Der Anlass: Maupertuis setzt Ende 1752 ein böses Gerücht in Umlauf. Als Voltaire wieder einmal Gedichte des Königs zum Korrigieren erhielt, soll er gestöhnt haben: "Wird er denn nie müde, mir seine schmutzige Wäsche zu schicken!" Friedrich übergeht diese – nicht ganz unwahrscheinliche – Unverschämtheit. Voltaire dagegen ist nicht bereit, Maupertuis Indiskretion zu übergehen.
Maupertuis hat ihm durch seine bizarren Ideen einige willkommene Anlässe zur Polemik geliefert. So hatte er beispielsweise gefordert, die ägyptischen Pyramiden zu sprengen, ein Loch zum Erdmittelpunkt zu bohren und den Körper von Todkranken mit Harz einzustreichen, um ein Ausdünsten ihrer Seele zu verhindern. Voltaire verfasst eine beißende Satire, das "Pamphlet des Doktor Akakia". Ein Mitglied des Hofstabs berichtet:
"Voltaire las seinen "Akakia" dem Könige vor; dieser lachte sehr herzlich darüber; da ihm indes daran gelegen sein musste, dass der von ihm selbst gewählte Präsident seiner Akademie [Anm.: Preußische Akademie der Wissenschaften]nicht vor ganz Europa lächerlich würde, bat er Voltaire, seine Satire zurückzuhalten."
Voltaire gelobt Gehorsam. Und lässt die Schmähschrift anschließend heimlich drucken, und zwar nachdem er vom König die Druckerlaubnis für ein ganz anderes Werk eingeholt hat. Es ist eine Dreistigkeit sondergleichen.
"Ihre Unverfrorenheit setzt mich in Erstaunen", schreibt Friedrich an Voltaire, der eiligst um Nachsicht bittet und sein Schicksal demütig in die Hände des Monarchen legt. Mit diesem Kniefall wird der Streit formal beigelegt. Aber der Bruch zwischen dem König und dem Philosophen ist jetzt nicht mehr zu übersehen.
Der Briefwechsel zwischen Friedrich und Voltaire, der nach dem endgültigen Eklat und der Abreise Voltaires 1753 für eine Weile fast vollständig einschläft, setzt erst mit Beginn des Siebenjährigen Krieges 1756 wieder ein – allerdings mit verändertem Tonfall. Von nun an korrespondieren zwei Männer auf Augenhöhe.
Voltaire vs. Rousseau
Der 60-jährige Voltaire erwirbt mehrere Landgüter und Herrschaften am Genfer See, nachdem ihn viele Orte nicht als Gast beheimaten wollten – und begreift sie als eine Art Versicherung:
"Ein Philosoph muss gegen die Hunde, die ihn verfolgen, mehrere Schlupflöcher haben. Ich habe vier Pfoten, nicht nur zwei. Mit der einen stehe ich in Lausanne, mit der zweiten in Genf, wo mir die gute Gesellschaft Besuche macht. Dies sind meine beiden Vorderpfoten. Mit den Hinterpfoten aber stehe ich in Ferney und in der Grafschaft Tournay."
Im ersten Sommer in der neuen Heimat erhält Voltaire Post von einem Autor, der fünf Jahre zuvor mit einer aufsehenerregenden "Abhandlung über die Wissenschaften und Künste" blitzartig zu einer Berühmtheit geworden ist: Jean-Jacques Rousseau. Er schickt ihm seine Schrift über den "Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen". In dem bahnbrechenden Werk finden sich kühne Sätze wie diese:
"Der Erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: Dieses ist mein, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viel Laster, wie viel Krieg, wie viel Mord, Elend und Gräuel hätte einer nicht verhüten können, der die Pfähle ausgerissen, den Graben verschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: 'Glaubt diesem Betrüger nicht; Ihr seid verloren, wenn Ihr vergesst, dass die Früchte Euch allen, der Boden aber niemandem gehört.'"
Rousseau beschwört einen imaginären Urzustand des Menschen – ein Leben im Einklang mit der Natur. Sein Ideal orientiert sich an der präindustriellen Agrargesellschaft. Als Voltaire die – in seinen Augen sehr befremdliche – Preisschrift liest, ahnt er nicht, dass die Nachwelt diesen Sozialromantiker einst als seinen großen philosophischen Antipoden wahrnehmen wird. Er hat Mühe, ihn ernst zu nehmen. Als Denker sind beide so grundverschieden, wie zwei Menschen nur sein können. Ende August antwortet er dem Jüngeren:
"Ich habe Ihr neues Buch gegen das Menschengeschlecht erhalten, ich danke Ihnen dafür; Sie werden bei den Menschen, denen Sie die Wahrheit sagen, Gefallen finden, und Sie werden sie nicht bessern. Niemals ist so viel Geist aufgewandt worden, um uns zu Tieren zu machen. Man bekommt richtig Lust, auf allen Vieren zu gehen, wenn man Ihr Werk liest. Ich gestehe mit Ihnen, dass die Literatur und die Wissenschaft bisweilen Böses angerichtet hat. Aber, mein Herr, Sie müssen auch zugeben, dass weder Cicero noch Lukrez, noch Vergil, noch Horaz die Urheber von Verfolgungen waren. Die Literatur gibt der Seele Nahrung, sie bessert und tröstet sie, und sie gereicht auch Ihnen zum Ruhme, sogar in dem Augenblick, da Sie gegen sie schreiben. Herr Chapui teilt mir mit, dass Ihre Gesundheit sehr schlecht ist. Sie sollten hierherkommen und sie in der Heimatluft wiederherstellen, die Milch unserer Kühe trinken und unsere Wiesen abweiden."
Die Gegensätze zwischen beiden sind unüberwindlich, weil sie Grundsätzliches betreffen: Voltaire, ein humanistischer Aufklärer, empfindet den Kulturpessimismus Rousseaus und die Verherrlichung eines barbarischen Urzustandes ohne Kunst, Literatur und Wissenschaften als geradezu töricht. Das Theater ist für ihn ein Werkzeug der Aufklärung. Überdies genießt er als kultivierter Mensch die Opulenz von Schauspiel und Oper – im krassen Unterschied zu dem Asketen und Theaterfeind Rousseau. Voltaire ist zeitlebens überzeugt, dass Rousseau ein im Grund bemitleidenswerter, aber eben auch gefährlicher Narr ist.
Theodizee-Debatte nach dem Erdbeben 1755
Im November des Jahres 1755 erschüttert eine Katastrophe Europa. Das Erdbeben von Lissabon reißt in einer einzigen Nacht mindestens 30 000 Menschen in den Tod. Große Teile der portugiesischen Hauptstadt werden restlos zerstört. Das Erdbeben ist der Schock des 18. Jahrhunderts – und Auslöser langer philosophischer Dispute. In ihrem Mittelpunkt steht das Theodizee-Problem, also die Frage, wie ein gütiger Gott es zulassen kann, dass Tausende Unschuldige sterben.
Für die Kirche ist das Erdbeben eine himmlische Strafe für die Verderbtheit der Stadt. Voltaire empfindet diese Deutung als empörend und geradezu grotesk, ebenso wie den realitätsblinden Optimismus, der sich auf Gottfried Wilhelm Leibniz beruft. Der deutsche Philosoph hatte die Ansicht vertreten, dass die von Gott geschaffene Welt die "beste aller möglichen Welten" sei.
Voltaires Beitrag zur Theodizee-Debatte ist das Gedicht "Erdbeben von Lissabon oder Prüfung des Axioms: Alles ist gut" – eine erschütternde Klage über die Gleichgültigkeit der blinden Naturgewalten:
"Getäuschte Philosophen, die ihr alles gut nennt,
kommt her und seht die grauenhaften Trümmer,
Ruinen, Fetzen, seht dies Häuflein Asche.
Verschüttet, liegen Frauen, Kinder durcheinander,
und der gestürzte Marmor deckt die abgerissenen Glieder.
Die Erde hat hunderttausend Elende verschlungen,
die, atmend noch, zerfleischt und blutig,
von ihrem Dach begraben, hilflos enden.
Wollt ihr, wenn sie mit halber Stimme sterbend seufzen
noch immer sagen: 'Dies ist die Folge ewiger Gesetze,
die eines freien, guten Gottes Wahl bedingen?'
Wir sind gepeinigte Atome bloß auf einem Haufen Schlamm,
Spielball des Schicksals und des Todes Beute;
Atome aber, die begreifen, deren Augen
die Himmel unter Einführung des Gedankens ausgemessen haben."
kommt her und seht die grauenhaften Trümmer,
Ruinen, Fetzen, seht dies Häuflein Asche.
Verschüttet, liegen Frauen, Kinder durcheinander,
und der gestürzte Marmor deckt die abgerissenen Glieder.
Die Erde hat hunderttausend Elende verschlungen,
die, atmend noch, zerfleischt und blutig,
von ihrem Dach begraben, hilflos enden.
Wollt ihr, wenn sie mit halber Stimme sterbend seufzen
noch immer sagen: 'Dies ist die Folge ewiger Gesetze,
die eines freien, guten Gottes Wahl bedingen?'
Wir sind gepeinigte Atome bloß auf einem Haufen Schlamm,
Spielball des Schicksals und des Todes Beute;
Atome aber, die begreifen, deren Augen
die Himmel unter Einführung des Gedankens ausgemessen haben."
Der kleine Roman "Candide"
Mit Mitte 60 wendet sich Voltaire einer neuen literarischen Form zu, dem "kleinen Roman". Es ist ein seltsames Paradox, dass sein dichterischer Ehrgeiz fast ausschließlich seinen Dramen und Epen gilt, während seine weltliterarische Bedeutung auf der meisterhaften Prosa beruht, die er fast beiläufig niederschreibt.
Das funkelndste seiner Prosastücke ist der Roman "Candide", zu Deutsch "Der Arglose", eine beißende Satire auf Leibniz' Theodizee mit ihrer Lehre von "der besten aller möglichen Welten". In Mittelpunkt der Geschichte stehen der naive Held Candide und sein Hauslehrer Pangloss. Letzterer, ein glühender Leibnizianer, trichtert seinem Schüler unermüdlich ein, dass in dieser Welt alles aufs Trefflichste eingerichtet sei. Voltaire hat viele Prosastücke geschrieben, aber keines erreicht die satirische Wucht und gedankliche Schärfe dieser Geschichte. Als das Buch anonym erscheint, verbieten es die Behörden in Paris und Genf augenblicklich, doch der Erfolg ist nicht aufzuhalten. Allein zu Lebzeiten Voltaires erscheinen über 40 Auflagen; in Frankreich zählt es zu den meistgelesenen Werken des Jahrhunderts.
Auseinandersetzung mit der Religion
1762 gibt Voltaire "Das Testament des Abbe Meslier" heraus, eine Grundschrift der Religionskritik und eines der skandalösesten Werke der beginnenden Moderne. Durch die Erfahrung des unbeschreiblichen Elends der einfachen Leute hatte der katholische Pfarrer Jean Meslier wenige Jahrzehnte zuvor seinen Glauben verloren. In den sozialrevolutionären Texten, die er heimlich verfasste, erklärte er die Habgier zur Wurzel alles Bösen und schilderte die Aristokraten als eine despotische Parasitenschicht. Als die "größten Volksbetrüger" galten ihm die Priester:
"Wisst also, meine lieben Freunde, was in der Welt als Gottesdienst und Andacht praktiziert wird, ist nichts als Irrtum, Täuschung, Einbildung und Betrug; alle Gesetze, alle Vorschriften, die im Namen Gottes erlassen werden, sind in Wahrheit nichts als menschliche Erfindungen."
Hätte der Abbé seine Schriften zu Lebzeiten publiziert, man hätte ihn aufs Rad geflochten und gevierteilt. Voltaire gibt sein Testament heraus, allerdings in einer überarbeiteten Fassung, die das Original in zwei zentralen Punkten verfälscht: Seiner Redaktion zum Opfer fallen sowohl die revolutionären als auch die streng atheistischen Passagen.
Denn Voltaire ist kein Atheist. Er glaubt an ein höchstes Wesen, zeitlebens – allerdings als Deist. Wie viele Aufklärer glaubt er, dass Gott die Erde erschaffen hat, aber seit der Schöpfung nicht mehr ins Weltgeschehen eingreift. Unter seiner Redaktion wird das Testament des ketzerischen Abbé zu einer deistischen Schrift, die im Namen jener Naturreligion, die Gott "in das Herz aller Menschen eingepflanzt hat", den Klerus und die Kirche kritisiert.
Voltaire ist 72 Jahre alt, als das "Philosophische Wörterbuch" erscheint. Sein Themenspektrum umfasst die Bereiche Kirche, Glaube, Philosophie, Ästhetik und Gesellschaft. Die Diktion ist kurz, klar, oft ironisch. Es ist das theoretisch bedeutendste seiner Werke. Die Verteidigung des Empirismus gegen die alte Metaphysik, die Kritik an den französischen Zuständen und der Kirche, der Kampf gegen Intoleranz und Glaubenseifer – all das ist nicht neu in seinem Werk, wird hier aber mit einer Schärfe vorgetragen, wie selten zuvor. Über religiösen Fanatismus heißt es zum Beispiel:
"Was für ein Netz von Betrügereien, Verleumdungen, Schurkereien haben die Fanatiker der römischen Kurie gegen die Fanatiker Calvins, die Jesuiten gegen die Jansenisten gesponnen. Sie tragen alle die gleiche Binde vor den Augen, ob es nun darum geht, die Städte und Dörfer ihrer Gegner in Brand zu stecken und die Einwohner zu erwürgen, oder ganz einfach darum, zu betrügen, sich zu bereichern und zum Herrn aufzuwerfen. Der Fanatismus macht sie blind, sie glauben, recht zu tun. Alle Fanatiker sind Schurken aus gutem Gewissen und morden in gutem Glauben an eine gute Sache."
Das "Philosophische Wörterbuch", das anonym erscheint, wird in Genf und Frankreich auf der Stelle vom Henker verbrannt. Das Buch wird zu einem sensationellen Erfolg. Allein in den ersten zwei Jahren kommen fast 20 Auflagen heraus. Es ist ein offenes Geheimnis, wer der Verfasser ist. Weil er damit rechnen muss, dass seine Briefe an d'Alembert von den Behörden heimlich gelesen werden, macht Voltaire sich ein spöttisches Vergnügen daraus, Unschuld zu heucheln:
"In der Tat habe ich das verteufelte Wörterbuch gelesen. Es hat mich ebenso wie Sie erschreckt. Aber mein größter Kummer ist der, dass es Christen gibt, die mich in Verdacht haben, der Autor eines so unchristlichen Werkes zu sein."
Einsatz für die Entrechteten
Während Voltaire am "Philosophischen Wörterbuch" schreibt, tritt eine weitere Facette seines vielseitigen Wesens zutage: Die des Intellektuellen, der sich als Anwalt der Entrechteten engagiert, der sich einmischt.
Den Anlass gibt der größte Justizskandal seiner Zeit, der Fall Jean Calas. Der hugenottische Kaufmann war 1762 in Toulouse wegen der Ermordung seines Sohnes erst grausam gefoltert und dann hingerichtet worden. Der alte Mann habe, so die Anklage, den Sohn erwürgt, um dessen Übertritt zum Katholizismus zu verhindern. In Wirklichkeit hatte sich der Sohn das Leben genommen. Weil aber die Leichen von Selbstmördern nach der Sitte der Zeit von einem Pferd durch die Straße geschleift und geschändet wurden, hatte der Vater den Suizid verschleiern wollen.
Seine Unschuld am Tod des Sohnes ist nach Lage der Indizien evident. Doch er ist Hugenotte und lebt in Toulouse, wo die Katholiken den Jahrestag der mörderischen Bartholomäusnacht noch immer mit Freudenfesten feiern.
Als Voltaire von dem Justizmord hört, beschließt er, die Wahrheit aufzudecken. Aber das erweist sich als mühevoll. Das Gericht verweigert die Herausgabe der Akten. Voltaire beschafft sie sich. Er legte sich mit den Behörden an, sucht Unterstützer bei Hof, stellt Gerichtsanträge und mobilisiert die Öffentlichkeit. Er schreibt einen langen "Traktat über die Toleranz aus Anlass des Todes von Jean Calas", in dem er eine "Religion der Toleranz" beschwört, die Gott nicht zum Tyrannen und den Nächsten nicht zum Opfer macht.
"Es bedarf keiner großen Kunst, keiner gesuchten Beredsamkeit, um zu beweisen, dass die Christen einander zu dulden schuldig sind. Ich gehe weiter; ich sage, man muss alle Menschen wie seine Brüder ansehen. – Wie, der Türke mein Bruder? Der Chinese, der Jude, der Siameser mein Bruder? – Ja, zuverlässig. Denn sind wir nicht alle Kinder eines Vaters? Hat uns nicht ein Gott erschaffen?"
Durch Petitionen, Briefe und unermüdliches Engagement erreicht er eine Überprüfung des Urteils. Bei der Wiederaufnahme des Verfahrens kommen auch Entlastungszeugen zu Wort. Der Schuldspruch der Toulouser Richter wird durch den königlichen Gerichtshof in Paris für nichtig erklärt. Jean Calas wird rehabilitiert, seine Hinterbliebenen erhalten eine Entschädigung von 36.000 Livres.
Noch während der Aufklärung dieser Geschehnisse ereignet sich ein ähnlicher Fall. Die Sirvens, auch sie Hugenotten aus der Gegend von Toulouse, sollen ein Kind ebenfalls ermordet haben, weil es zum katholischen Glauben wechseln wollte. Tatsächlich hatte sich das sensible Mädchen in einem Anfall geistiger Verwirrung ertränkt.
Gewarnt durch das Martyrium des Jean Calas, entschließen sich die Sirvens, mit ihren beiden Töchtern zu Fuß zu Voltaire nach Ferney zu fliehen. In Abwesenheit wird der Vater zum Tode verurteilt. Voltaire unterstützt die Familie finanziell und besorgt ihr einen Anwalt. Wieder setzt er alle Hebel in Bewegung – mit Erfolg. Sieben Jahre später verkündet das Gericht den völligen Freispruch.
Fast noch mehr erschüttert ihn 1766 der Justizmord an dem Chevalier LaBarre. Der junge Mann hatte mit zwei Freunden an einem Kruzifix eine Fußzehe abgebrochen, einige unzüchtige Lieder gesungen und bei einer Prozession den Hut nicht abgenommen. Einer der drei wurde wegen Unzurechnungsfähigkeit verschont, dem zweiten gelang die Flucht, doch an LaBarre wurde ein bestialisches Exempel statuiert. Er musste mit dem Strick um den Hals öffentlich Buße tun, dann wurde er vor einer johlenden Menschenmenge geköpft.
Als Voltaire von dem Ereignis hört, ist er zutiefst erschüttert. Man hat bei LaBarre verbotene Schriften entdeckt, darunter sein "Philosophisches Wörterbuch". Voltaire verschafft dem flüchtigen Freund des jungen Mannes eine Offiziersstelle in Preußen und geht erneut in die Öffentlichkeit. Noch Jahre später wird er sich – in Absprache mit König Friedrich – um eine Aufhebung des Urteils bemühen. Diesmal ohne Erfolg.
Rückkehr nach Paris
Ende März 1778 soll Voltaires neue Tragödie "Irene" an der Comedie Francaise zur Aufführung kommen. Bevor er am 5. Februar 1778 in die Kutsche steigt, versichert er den Bewohnern von Ferney, er sei in sechs Wochen zurück.
In Paris kommt es zu einem bewegenden Wiedersehen mit alten Freunden. Die Akademie schickt ein feierliches Begrüßungskomitee, ebenso die Comedie Francaise. Dann setzte der Ansturm der Bewunderer ein. Die Marquise du Deffand schreibt an einen Freund:
"Voltaire empfing gestern dreihundert Personen. Ich werde mich sehr hüten, mich in diesen Schwarm zu drängen. Der ganze Parnass war dort, vom Sumpf bis zum Gipfel. Er wird die Anstrengung nicht aushalten können; es ist möglich, dass er stirbt, bevor ich ihn zu sehen bekomme."
Am 30. März erlebt er den Höhepunkt seiner triumphalen Rückkehr. Von der Akademie wird er wie ein Fürst geehrt und zum Ehrendirektor ernannt. Auf dem Weg zur Comedie Francaise bilden die Pariser ein Spalier und begleiten ihn mit Hochrufen.
Anfang Mai präsentiert Voltaire sich ein letztes Mal voller Tatendrang. Doch Tage später erleidet er einen schweren Zusammenbruch. In den folgenden drei Wochen wird sein Zustand immer schlechter. Als am 30. Mai 1778 ein Priester in sein Sterbezimmer tritt, schickt ihn Voltaire mit der Bemerkung vor die Tür: "Lassen Sie mich in Frieden sterben!". Gegen elf Uhr abends schließt er die Augen, für immer.
Produktion dieser Lange Nacht:
Autor: Kai Lückemeier, Regie: Stefan Hilsbecher, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Sprecher: Doris Wolters, Matthias Haase, Volker Risch, Reinhold Weiser, Susanne Schieffer
Autor: Kai Lückemeier, Regie: Stefan Hilsbecher, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Sprecher: Doris Wolters, Matthias Haase, Volker Risch, Reinhold Weiser, Susanne Schieffer
Über den Autor:
Kai Lückemeier nach seinem Studium der Sozialpädagogik und später Philosophie, Soziologie und Religionswissenschaften in Berlin zum Thema "Geschichte der öffentlichen Meinung im 19. Jahrhundert" promoviert. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Verfasser von Hörfunkfeatures, Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen.
Kai Lückemeier nach seinem Studium der Sozialpädagogik und später Philosophie, Soziologie und Religionswissenschaften in Berlin zum Thema "Geschichte der öffentlichen Meinung im 19. Jahrhundert" promoviert. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Verfasser von Hörfunkfeatures, Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen.