Mit Tattersälen, Menagerien, festen Zirkuspalästen und reisenden Zeltzirkussen begann die moderne Massenunterhaltung, und viele dieser großen Unternehmen wurden von Prinzipalinnen oder Direktorinnen geführt. Bis in die Gegenwart hinein verfolgt diese Lange Nacht, wie Frauen im Zirkus hart arbeiten, viel riskieren und manchmal die Freiheit für ungewöhnliche Lebensentwürfe finden.
Frauen aus der Generation der Kriegskinder erzählen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg im Zirkus einen Neuanfang wagten, und junge Artistinnen berichten von ihrer Suche nach einem neuen Zirkus, der tanzend von großen Gefühlen erzählt und dabei immer noch nach Sägemehl riecht.
Mit der unvorstellbaren Geschwindigkeit von 60 Stundenkilometern raste die junge Mauricia de Thiers 1904 im Auto durch eine Schleifenbahn. Ihr Ich, so glaubte sie, sei "aus zwei gegensätzlichen Individuen gemacht": "Das eine ist bescheiden. Das andere hat im Gegensatz dazu Gefallen an sämtlichen Kühnheiten und kennt jeden Ehrgeiz. Es ist heldenhaft und verwegen."
Um die Jahrhundertwende wurde der Zirkus zum Ort der Massenunterhaltung. Artistinnen machten Karriere, errangen und verloren Vermögen. Der Zirkuspalast Busch an der Spree bot 4000 Besuchern Platz, und beinahe hätte die Frau Direktorin Constanze einen Cinématographen der Gebrüder Lumière erworben. Leider reichte die Bildgröße nicht aus, doch erstaunlich war es schon, Menschen, Hunde, Droschken, alles bewegte sich, so berichtete sie ihrer Tochter Paula.
Auch die Lebensentwürfe von Frauen gerieten in Bewegung. Die Suffragetten gingen für das Frauenwahlrecht auf die Straße, und Paula immatrikulierte sich an der Universität. Als der Erste Weltkrieg den Zirkus Busch in wirtschaftliche Nöte brachte, übernahm sie das Riesenunternehmen von ihrem Vater.
Um die Jahrhundertwende wurde der Zirkus zum Ort der Massenunterhaltung. Artistinnen machten Karriere, errangen und verloren Vermögen. Der Zirkuspalast Busch an der Spree bot 4000 Besuchern Platz, und beinahe hätte die Frau Direktorin Constanze einen Cinématographen der Gebrüder Lumière erworben. Leider reichte die Bildgröße nicht aus, doch erstaunlich war es schon, Menschen, Hunde, Droschken, alles bewegte sich, so berichtete sie ihrer Tochter Paula.
Auch die Lebensentwürfe von Frauen gerieten in Bewegung. Die Suffragetten gingen für das Frauenwahlrecht auf die Straße, und Paula immatrikulierte sich an der Universität. Als der Erste Weltkrieg den Zirkus Busch in wirtschaftliche Nöte brachte, übernahm sie das Riesenunternehmen von ihrem Vater.
Beim Stummfilm entstand unterdessen das Berufsbild der "Sensationistin". Eine der frühen Stuntfrauen, die Wienerin Tilly Bébé, kämpfte in der Wüste mit Löwen und rang in einer nachgebauten Polarlandschaft mit Eisbären. Minutiös verzeichnete sie die Verwundungen, die sie davontrug. Über ihre abendlichen Auftritte im Zirkus notierte sie: "Diese unverkennbare Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit, zwischen Leben und Tod ist im Grunde die Stelle, die das Publikum interessiert."
In einem Grenzbereich, in dem sie ein Leben gewinnen oder verlieren konnten, suchten Frauen Freiheit, Reichtum und Ruhm. Woher kam dieser Mut? Und wohin sollte dieser Freiheitsdrang führen?
Die starke Katharina Brumbach, die mit ihrem Ehemann und einigen anderen Herren jonglierte, entstammte einer alten Artistenfamilie, in der Frauen und Männer schon seit Jahrhunderten auf Jahrmärkten Ketten sprengten. Den Suffragetten soll sie einen Teil ihrer Gagen gespendet haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand sie eine würdige Nachfolgerin: Fest in der Tradition der Kraftfrauen verwurzelt stemmte Pippi Langstrumpf ihr Pferd in die Luft.
Manche Zirkusunternehmen, besonders der Dresdner Zirkus Sarrasani, blieben auch während des Nationalsozialismus ein Schutzraum für unbändige und eigenwillige Geister. Aus der weitverzweigten jüdischen Dynastie der Blumenfelds überlebte jedoch nur die umsichtige Direktorin Viktoria mit ihren Töchtern und ihrem Ehemann. In den Nachkriegsjahren wurde in Mannheim, Leipzig und Berlin eine neue Generation junger Frauen von Fernweh und Wagemut gepackt. Viele fanden den ersehnten weiten Horizont, andere vor allem Ausbeutung und Zwang.
Junge Artistinnen von heute erzählen in der universellen Sprache der Akrobatik Geschichten von Liebe und Kampf, Unterdrückung und Solidarität. Die Tradition akrobatischer Inszenierungen zwischen Himmel und Erde lässt sich zurückverfolgen bis zu Madame Saqui, die 1855 noch mit weit über siebzig Jahren Geschichten auf einem Drahtseil über dem Pariser Marsfeld tanzte.
Viele Zirkusfrauen beobachten mit Vorsicht, wie wir, die "Privaten", ihnen begegnen. Holen wir die Fahrräder ins Treppenhaus, wenn sie in die Stadt kommen? Begreifen wir, wie sie schuften für die allabendliche Schwerelosigkeit? Verstehen wir die Freude und Härte ihres Lebens? Wir wollen es versuchen. Drei Stunden lang verfolgen wir die waghalsigen Luftnummern, die Stürze und Triumphe von Frauen in der Manege.
Die Anfänge
Signor Saltarino: "Die Anfänge der Artistik liegen im Dunkeln. Wann läuft zum ersten Mal ein Knabe auf Händen und erntet den Applaus seiner Kameraden? Wann verneigt sich der erste Jongleur vor einem geneigten kleinen Publikum? Wir wissen es nicht."
Signor Saltarino geleitet als Zirkusexperte und Conférencier durch diese Lange Nacht. Unter dem bürgerlichen Namen Hermann Otto lebte er von 1863 bis 1941.
Seine beiden wichtigsten Werke über die Geschichte des Zirkus sind:
In einem Grenzbereich, in dem sie ein Leben gewinnen oder verlieren konnten, suchten Frauen Freiheit, Reichtum und Ruhm. Woher kam dieser Mut? Und wohin sollte dieser Freiheitsdrang führen?
Die starke Katharina Brumbach, die mit ihrem Ehemann und einigen anderen Herren jonglierte, entstammte einer alten Artistenfamilie, in der Frauen und Männer schon seit Jahrhunderten auf Jahrmärkten Ketten sprengten. Den Suffragetten soll sie einen Teil ihrer Gagen gespendet haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand sie eine würdige Nachfolgerin: Fest in der Tradition der Kraftfrauen verwurzelt stemmte Pippi Langstrumpf ihr Pferd in die Luft.
Manche Zirkusunternehmen, besonders der Dresdner Zirkus Sarrasani, blieben auch während des Nationalsozialismus ein Schutzraum für unbändige und eigenwillige Geister. Aus der weitverzweigten jüdischen Dynastie der Blumenfelds überlebte jedoch nur die umsichtige Direktorin Viktoria mit ihren Töchtern und ihrem Ehemann. In den Nachkriegsjahren wurde in Mannheim, Leipzig und Berlin eine neue Generation junger Frauen von Fernweh und Wagemut gepackt. Viele fanden den ersehnten weiten Horizont, andere vor allem Ausbeutung und Zwang.
Junge Artistinnen von heute erzählen in der universellen Sprache der Akrobatik Geschichten von Liebe und Kampf, Unterdrückung und Solidarität. Die Tradition akrobatischer Inszenierungen zwischen Himmel und Erde lässt sich zurückverfolgen bis zu Madame Saqui, die 1855 noch mit weit über siebzig Jahren Geschichten auf einem Drahtseil über dem Pariser Marsfeld tanzte.
Viele Zirkusfrauen beobachten mit Vorsicht, wie wir, die "Privaten", ihnen begegnen. Holen wir die Fahrräder ins Treppenhaus, wenn sie in die Stadt kommen? Begreifen wir, wie sie schuften für die allabendliche Schwerelosigkeit? Verstehen wir die Freude und Härte ihres Lebens? Wir wollen es versuchen. Drei Stunden lang verfolgen wir die waghalsigen Luftnummern, die Stürze und Triumphe von Frauen in der Manege.
Die Anfänge
Signor Saltarino: "Die Anfänge der Artistik liegen im Dunkeln. Wann läuft zum ersten Mal ein Knabe auf Händen und erntet den Applaus seiner Kameraden? Wann verneigt sich der erste Jongleur vor einem geneigten kleinen Publikum? Wir wissen es nicht."
Signor Saltarino geleitet als Zirkusexperte und Conférencier durch diese Lange Nacht. Unter dem bürgerlichen Namen Hermann Otto lebte er von 1863 bis 1941.
Seine beiden wichtigsten Werke über die Geschichte des Zirkus sind:
Signor Saltarino
Artisten-Lexikon
Biographische Notizen über Kunstreiter, Dompteure, Gymnastiker, Clowns, Akrobaten ... aller Länder und Zeiten (1895)
Artisten-Lexikon
Biographische Notizen über Kunstreiter, Dompteure, Gymnastiker, Clowns, Akrobaten ... aller Länder und Zeiten (1895)
Signor Saltarino
Circus und Artistik
Bd.2 Das Artistentum und seine Geschichte.
Verlag Huber und Herpel (Nachdruck 1971)
Gisela Winkler hat gemeinsam mit ihrem Mann Dietmar ihr ganzes Berufsleben lang über Zirkus geschrieben.
Winkler: "Im Grunde genommen ist die Besonderheit bei der Artistik, dass Frauen von Anbeginn an, von den alten Hochkulturen an, immer eine sehr große Rolle gespielt haben, also die Gleichberechtigung von vorn herein eigentlich gegeben war."
Ihr Haus quillt über von Büchern, Plakaten und alten Zirkusprogrammen. Gisela Winkler war beim Hentschel Verlag der DDR Lektorin im Bereich Unterhaltungskunst.
Das Standardwerk "Von fliegenden Menschen und tanzenden Pferden" über die Geschichte der Artistik und des Zirkus schrieb sie nach der Wiedervereinigung.
Eine Bibliographie der zahlreichen Veröffentlichungen von Gisela und Dietmar Winkler und eine Literaturdatenbank zum Thema Zirkus finden Sie in ihrem Zirkusarchiv.
Gisela Winkler
Von fliegenden Menschen und tanzenden Pferden
Band 1: Die Geschichte der Artistik und des Zirkus
ISBN 978-3-935194-71-6
Band 2: Die Künste der Artistik
ISBN 978-3-935194-72,3
beide Bände zusammen ISBN 978-3-935194-70-9
Winkler: "Das geht also im alten Ägypten los, wo also nun Jongleusen und Akrobatinnen aufgetreten sind, oder in Griechenland, ich hab da in dem Buch eine sehr schöne Sache gefunden, das ist auch die erste Beschreibung einer Vorstellung, von Xenofon, der also bei einem Gastmahl des Kallias beschreibt im Grunde genommen ein richtiges Varieté-Programm."
Xenofon, 430 bis 354 vor Christus, ein Zeitgenosse von Platon.
Winkler: "Mit sieben verschiedenen Nummern, bei dem zwei Mädchen und ein Junge mitwirkten, eine Tänzerin, eine Jongleuse, die also bis zu zwölf Reifen geworfen hat, was also heute noch eigentlich sensationell ist, da schreibt er: 'Darauf wurde ein Rad hereingetragen, rings bestückt mit aufrechten Schwertern. Über diese hinweg überschlug sich die Tänzerin, hinein und wieder heraus, sodass den Zuschauern Angst wurde, sie möchte sich verletzen, aber sie vollführte alles sicher und keck.' Und dann gab es eine Nummer, bei der die Artistin auf einer schnell sich drehenden Töpferscheibe schreiben und lesen sollte."
Schreiben und lesen waren ungewöhnliche Fähigkeiten für ein Mädchen in Athen, wo Frauen der Vormundschaft eines Mannes unterstanden. Vielleicht ein früher Hinweis darauf, dass artistisches Können weitere Freiheiten mit sich brachte.
Winkler: "Das wurde allerdings bei dieser einen Vorstellung nicht vorgeführt, bei der auch Sokrates anwesend war, der darum gebeten hatte, stattdessen zur Musik Gebärden zu zeigen, also eine Pantomime vorzuführen, was also von den Mädchen und dem Jungen dann auch gemacht wurde. Also das finde ich so interessant, diese Beschreibung eines Auftritts, wo mit Musik, mit Tanz, mit Pantomime, mit Artistik ein volles Programm geboten wurde, und es also auch einen Impresario gab."
Konnte auch ein Frau Impresario sein? Ab wann gab es in der Zirkusgeschichte Frauen, die selbst die Regie übernommen und eigene Vorstellungen inszeniert haben?
Madame Saqui – eine Greisin auf dem Hochseil
Sie hatte ein Theater in Paris, am Boulevard du Temple.
Winkler: "Zu ihren Bewunderern soll Napoleon gezählt haben, der also nach einer Vorstellung sie in ein längeres Gespräch verwickelte, was natürlich ihrer Reputation gedient hat, sie konnte also dann immer darauf verweisen, dass ... Napoleon sie bewundert hat."
Saltarino: "Bienvenue à Paris."
Die Frau auf dem Seil – ist das Madame Saqui? Sie sieht uralt aus.
Saltarino: "Wir sind aus Versehen statt in den Anfangsjahren am Ende ihrer Karriere gelandet. Wir befinden uns im Jahr 1855, elf Jahre vor ihrem Tod. Sie ist dreiundachtzig. Das Haar ergraut, die Gestalt nicht mehr von dem einstigen Ebenmaße, die welken Wangen geschminkt, dass man die bösen Falten nicht gewahrt, hat sie sich doch noch die alte Elastizität bewahrt. Sehen Sie?"
Warum macht Sie das, in Ihrem Alter?
Saltarino: "Sie musste ihr Theater am Boulevard du Temple verkaufen, um ihren Bruder in aufopferungsvoller Weise aus Geldnöten zu befreien. Doch sie selbst wurde dadurch zur Bettlerin, gezwungen, ihre abenteuerlichen Wanderfahrten wieder aufzunehmen, um Geld zu verdienen. Dann wurde sie in Spanien überfallen. Man raubte ihr all ihr Geld und ließ ihr nur das Leben und – ihre Requisiten. In Paris angekommen, wo man von ihrem Erlebnis erfahren hatte, wo die Erinnerung an den einstigen Günstling des ersten Napoleon noch nicht erloschen war, engagierte der Direktor des Hippodrome die Greisin sofort für ein Gastspiel. Passen Sie auf, gleich wird sie ein Kind im Kinderwagen über das Seil fahren."
Ein Kind?
Saltarino: "Einen Säugling. Sie werden ihn schreien hören."
Winkler: "Eine Besonderheit bei ihr war, dass sie ihre Auftritte szenisch gestaltet hat, sie ist also nicht nur einfach übers Seil gelaufen, sondern hat versucht fast wie eine kleine Pantomime auf dem Seil durch verschiedene Kostümierung, und das war überhaupt üblich, dass man versucht hat, Theaterelemente immer mit in den Zirkus zu holen, das hat den Zirkus von Anfang an geprägt."
Saltarino: "Die Saqui spannt ihr Turmseil an den außergewöhnlichsten Orten und findet darin bald eine Nachfolgerin."
Maria Spelterini - eine Signorina aus Berlin
Saltarino: "Meine Damen und Herren, wir befinden uns jenseits des Atlantik, am Niagara-Fluss. Zum ersten Mal überquert ihn eine Frau auf einem Seil. Ihr Name ist Maria Spelterini. Die Signorina trägt fleischfarbene Strumpfhosen, einen leuchtend roten Umhang, ein eng anliegendes meergrünes Leibchen und grüne Stiefel. Die Dame ist 23 Jahre alt, sie hat dunkles Haar und dunkle Augen, ist von anmutiger Gestalt und wiegt, nun, etwa 75 Kilo."
Hier wird die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten gefeiert. Am 8. Juli 1876 dauern die Feierlichkeiten zum hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung immer noch an. Bereits seit Tagen überqueren Seiltänzer den Niagara-Fluss, doch nun zum ersten Mal eine Frau.
Saltarino: "Die Signorina beeilt sich nicht, nein, sie geht, anmutig und sicher, sodass die Angst des Publikums vor der bevorstehenden Katastrophe schon nach kurzer Zeit vergessen ist. Und nun geht sie rückwärts. Die Signorina kehrt rückwärts vom kanadischen Ufer auf die Seite der Vereinigten Staaten zurück."
Die Signorina war vermutlich Berlinerin, die uneheliche Tochter eines Malers und einer Näherin. Wie wurde diese Berliner Göre zum italienischen Star? Hatte sie ihren Namen erfunden?
Saltarino: "Der bekannte Künstlerdirektor Fernando Spelterini hat sie an Kindesstatt angenommen. Sein leiblicher Sohn ist Eduard, der Luftfahrer."
Eduard Spelterini überquerte 1898 in einem Ballon die Alpen, nur zwei Jahre, bevor der erste Zeppelin in die Luft stieg. Sind Sie sicher, dass er Marias Stiefbruder war? Nach meinen Recherchen hatte er von ihr in der Zeitung gelesen und benannte sich nach ihr, weil sie ihn faszinierte und weil sie beide auf ihre Art an der Überwindung der Schwerkraft arbeiteten.
Saltarino: "Ich pflege mich nicht zu irren. Verehrtes Publikum, staunen Sie, lachen Sie, reiben Sie sich die Augen und folgen Sie uns in eine Zeit, in der die Menschheit nicht nur das Fliegen entdeckt, sondern auch das Träumen neu erfindet."
Im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts führten die Brüder Lumière ihren Cinématographe vor, die ersten Lichtspieltheater wurden gebaut, und auch die Bilder von Frauen setzten sich in Bewegung. In Großbritannien entstand aus Protesten gegen ein Gesetz, das Prostituierte zwangsweise medizinischen Kontrollen unterwarf, eine Bewegung für das Frauenwahlrecht, die Suffragetten. Im Zirkus - …
Saltarino: "Im Zirkus findet wie eh und je jeden Tag das Unerhörte statt. Seien Sie dabei, wenn das erste Automobil vom Band rollt und die ersten Stummfilme über die Leinwand flimmern. Begrüßen Sie Mauricia de Thiers auf ihrer halsbrecherischen Schleifenfahrt und Tilly Bébé, Löwenbändigerin und Sensationistin. Lassen Sie sich vom kettensprengenden Charme Käthchen Brumbachs verzaubern. Fräulein Brumbach wird Ihnen gefallen. Wie man gerüchteweise hört, unterstützt sie die Suffragetten, indem sie ihnen einen Teil ihrer höchst beachtlichen Gagen schickt. Doch zuerst: Applaus für Athleta - The Champion Strong Lady of The World."
The Champion Strong Lady of The World
Sie stemmt zwei Männer auf einem Fahrrad weit über ihren Kopf. Einhändig!
Saltarino: "Die Kraftathletinnen sind wie die Seiltänzerinnen durch die Jahrhunderte hindurch ein unentbehrliches Ingredienz aller Jahrmärkte, lange, bevor sie unter dem Chapiteau auftreten."
Athleta und ihr Konkurrent, der Kraftartist Bernhard Leitner, lieferten sich eine Fehde. Beide schalteten Annoncen in der Zeitschrift "Der Artist" und scheuten weder Hohn noch Kosten, um einander zu verspotten. Die Fehde begann, als Leitner und Athleta in Amsterdam gleichzeitig mit demselben Trick auftraten, der sogenannten Schaukel. Sie gingen in die Brücke und trugen auf ihrer Brust ein breites Brett, auf dem rechts und links ein Pferd stand.
Bernhard Leitner: "Ein Athlet, ein Herkules, ist von jeher, soweit die Kultur zurückreicht, das Ideal männlicher Schönheit und Vollkommenheit gewesen, und solange es noch Schönheit gibt, wird es auch so bleiben. Ein Museum, eine Kunstgalerie, wäre nur unvollständig, wenn die Herkules- und Athletenbildnisse darin fehlten. Wird man aber je eine Athletin in einem Institut der schönen Künste finden? Nein! Niemals! Wird jemals eine Athletin, deren männliche Schultern breiter sind als die Hüften, als das Vorbild weiblicher Schönheit gelten? Nein! Niemals! Das Schöne wird bestehen und niemals durch das Unnatürliche seinen Ruin finden!"
Athleta: "Ich, Athleta, Artistin von der Zehe bis zum Scheitel, konnte kaum auf den Beinen stehen, da wurde ich schon mit dem Trikot bekleidet. Als fünfjähriges Kind war ich eine Zugkraft ersten Ranges im Zirkus des seligen Herrn Corty ...
Auf meinen Reisen habe ich schon viele große Museen gesehen, aber die meisten müssen unvollständig gewesen sein, denn in vielen fehlte das Ideal männlicher Schönheit und Vollkommenheit. Wohl habe ich in verschiedenen leere, dunkle Ecken gefunden, dort wird wohl in Zukunft das Ideal des schönen, modernen Athleten hinkommen.
Um überhaupt der ganzen Reiberei ein Ende zu machen, erlasse ich folgende Aufforderung!
1000 Mark zahle ich dem Athleten Herrn Leitner, wenn er meine Kraftleistung nachmacht!"
Haerdle: "Sie bietet ihm Geld, erhöht diese Summe von Ausgabe zu Ausgabe dieser Zeitschrift, er macht das aber nicht, er sagt, das kann er nicht, das geht nicht, da wird sein Ego sozusagen angekratzt, wenn er als Mann sich mit einer Frau auf die Bühne stellt und mit ihr kraftathletisch arbeitet. Eine Frau darf nicht stark sein. Muskeln an einem Frauenkörper haben da nichts verloren, weibliche Kraftathletinnen, die darf es eigentlich gar nicht geben, und natürlich betritt man mit so einem Zwitterwesen, einem Wesen, das es nicht geben darf, keine gemeinsame Bühne."
Stephanie Haerdle ist es zu verdanken, dass Athletas Fehde mit dem Bernhard Leitner nicht im Archiv verstaubt.
Haerdle: "Ich hatte diese Bilder von Frauen beim Zirkus im Kopf, historische Bilder, neunzehntes Jahrhundert, Frauen, die in der Manege plötzlich Dinge taten, die jeglichen Vorstellungen von Weiblichkeit zuwiderliefen, und ich hab mich gefragt, wie das eigentlich sein durfte, dass die ja sichtbar so aufgetreten sind und auch zu großer Berühmtheit gekommen sind, und wollte ein Buch darüber lesen, das mir das ein bisschen erklärt und auch ein paar Geschichten dieser Frauen erzählt, und hab gemerkt, dieses Buch, das ich gerne lesen würde, das gibt es nicht, hab dann angefangen, zu recherchieren und hatte das Glück, eine ganze Reihe von kleinen Zirkusarchiven gleich hier in Berlin aufsuchen zu können, und bin dort über diese Fotos, diese Werbematerialien gestolpert, und dann hat’s mich einfach erwischt, weil ich das sofort so beeindruckend fand und wirklich auch merkte, dass sich in meinem Kopf anfangen, so die Rädchen zu verschieben, weil das so ungewohnt ist, was ich da zu sehen bekam, dass ich dann einfach immer weiter gemacht habe."
Und so schrieb Stephanie Haerdle, die mal geboxt hat, das Buch "Keine Angst haben, das ist unser Beruf!"
Das Lieblingsbuch der Autorinnen dieser Langen Nacht zum Thema:
Stephanie Haerdle
Keine Angst zu haben, das ist unser Beruf!
Kunstreiterinnen, Dompteusen und andere Zirkusartistinnen.
Aviva-Verlag 2007
Haerdle: "Also Frauen mit Muskeln, das find ich schon ne ganz schöne Kombination. Deshalb mussten natürlich die Kraftartistinnen mit ins Buch."
Kolossal, diese Technik! – Constanze und Paula Busch
Paula Busch: "Gegründet wurde der Zirkus 1884 in Svendborg, und dann kamen die Eltern nach Deutschland und haben in Reithallen oder in kleinen Holzzirkussen, Provisorien, wie man die nannte, die eben für zwei Monate errichtet wurden, auch für drei Monate, und dann wieder abgerissen wurden, und da haben sie dann auch Pantomimen zum Schluss gegeben."
Saltarino: Es dürfte wohl niemals einen Zirkus gegeben haben, der so leicht und schnell einen so glänzenden Aufschwung genommen hätte wie das Etablissement Paul Busch. Busch verdankt seine großen Erfolge nicht zum geringsten seiner Frau, der berühmten Parforcereiterin "Miss Konstanze", einer der glänzendsten Erscheinungen, die die Zirkuswelt gesehen.
Zirkus – das hieß bei den Buschs die bekannte Abfolge unterschiedlicher Nummern bis zur Pause. Nach der Pause aber folgten mit immer größerem Aufwand inszenierte Pantomimen. Die Autorin dieser Werke, die vom Untergang Roms, Hannibals Zug über die Alpen oder exotischen Abenteuern handeln konnten, war Paulas Mutter Constanze.
Paula Busch: "Sie schrieb die Pantomimen und studierte sie auch selbst ein. Für alles Neuartige hatte sie das größte Interesse. Ich fand noch auf ihrem Nachttisch auch damals Bücher liegen, historische, germanische Geschichte, von den alten Griechen und sogar ägyptische Darstellung, sie interessierte sich eben für alles."
Constanze Busch schulte Artisten, um mit ihnen Rollen in ihren Werken besetzen zu können. Die Pantomimenspektakel wurden zum Experimentierfeld, hier wurden das Minenspiel, die großen Gesten und die sensationellen Tricks erprobt, die schon bald den Stummfilm prägen sollten.
Paula Busch: "Sie kam gerade aus Paris zurück und sagte zu mir: 'Ja. ich habe' – ich war auch damals noch ein kleines Kind, aber das ist mir ewig haften geblieben – 'die Gebrüder Lumière gesprochen. Die haben einen Cinématographen erfunden.' 'Na', sagte ich, 'was ist denn das' 'Ja, das sind lebende Bilder. Alles bewegt sich. Tiere laufen auf der Straße, Menschen gehen.' 'Oh', sage ich, 'ja das ist ja gar nicht möglich.' 'Ja, das ist möglich, aber ich wollte es für den Zirkus mitbringen, aber zu klein sind die Bilder, nicht die Bildfläche, die ich brauche, fünf zu fünf.'"
Paula Busch (1894 – 1973) hat zahlreiche Romane geschrieben. Die Geschichte des Zirkus Busch wird besonders in "Die Wasserminna" und in der Autobiographie "Das Spiel meines Lebens" lebendig.
Die kleine Paula verfolgte gebannt die historischen Dramen, die ihre Mutter inszenierte. Wie heute bei James Bond sollten die Zuschauer auch bei den Zirkuspantomimen der Constanze Busch über die technischen Effekte staunen. Konnte überhaupt sein, was sie da vor ihren Augen sahen? Und wie war es bewerkstelligt worden?
Paula Busch: "Diese technischen Effekte gehörten eben zu einer Zirkuspantomime. Es musste sehr viel Sinnfälliges aufgeboten werden und etwas, was die Menschen sich nicht erklären konnten, worüber sie nachgrübeln mussten."
Im Oktober 1895 hatten Paulas Eltern ihren Zirkuspalast am Spreeufer eröffnet, der auf mehreren Rängen 4330 Besucher fasste. Der Manegeboden hatte Löcher. Er konnte abgesenkt werden, und wie durch ein Sieb stieg das Spreewasser nach oben, sodass sich die Manege in ein Bassin verwandelte. Quer durch die Manege verlief ein Graben. Er schaffte die nötige Wassertiefe, sodass Menschen und Tiere aus großer Höhe ins kalte Spreewasser springen konnten.
Paula Busch: "Diese Wasserdinge und -Effekte, die hat uns keiner mehr nachgemacht, das war ja kolossal, diese Technik, die in all diesem steckte."
Saltarino: "Meine Damen und Herren, verehrtes Publikum, die Dinge ändern ihren Lauf, und die Zeit rast so, dass sogar einem Flugkünstler und Experten für Zeitsprünge wie mir schwindelig wird."
Im März 1914 verpachtete Paul Busch sein Unternehmen.
Saltarino: "Herren in Fräcken und Paradeuniformen treten auf und erklären einen Krieg."
Weil es den Pächtern nicht gelang, das Unternehmen erfolgreich weiterzuführen, übernahm Paul Busch 1915 wieder die Geschäfte und ernannte seine Tochter Paula zur Pantomimenmeisterin. Paula inszenierte Spektakel, die die Menschen in Kriegszeiten ablenken und unterhalten sollten. Nach Ende des Ersten Weltkrieges begann eine neue Blütezeit des Zirkus Busch.
Saltarino: "Meine Damen und Herren, der Zirkuspalast an der Spree wird vom Arbeiter- und Soldatenrat beschlagnahmt."
Und wieder freigegeben. Die Berliner strömten in den Palast an der Spree. Jeder Erwachsene durfte ein Kind umsonst mit hinein nehmen. In der Hauptstadt der Weimarer Republik eröffnete ein Varieté nach dem anderen. Die ersten Tonfilme wurden gedreht und aufgeführt. Paula Busch lebte mit ihrer geliebten Eleonore Cador zusammen.
Saltarino: "Wie man hört, hat die Frau Direktorin Busch endlich die Scheidung von ihrem Gatten eingereicht."
Dann brachte die Weltwirtschaftskrise den Zirkus an den Rand des Ruins. Paula machte Schulden.
Saltarino: "Meine Damen und Herren, die Welt geht unter."
Am 1. Mai 1933 trat Paula Busch in die NSDAP ein. Sie versuchte sich mit den Machthabern zu arrangieren, um den angedrohten Abriss des Berliner Busch-Baus zu verhindern.
Saltarino: "Meine Damen und Herren, Sie hören den Abriss des Zirkuspalastes Busch."
Trudi Sarrasani – eine Schweizerin im nationalsozialistischen Deutschland
Gab es im Zirkus Frauen, die so kess, kühn und wunderschön waren, dass das nationalsozialistische Frauenbild sie gar nicht berührte? Gab es Frauen, die von Trapez zu Trapez flogen oder ihren Körper in alle Richtungen verbiegen konnten, und deshalb die rhetorischen Höhenflüge der Nazis und die Verrenkungen der Untertanen mit kritischer, professioneller Distanz sahen?
Saltarino: "Meine Damen und Herren, verehrtes Publikum, an der Trompete: Trude Kunz!"
Ernst Günther: "Die Trude ist immer geradewegs, ohne Rücksicht, was da passieren kann, hat sie was gesagt und so. Der Vater wollte ne Geigerin haben, und sie hat Trompete gemacht. Und ist als Trompeterin zu einem Schweizer Damen-Jazz-Orchester gegangen und hat es zur Solotrompeterin gebracht."
Der Dresdener Journalist und Buchautor Ernst Günther erforscht seit fünf Jahrzehnten die Geschichte des Zirkus Sarrasani. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen "Sarrasani. Geschichte und Geschichten" und "Sarrasani – Wie er wirklich war".
Ernst Günter
Sarrasani. Geschichte und Geschichten des Zirkus Sarrasani
Edition Sächsische Zeitung 2005
Ernst Günter
Sarrasani – Wie er wirklich war
Berlin, Henschel Verlag 1991
Trude war die Tochter einer Schweizerin, ihr Vater kam aus Zittau. Als das Schweizer Damen-Jazz-Orchester während der Weltwirtschaftskrise Pleite ging, heuerte die arbeitslose Trude als Tänzerin beim Zirkus Sarrasani an.
Saltarino: "Sarrasani ist ein ungemein rühriger und ingeniöser Mann, er befördert ganz nach amerikanischer Art seinen Zirkus in eigenen Eisenbahnzügen, führt eine ganze Elefantenherde mit sich, eine Menagerie, Abnormitäten etc. und kommandiert ein Heer von über 300 Angestellten."
Mit großem Erfolg hatte der Zirkus Sarrasani bereits 1924 und 1925 Argentinien bereist. Nun, im Jahr 1934, suchte Sarrasani Tänzerinnen für eine zweite Südamerika-Tournee. Die Kassen des Zirkus waren wieder einmal ebenso leer wie die Programme glanzvoll. Die Tournee sollte sie füllen, und außerdem den jüdischen Mitarbeitern die Flucht ermöglichen. Sarrasani stellte sogar kurz vor der Tournee noch mehr jüdische Artisten ein. Deshalb wurde der Zirkus in Deutschland als Judenzirkus verunglimpft. Auf der Reise durch die Niederlande dagegen riefen die Leute ihm "Nazizirkus" hinterher. Am Freitag, den 13. April 1934, ging Trude mit den anderen Sarrasanis in Rotterdam an Bord. Das Ziel war Rio de Janeiro. Trude war einundzwanzig Jahre alt.
Ernst Günther: "Und eben immer kess und glatt weg. Und bei dieser Reise nach Südamerika hat sie auf dem Schiff den Junior-Chef von Sarrasani, also den Hans-Stosch Sarrasani jun., kennengelernt. Die sind dann nachts mit Taschenlampen durchs Schiff gegangen, wo sie wussten, das Liebespaare sich treffen, und die haben sie dann angeleuchtet und erschreckt, solche Scherze."
Saltarino: "Lassen Sie mich raten: Statt sich vor dem Lichtstrahl zu verstecken, erwischt Amor auch Trude und Hans junior."
Sie heirateten 1935 in Buenos Aires. Hans Stosch-Sarrasani, Senior, der Zirkusgründer, war noch im September 1934 in Sao Paulo gestorben, und sein Sohn, der den Nationalsozialisten gegenüber weniger kritisch eingestellt war als der Senior, war Ende 1934 nach Deutschland zurückgeflogen, um staatliche Förderung für seinen Zirkus auszuhandeln. Ende 1935 erzwangen die Gläubiger in Deutschland die Rückkehr des Zirkus. Wenn man schon kein Geld bekam, wollte man wenigstens Wagen, Zelte und Tiere in der Nähe wissen. Während Hans versuchte, sich den Nationalsozialisten anzupassen, geriet Trude in Konflikte mit der Deutschen Arbeitsfront.
Ernst Günther: "Die Deutsche Arbeitsfront, die DAF, die angebliche Gewerkschaft, es war ja keine Gewerkschaft in dem Sinne, die war ein starker Gegner dieser Schweizerin da, und die ist mit denen sehr oft zusammengerasselt. Die haben ihr sogar ein Auftrittsverbot. Während der Tournee haben sie sie aus dem Programm geschmissen, und ihr Mann, der war ja Mitglied der NSDAP, und der wollte es sich auch nicht verderben, ja Mausel, sei mal ruhig und so, und das war sie nicht."
1941 starb auch Trudes Mann, Hans Stosch-Sarrasani, Junior. Mit 28 Jahren wurde sie Zirkusdirektorin. Die Zeiten waren schwierig, Tourneen ließen sich im Krieg kaum noch organisieren. 1943 trat auch Trude in die NSDAP ein.
Ernst Günther: "Und dann war der Zirkus ja dann hier auf Dresden beschränkt. Und der hat ja gespielt tatsächlich ... bis zum 13. Februar 1945."
Saltarino: "Der Zirkus muss spielen", lautet seit jeher das Motto der Sarrasanis.
Ernst Günther: "Der Zirkus muss spielen, das heißt, es muss was da sein. Männer waren keine da, und da hat sie den Revuezirkus erfunden. Es gab wenig Männer, und die Programme mussten gemacht werden, aber Frauen gab’s genug und die wollten auch arbeiten, denn die waren ja meistens schon Witwen wieder oder die Männer waren wer weiß wo, wusste ja niemand. Und da sie ja Tänzerin war, da sie Musikerin war, konnte sie also vieles selber organisieren und managen. 1944, da hat sie die Weltpremiere des ersten Zirkusmusicals gemacht. Da sind Journalisten, ich glaube, aus 50 Ländern angereist zu der Premiere. Das muss ein unheimliches Ding gewesen sein."
Weil Trude und ihr Lebensgefährte Gabor Nemedi auf ein rasches Ende des Krieges hofften, trafen sie Vorbereitungen für die Zeit danach.
Elefanten, Pferde und ein Nilpferd wurden zum Zirkus Knie in der neutralen Schweiz gegeben. Treibstoff, Zelte, LKW-Reifen und anderes Material versteckten Trude, Gabor und ihre Vertrauten im Wald. Sie wurden verraten, und Trude wurde 1945 von der Gestapo inhaftiert. Im Nachkriegsdeutschland wurden Trude Sarrasani und Gabor Nemedi nicht heimisch. Im Januar 1948 schifften sie sich nach Argentinien ein, wo der neue Circo Shangri-Là Sarrasani schon im April vor Juan und Evita Perón spielte und 1950 zum Nationalzirkus ernannt wurde.
Nachkriegsjahre: Aus Greta wird Fatima
In Hockenheim und Berlin, Hannover und Magdeburg suchten etwa zur gleichen Zeit junge Frauen ein eigenes Auskommen und Wege in ein selbständiges Leben. Wieder begannen Zirkusgeschichten voll harter Arbeit und Mut zum Risiko. Sie konnten aus einem Friseurladen, in dem die ersten Nachkriegsdauerwellen gelegt wurden, bis in den New Yorker Madison Square Garden führen. Oder aus einem winzigen Zimmer auf einem Bauernhof in einen Film von Max Ophüls.
Fatima Althoff: "Bei meiner Mutter hatte ich ja gar nichts zu essen. Die hat mich ja betteln geschickt. Da war so ne ganze Horde von Kindern."
Der Zirkus kam ins Dorf und versprach Essen, Klänge, Gerüche, Bewegung, Leben.
Fatima Althoff: "Dann kamen Leute vom Zirkus vorbei, und ich bin schon vorher immer in den Zirkus reingeschlüpft, ne, und dann war ein Mädchen dabei, das war so eine Marokkaner-Truppe, die machten Pyramiden und Parterrespringen, Saltos, Flickflacks und sowas, hat mir gut gefallen. "Ich will auch zum Zirkus", hab ich zu meiner Mutter gesagt, und dann sagte das Mädchen: "Ja, ja, mein Chef sucht noch Lehrmädchen." Der Zirkus fuhr weiter, ich weiß gar nicht mehr wohin, das war 1948, und meine Mutter hat gesagt: "Ja!" Ein Bekannter mit einem Fahrrad hat mir ein Kissen auf den Gepäckträger gegeben, da saß ich hinten auf dem Gepäckträger, hatte einen Löffel und eine Gabel, und da bin ich so zum Zirkus gekommen, ja, und dann kam ich da an, und dann sagte der Truppen-Chef von dieser Truppe: "Du kriegst jetzt die Haare gefärbt, weil wir sind ja eine marokkanische Truppe, und du hast blaue Augen. Du musst die Haare gefärbt kriegen." Und ich heiße richtig Greta, Greta Babette, und der sagt: "Du heißt jetzt Fatima. Von jetzt an heißt du Fatima, und ich bin dein Papi und das ist deine Mami." Die Frau von ihm war eine Österreicherin, von Wien kam die. Von da an hieß ich Fatima, und keiner kennt mich unter meinem richtigen Namen."
Im September 1948 stieß Greta zum Zirkus Alois Schickler, im Dezember musste Fatima im Varieté Allotria auf der Bühne stehen.
Fatima Althoff: "Dann hab ich sehr viel Haue bekommen, wo ich das lernen musste, weglaufen konnt ich ja schlecht. Die Putzfrauen, die haben gesagt: "Wenn Sie jetzt nicht aufhören, das Kind zu schlagen, dann zeigen wir Sie an." Wir mussten dann ganz früh, um sechs Uhr, probieren, wenn noch keiner da war."
Saltarino: "Das mutige Kind findet sich unter Schurken wieder, zu denen sie Papi und Mami sagen muss und die ihr mehr Leid antun, als mancher Straßenräuber übers Herz brächte."
Angst darf man nicht haben, das haben uns viele Akrobatinnen und Dompteurinnen erzählt. Doch Fatima erlebte Jahre voller Angst und Lähmung.
Fatima Althoff: "Ich für meine Person war nicht so von Natur aus begabt. ... Ich konnte überhaupt nix, ich musste alles lernen, und weil ich ja nix zu essen hatte, war ich so schlapp."
Saltarino: "Mit nicht einmal neun Jahren schlägt sie Salti und Flickflacks quer durch die Manege und steht oben auf einer Pyramide von Leibern."
Fatima Althoff: "Meine Mutter hab ich nach drei Jahren wiedergesehen und ich hab sie nicht mehr erkannt, war für mich fremd."
Es gab Rettungsanker: Allein essen versteckt im Stroh, eine freundliche Lehrerin in Zeiten, in denen der Zirkus einen eigenen Schulwagen mitführte, Gespräche mit einem Pfarrer, die Aufmerksamkeit bei der Erstkommunion - und Kinofilme. Fatima sah sie spiegelverkehrt, auf der Rückseite der Leinwand. Artisten traten in den fünfziger Jahren vor Kinovorführungen auf, um für ihre Show zu werben.
Fatima Althoff: "Wenn wir gearbeitet haben, vorne, auf der Bühne, bevor der Film anfing, dann haben wir uns immer nach hinten gesetzt, hinter die Leinwand und haben uns da den Film angeguckt. Wir waren fertig, und da fing der Hauptfilm an, und da sind wir hinter die Leinwand gegangen und haben den ganzen Film von hinten gesehen, einen Stuhl hingestellt, war natürlich ganz nah. Manchmal hat man da halt Schauspieler kennengelernt, wenn die den Film vorgeführt haben, wie zum Beispiel die Lilian Harvey damals."
1955 war sie selbst auf der Leinwand zu sehen, denn Max Ophüls engagierte den Zirkus Brumbach für seinen Film "Lola Montez". Fatima, die einen neuen Namen und eine neue Haarfarbe bekommen hatte, wechselte nun auch noch das Geschlecht. Von den Aufnahmen mit Peter Ustinov ist ihr ein Foto geblieben.
Fatima Althoff: "Da war ich so 15, 16, und ich erinnere mich, ich war so als Junge angezogen, und dann hat er gesagt, du siehst zu mädchenhaft aus, du musst mehr Jungs aussehen, und dann hab ich so komische orangefarbene Haare gehabt, also da steht auf dem Foto noch von Peter Ustinoff: Für Fatima mit dem gelben Schnurrbart."
Mit 16 lernte Fatima ihren ersten Ehemann Horst Brumbach kennen. Als die Ehe geschieden wurde, verlor sie das Sorgerecht für ihren Sohn.
Fatima Althoff: "Die haben gesagt, ich führe ein Zirkusleben, das Zigeunerleben, und er hat einen festen Wohnsitz und seine Mutter kümmert sich jetzt um sein Kind. Da hat man nicht gefragt, ob das Kind lieber bei der Mutter wäre, das waren einfach reisendes Volk, Zigeuner. Und die haben alles über einen Kamm geschert, ja."
Fatima trat weiterhin jeden Abend auf und verliebte sich in Harry Althoff, den Sohn des Zirkuspatriarchen Franz.
Saltarino: "Der Vater sieht in dem Sohn einen billigen Knecht und denkt nicht daran, ihm sein Unternehmen zu vererben."
Deshalb machten sich Fatima und Harry mit einer Elefantennummer selbständig und waren u.a. bei Sarrasani und beim Zirkus Barum engagiert. Später führte er in einem Varieté Tiger vor, und sie arbeitete bis zur Rente an der Kasse und in der Restauration. Diese zweite Ehe, die Fatima als Erwachsene einging, wurde glücklich.
Fatima Althoff: "Ich sag immer, in diesen vierzig Jahren oder mehr wie vierzig Jahren waren wir länger zusammen wie Leute, die arbeiten gehen. Wir sind ja von morgens bis abends sind wir ewig zusammen gewesen. Und wenn’s mal Meinungsverschiedenheiten gab, gibt’s ja überall, dann konnten wir ja nicht in den Regen rausgehen und draußen rumstehen. Dann wurde sich auch schnell wieder vertragen."
Die beiden bekamen eine Tochter, Gina.
Gina Althoff: "Ich hab meine Kindheit mit Spielen verbracht, ich gehör nicht zu der Generation wie meine Mama, die dann gleich zum Training gezwungen wurde. Ich hab meine Kindheit recht frei verbracht, meistens im Ponystall, zwar mit Regeln zuhause, aber doch sehr frei einfach. Bei mir persönlich war das so, dass mein Vater immer gesagt hat, er will das bei mir genau anders herum machen, weil er wurde auch sehr streng erzogen genauso wie meine Mutter. Ich durfte auch sagen, was ich denke oder was nicht. Ich glaube, ich hab eine sehr, sehr gute Erziehung genossen."
Fatima Althoff: "Mein Mann hat gesagt zu ihr: 'Du machst nichts mit den Tieren, die Tiere fressen dir die Haare vom Kopf, wenn du mal keine Arbeit hast.' Sie war dann als Kind im Internat, und später hat sie dann gesagt: 'Ich werde Artistin, ob ihr das wollt oder nicht.' Wir wollten natürlich nicht, dass sie Artistin wird, wir wollten, dass sie irgendetwas anderes macht, aber sie hat sich nun durchgesetzt und alleine das gelernt und durchgeboxt und es klappte ganz gut."
Ginas Leidenschaft ist das Jonglieren mit den Füßen geworden, die Antipodenjonglage.
Gina Althoff: "Der Zirkus besteht in erster Linie aus Disziplin und Respekt, Respekt vor allen Menschenrassen, vor dem Tier. Und Disziplin, überall pünktlich zu sein. Das kann auch mal ein Knochenjob sein."
Gina Althoff jongliert nicht nur mit den Füßen, sondern gibt mit ihrem Mann Armin Fischer auch komisch-virtuose Konzerte.
Wir kamen in ein neues Land – Mauerfall und Neubeginn
Petra Sperlich: "Wir haben in der Ausbildung alles gelernt, also man hat ne Grundausbildung, hat die ersten Prüfungen, und dann hat der Staatszirkus gesagt, ich brauche, bei uns im Studienjahr war’s halt eine Raddarbietung und eine Bodenakrobatik. Und so musste aus dem, ich sag mal, Material in Anführungsstrichen eben zwei dieser Sachen gemacht werden."
Als Petra Sperlich in den siebziger Jahren ihre Ausbildung an der Staatlichen Schule für Artistik begann, war Artistin noch ein Beruf mit geregelten Zukunftsaussichten. Jugendliche lernten hier Mathematik und Jonglieren, Rechtschreibung und Flickflacks.
Circus und Artistik
Bd.2 Das Artistentum und seine Geschichte.
Verlag Huber und Herpel (Nachdruck 1971)
Gisela Winkler hat gemeinsam mit ihrem Mann Dietmar ihr ganzes Berufsleben lang über Zirkus geschrieben.
Winkler: "Im Grunde genommen ist die Besonderheit bei der Artistik, dass Frauen von Anbeginn an, von den alten Hochkulturen an, immer eine sehr große Rolle gespielt haben, also die Gleichberechtigung von vorn herein eigentlich gegeben war."
Ihr Haus quillt über von Büchern, Plakaten und alten Zirkusprogrammen. Gisela Winkler war beim Hentschel Verlag der DDR Lektorin im Bereich Unterhaltungskunst.
Das Standardwerk "Von fliegenden Menschen und tanzenden Pferden" über die Geschichte der Artistik und des Zirkus schrieb sie nach der Wiedervereinigung.
Eine Bibliographie der zahlreichen Veröffentlichungen von Gisela und Dietmar Winkler und eine Literaturdatenbank zum Thema Zirkus finden Sie in ihrem Zirkusarchiv.
Gisela Winkler
Von fliegenden Menschen und tanzenden Pferden
Band 1: Die Geschichte der Artistik und des Zirkus
ISBN 978-3-935194-71-6
Band 2: Die Künste der Artistik
ISBN 978-3-935194-72,3
beide Bände zusammen ISBN 978-3-935194-70-9
Winkler: "Das geht also im alten Ägypten los, wo also nun Jongleusen und Akrobatinnen aufgetreten sind, oder in Griechenland, ich hab da in dem Buch eine sehr schöne Sache gefunden, das ist auch die erste Beschreibung einer Vorstellung, von Xenofon, der also bei einem Gastmahl des Kallias beschreibt im Grunde genommen ein richtiges Varieté-Programm."
Xenofon, 430 bis 354 vor Christus, ein Zeitgenosse von Platon.
Winkler: "Mit sieben verschiedenen Nummern, bei dem zwei Mädchen und ein Junge mitwirkten, eine Tänzerin, eine Jongleuse, die also bis zu zwölf Reifen geworfen hat, was also heute noch eigentlich sensationell ist, da schreibt er: 'Darauf wurde ein Rad hereingetragen, rings bestückt mit aufrechten Schwertern. Über diese hinweg überschlug sich die Tänzerin, hinein und wieder heraus, sodass den Zuschauern Angst wurde, sie möchte sich verletzen, aber sie vollführte alles sicher und keck.' Und dann gab es eine Nummer, bei der die Artistin auf einer schnell sich drehenden Töpferscheibe schreiben und lesen sollte."
Schreiben und lesen waren ungewöhnliche Fähigkeiten für ein Mädchen in Athen, wo Frauen der Vormundschaft eines Mannes unterstanden. Vielleicht ein früher Hinweis darauf, dass artistisches Können weitere Freiheiten mit sich brachte.
Winkler: "Das wurde allerdings bei dieser einen Vorstellung nicht vorgeführt, bei der auch Sokrates anwesend war, der darum gebeten hatte, stattdessen zur Musik Gebärden zu zeigen, also eine Pantomime vorzuführen, was also von den Mädchen und dem Jungen dann auch gemacht wurde. Also das finde ich so interessant, diese Beschreibung eines Auftritts, wo mit Musik, mit Tanz, mit Pantomime, mit Artistik ein volles Programm geboten wurde, und es also auch einen Impresario gab."
Konnte auch ein Frau Impresario sein? Ab wann gab es in der Zirkusgeschichte Frauen, die selbst die Regie übernommen und eigene Vorstellungen inszeniert haben?
Madame Saqui – eine Greisin auf dem Hochseil
Sie hatte ein Theater in Paris, am Boulevard du Temple.
Winkler: "Zu ihren Bewunderern soll Napoleon gezählt haben, der also nach einer Vorstellung sie in ein längeres Gespräch verwickelte, was natürlich ihrer Reputation gedient hat, sie konnte also dann immer darauf verweisen, dass ... Napoleon sie bewundert hat."
Saltarino: "Bienvenue à Paris."
Die Frau auf dem Seil – ist das Madame Saqui? Sie sieht uralt aus.
Saltarino: "Wir sind aus Versehen statt in den Anfangsjahren am Ende ihrer Karriere gelandet. Wir befinden uns im Jahr 1855, elf Jahre vor ihrem Tod. Sie ist dreiundachtzig. Das Haar ergraut, die Gestalt nicht mehr von dem einstigen Ebenmaße, die welken Wangen geschminkt, dass man die bösen Falten nicht gewahrt, hat sie sich doch noch die alte Elastizität bewahrt. Sehen Sie?"
Warum macht Sie das, in Ihrem Alter?
Saltarino: "Sie musste ihr Theater am Boulevard du Temple verkaufen, um ihren Bruder in aufopferungsvoller Weise aus Geldnöten zu befreien. Doch sie selbst wurde dadurch zur Bettlerin, gezwungen, ihre abenteuerlichen Wanderfahrten wieder aufzunehmen, um Geld zu verdienen. Dann wurde sie in Spanien überfallen. Man raubte ihr all ihr Geld und ließ ihr nur das Leben und – ihre Requisiten. In Paris angekommen, wo man von ihrem Erlebnis erfahren hatte, wo die Erinnerung an den einstigen Günstling des ersten Napoleon noch nicht erloschen war, engagierte der Direktor des Hippodrome die Greisin sofort für ein Gastspiel. Passen Sie auf, gleich wird sie ein Kind im Kinderwagen über das Seil fahren."
Ein Kind?
Saltarino: "Einen Säugling. Sie werden ihn schreien hören."
Winkler: "Eine Besonderheit bei ihr war, dass sie ihre Auftritte szenisch gestaltet hat, sie ist also nicht nur einfach übers Seil gelaufen, sondern hat versucht fast wie eine kleine Pantomime auf dem Seil durch verschiedene Kostümierung, und das war überhaupt üblich, dass man versucht hat, Theaterelemente immer mit in den Zirkus zu holen, das hat den Zirkus von Anfang an geprägt."
Saltarino: "Die Saqui spannt ihr Turmseil an den außergewöhnlichsten Orten und findet darin bald eine Nachfolgerin."
Maria Spelterini - eine Signorina aus Berlin
Saltarino: "Meine Damen und Herren, wir befinden uns jenseits des Atlantik, am Niagara-Fluss. Zum ersten Mal überquert ihn eine Frau auf einem Seil. Ihr Name ist Maria Spelterini. Die Signorina trägt fleischfarbene Strumpfhosen, einen leuchtend roten Umhang, ein eng anliegendes meergrünes Leibchen und grüne Stiefel. Die Dame ist 23 Jahre alt, sie hat dunkles Haar und dunkle Augen, ist von anmutiger Gestalt und wiegt, nun, etwa 75 Kilo."
Hier wird die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten gefeiert. Am 8. Juli 1876 dauern die Feierlichkeiten zum hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung immer noch an. Bereits seit Tagen überqueren Seiltänzer den Niagara-Fluss, doch nun zum ersten Mal eine Frau.
Saltarino: "Die Signorina beeilt sich nicht, nein, sie geht, anmutig und sicher, sodass die Angst des Publikums vor der bevorstehenden Katastrophe schon nach kurzer Zeit vergessen ist. Und nun geht sie rückwärts. Die Signorina kehrt rückwärts vom kanadischen Ufer auf die Seite der Vereinigten Staaten zurück."
Die Signorina war vermutlich Berlinerin, die uneheliche Tochter eines Malers und einer Näherin. Wie wurde diese Berliner Göre zum italienischen Star? Hatte sie ihren Namen erfunden?
Saltarino: "Der bekannte Künstlerdirektor Fernando Spelterini hat sie an Kindesstatt angenommen. Sein leiblicher Sohn ist Eduard, der Luftfahrer."
Eduard Spelterini überquerte 1898 in einem Ballon die Alpen, nur zwei Jahre, bevor der erste Zeppelin in die Luft stieg. Sind Sie sicher, dass er Marias Stiefbruder war? Nach meinen Recherchen hatte er von ihr in der Zeitung gelesen und benannte sich nach ihr, weil sie ihn faszinierte und weil sie beide auf ihre Art an der Überwindung der Schwerkraft arbeiteten.
Saltarino: "Ich pflege mich nicht zu irren. Verehrtes Publikum, staunen Sie, lachen Sie, reiben Sie sich die Augen und folgen Sie uns in eine Zeit, in der die Menschheit nicht nur das Fliegen entdeckt, sondern auch das Träumen neu erfindet."
Im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts führten die Brüder Lumière ihren Cinématographe vor, die ersten Lichtspieltheater wurden gebaut, und auch die Bilder von Frauen setzten sich in Bewegung. In Großbritannien entstand aus Protesten gegen ein Gesetz, das Prostituierte zwangsweise medizinischen Kontrollen unterwarf, eine Bewegung für das Frauenwahlrecht, die Suffragetten. Im Zirkus - …
Saltarino: "Im Zirkus findet wie eh und je jeden Tag das Unerhörte statt. Seien Sie dabei, wenn das erste Automobil vom Band rollt und die ersten Stummfilme über die Leinwand flimmern. Begrüßen Sie Mauricia de Thiers auf ihrer halsbrecherischen Schleifenfahrt und Tilly Bébé, Löwenbändigerin und Sensationistin. Lassen Sie sich vom kettensprengenden Charme Käthchen Brumbachs verzaubern. Fräulein Brumbach wird Ihnen gefallen. Wie man gerüchteweise hört, unterstützt sie die Suffragetten, indem sie ihnen einen Teil ihrer höchst beachtlichen Gagen schickt. Doch zuerst: Applaus für Athleta - The Champion Strong Lady of The World."
The Champion Strong Lady of The World
Sie stemmt zwei Männer auf einem Fahrrad weit über ihren Kopf. Einhändig!
Saltarino: "Die Kraftathletinnen sind wie die Seiltänzerinnen durch die Jahrhunderte hindurch ein unentbehrliches Ingredienz aller Jahrmärkte, lange, bevor sie unter dem Chapiteau auftreten."
Athleta und ihr Konkurrent, der Kraftartist Bernhard Leitner, lieferten sich eine Fehde. Beide schalteten Annoncen in der Zeitschrift "Der Artist" und scheuten weder Hohn noch Kosten, um einander zu verspotten. Die Fehde begann, als Leitner und Athleta in Amsterdam gleichzeitig mit demselben Trick auftraten, der sogenannten Schaukel. Sie gingen in die Brücke und trugen auf ihrer Brust ein breites Brett, auf dem rechts und links ein Pferd stand.
Bernhard Leitner: "Ein Athlet, ein Herkules, ist von jeher, soweit die Kultur zurückreicht, das Ideal männlicher Schönheit und Vollkommenheit gewesen, und solange es noch Schönheit gibt, wird es auch so bleiben. Ein Museum, eine Kunstgalerie, wäre nur unvollständig, wenn die Herkules- und Athletenbildnisse darin fehlten. Wird man aber je eine Athletin in einem Institut der schönen Künste finden? Nein! Niemals! Wird jemals eine Athletin, deren männliche Schultern breiter sind als die Hüften, als das Vorbild weiblicher Schönheit gelten? Nein! Niemals! Das Schöne wird bestehen und niemals durch das Unnatürliche seinen Ruin finden!"
Athleta: "Ich, Athleta, Artistin von der Zehe bis zum Scheitel, konnte kaum auf den Beinen stehen, da wurde ich schon mit dem Trikot bekleidet. Als fünfjähriges Kind war ich eine Zugkraft ersten Ranges im Zirkus des seligen Herrn Corty ...
Auf meinen Reisen habe ich schon viele große Museen gesehen, aber die meisten müssen unvollständig gewesen sein, denn in vielen fehlte das Ideal männlicher Schönheit und Vollkommenheit. Wohl habe ich in verschiedenen leere, dunkle Ecken gefunden, dort wird wohl in Zukunft das Ideal des schönen, modernen Athleten hinkommen.
Um überhaupt der ganzen Reiberei ein Ende zu machen, erlasse ich folgende Aufforderung!
1000 Mark zahle ich dem Athleten Herrn Leitner, wenn er meine Kraftleistung nachmacht!"
Haerdle: "Sie bietet ihm Geld, erhöht diese Summe von Ausgabe zu Ausgabe dieser Zeitschrift, er macht das aber nicht, er sagt, das kann er nicht, das geht nicht, da wird sein Ego sozusagen angekratzt, wenn er als Mann sich mit einer Frau auf die Bühne stellt und mit ihr kraftathletisch arbeitet. Eine Frau darf nicht stark sein. Muskeln an einem Frauenkörper haben da nichts verloren, weibliche Kraftathletinnen, die darf es eigentlich gar nicht geben, und natürlich betritt man mit so einem Zwitterwesen, einem Wesen, das es nicht geben darf, keine gemeinsame Bühne."
Stephanie Haerdle ist es zu verdanken, dass Athletas Fehde mit dem Bernhard Leitner nicht im Archiv verstaubt.
Haerdle: "Ich hatte diese Bilder von Frauen beim Zirkus im Kopf, historische Bilder, neunzehntes Jahrhundert, Frauen, die in der Manege plötzlich Dinge taten, die jeglichen Vorstellungen von Weiblichkeit zuwiderliefen, und ich hab mich gefragt, wie das eigentlich sein durfte, dass die ja sichtbar so aufgetreten sind und auch zu großer Berühmtheit gekommen sind, und wollte ein Buch darüber lesen, das mir das ein bisschen erklärt und auch ein paar Geschichten dieser Frauen erzählt, und hab gemerkt, dieses Buch, das ich gerne lesen würde, das gibt es nicht, hab dann angefangen, zu recherchieren und hatte das Glück, eine ganze Reihe von kleinen Zirkusarchiven gleich hier in Berlin aufsuchen zu können, und bin dort über diese Fotos, diese Werbematerialien gestolpert, und dann hat’s mich einfach erwischt, weil ich das sofort so beeindruckend fand und wirklich auch merkte, dass sich in meinem Kopf anfangen, so die Rädchen zu verschieben, weil das so ungewohnt ist, was ich da zu sehen bekam, dass ich dann einfach immer weiter gemacht habe."
Und so schrieb Stephanie Haerdle, die mal geboxt hat, das Buch "Keine Angst haben, das ist unser Beruf!"
Das Lieblingsbuch der Autorinnen dieser Langen Nacht zum Thema:
Stephanie Haerdle
Keine Angst zu haben, das ist unser Beruf!
Kunstreiterinnen, Dompteusen und andere Zirkusartistinnen.
Aviva-Verlag 2007
Haerdle: "Also Frauen mit Muskeln, das find ich schon ne ganz schöne Kombination. Deshalb mussten natürlich die Kraftartistinnen mit ins Buch."
Kolossal, diese Technik! – Constanze und Paula Busch
Paula Busch: "Gegründet wurde der Zirkus 1884 in Svendborg, und dann kamen die Eltern nach Deutschland und haben in Reithallen oder in kleinen Holzzirkussen, Provisorien, wie man die nannte, die eben für zwei Monate errichtet wurden, auch für drei Monate, und dann wieder abgerissen wurden, und da haben sie dann auch Pantomimen zum Schluss gegeben."
Saltarino: Es dürfte wohl niemals einen Zirkus gegeben haben, der so leicht und schnell einen so glänzenden Aufschwung genommen hätte wie das Etablissement Paul Busch. Busch verdankt seine großen Erfolge nicht zum geringsten seiner Frau, der berühmten Parforcereiterin "Miss Konstanze", einer der glänzendsten Erscheinungen, die die Zirkuswelt gesehen.
Zirkus – das hieß bei den Buschs die bekannte Abfolge unterschiedlicher Nummern bis zur Pause. Nach der Pause aber folgten mit immer größerem Aufwand inszenierte Pantomimen. Die Autorin dieser Werke, die vom Untergang Roms, Hannibals Zug über die Alpen oder exotischen Abenteuern handeln konnten, war Paulas Mutter Constanze.
Paula Busch: "Sie schrieb die Pantomimen und studierte sie auch selbst ein. Für alles Neuartige hatte sie das größte Interesse. Ich fand noch auf ihrem Nachttisch auch damals Bücher liegen, historische, germanische Geschichte, von den alten Griechen und sogar ägyptische Darstellung, sie interessierte sich eben für alles."
Constanze Busch schulte Artisten, um mit ihnen Rollen in ihren Werken besetzen zu können. Die Pantomimenspektakel wurden zum Experimentierfeld, hier wurden das Minenspiel, die großen Gesten und die sensationellen Tricks erprobt, die schon bald den Stummfilm prägen sollten.
Paula Busch: "Sie kam gerade aus Paris zurück und sagte zu mir: 'Ja. ich habe' – ich war auch damals noch ein kleines Kind, aber das ist mir ewig haften geblieben – 'die Gebrüder Lumière gesprochen. Die haben einen Cinématographen erfunden.' 'Na', sagte ich, 'was ist denn das' 'Ja, das sind lebende Bilder. Alles bewegt sich. Tiere laufen auf der Straße, Menschen gehen.' 'Oh', sage ich, 'ja das ist ja gar nicht möglich.' 'Ja, das ist möglich, aber ich wollte es für den Zirkus mitbringen, aber zu klein sind die Bilder, nicht die Bildfläche, die ich brauche, fünf zu fünf.'"
Paula Busch (1894 – 1973) hat zahlreiche Romane geschrieben. Die Geschichte des Zirkus Busch wird besonders in "Die Wasserminna" und in der Autobiographie "Das Spiel meines Lebens" lebendig.
Die kleine Paula verfolgte gebannt die historischen Dramen, die ihre Mutter inszenierte. Wie heute bei James Bond sollten die Zuschauer auch bei den Zirkuspantomimen der Constanze Busch über die technischen Effekte staunen. Konnte überhaupt sein, was sie da vor ihren Augen sahen? Und wie war es bewerkstelligt worden?
Paula Busch: "Diese technischen Effekte gehörten eben zu einer Zirkuspantomime. Es musste sehr viel Sinnfälliges aufgeboten werden und etwas, was die Menschen sich nicht erklären konnten, worüber sie nachgrübeln mussten."
Im Oktober 1895 hatten Paulas Eltern ihren Zirkuspalast am Spreeufer eröffnet, der auf mehreren Rängen 4330 Besucher fasste. Der Manegeboden hatte Löcher. Er konnte abgesenkt werden, und wie durch ein Sieb stieg das Spreewasser nach oben, sodass sich die Manege in ein Bassin verwandelte. Quer durch die Manege verlief ein Graben. Er schaffte die nötige Wassertiefe, sodass Menschen und Tiere aus großer Höhe ins kalte Spreewasser springen konnten.
Paula Busch: "Diese Wasserdinge und -Effekte, die hat uns keiner mehr nachgemacht, das war ja kolossal, diese Technik, die in all diesem steckte."
Saltarino: "Meine Damen und Herren, verehrtes Publikum, die Dinge ändern ihren Lauf, und die Zeit rast so, dass sogar einem Flugkünstler und Experten für Zeitsprünge wie mir schwindelig wird."
Im März 1914 verpachtete Paul Busch sein Unternehmen.
Saltarino: "Herren in Fräcken und Paradeuniformen treten auf und erklären einen Krieg."
Weil es den Pächtern nicht gelang, das Unternehmen erfolgreich weiterzuführen, übernahm Paul Busch 1915 wieder die Geschäfte und ernannte seine Tochter Paula zur Pantomimenmeisterin. Paula inszenierte Spektakel, die die Menschen in Kriegszeiten ablenken und unterhalten sollten. Nach Ende des Ersten Weltkrieges begann eine neue Blütezeit des Zirkus Busch.
Saltarino: "Meine Damen und Herren, der Zirkuspalast an der Spree wird vom Arbeiter- und Soldatenrat beschlagnahmt."
Und wieder freigegeben. Die Berliner strömten in den Palast an der Spree. Jeder Erwachsene durfte ein Kind umsonst mit hinein nehmen. In der Hauptstadt der Weimarer Republik eröffnete ein Varieté nach dem anderen. Die ersten Tonfilme wurden gedreht und aufgeführt. Paula Busch lebte mit ihrer geliebten Eleonore Cador zusammen.
Saltarino: "Wie man hört, hat die Frau Direktorin Busch endlich die Scheidung von ihrem Gatten eingereicht."
Dann brachte die Weltwirtschaftskrise den Zirkus an den Rand des Ruins. Paula machte Schulden.
Saltarino: "Meine Damen und Herren, die Welt geht unter."
Am 1. Mai 1933 trat Paula Busch in die NSDAP ein. Sie versuchte sich mit den Machthabern zu arrangieren, um den angedrohten Abriss des Berliner Busch-Baus zu verhindern.
Saltarino: "Meine Damen und Herren, Sie hören den Abriss des Zirkuspalastes Busch."
Trudi Sarrasani – eine Schweizerin im nationalsozialistischen Deutschland
Gab es im Zirkus Frauen, die so kess, kühn und wunderschön waren, dass das nationalsozialistische Frauenbild sie gar nicht berührte? Gab es Frauen, die von Trapez zu Trapez flogen oder ihren Körper in alle Richtungen verbiegen konnten, und deshalb die rhetorischen Höhenflüge der Nazis und die Verrenkungen der Untertanen mit kritischer, professioneller Distanz sahen?
Saltarino: "Meine Damen und Herren, verehrtes Publikum, an der Trompete: Trude Kunz!"
Ernst Günther: "Die Trude ist immer geradewegs, ohne Rücksicht, was da passieren kann, hat sie was gesagt und so. Der Vater wollte ne Geigerin haben, und sie hat Trompete gemacht. Und ist als Trompeterin zu einem Schweizer Damen-Jazz-Orchester gegangen und hat es zur Solotrompeterin gebracht."
Der Dresdener Journalist und Buchautor Ernst Günther erforscht seit fünf Jahrzehnten die Geschichte des Zirkus Sarrasani. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen "Sarrasani. Geschichte und Geschichten" und "Sarrasani – Wie er wirklich war".
Ernst Günter
Sarrasani. Geschichte und Geschichten des Zirkus Sarrasani
Edition Sächsische Zeitung 2005
Ernst Günter
Sarrasani – Wie er wirklich war
Berlin, Henschel Verlag 1991
Trude war die Tochter einer Schweizerin, ihr Vater kam aus Zittau. Als das Schweizer Damen-Jazz-Orchester während der Weltwirtschaftskrise Pleite ging, heuerte die arbeitslose Trude als Tänzerin beim Zirkus Sarrasani an.
Saltarino: "Sarrasani ist ein ungemein rühriger und ingeniöser Mann, er befördert ganz nach amerikanischer Art seinen Zirkus in eigenen Eisenbahnzügen, führt eine ganze Elefantenherde mit sich, eine Menagerie, Abnormitäten etc. und kommandiert ein Heer von über 300 Angestellten."
Mit großem Erfolg hatte der Zirkus Sarrasani bereits 1924 und 1925 Argentinien bereist. Nun, im Jahr 1934, suchte Sarrasani Tänzerinnen für eine zweite Südamerika-Tournee. Die Kassen des Zirkus waren wieder einmal ebenso leer wie die Programme glanzvoll. Die Tournee sollte sie füllen, und außerdem den jüdischen Mitarbeitern die Flucht ermöglichen. Sarrasani stellte sogar kurz vor der Tournee noch mehr jüdische Artisten ein. Deshalb wurde der Zirkus in Deutschland als Judenzirkus verunglimpft. Auf der Reise durch die Niederlande dagegen riefen die Leute ihm "Nazizirkus" hinterher. Am Freitag, den 13. April 1934, ging Trude mit den anderen Sarrasanis in Rotterdam an Bord. Das Ziel war Rio de Janeiro. Trude war einundzwanzig Jahre alt.
Ernst Günther: "Und eben immer kess und glatt weg. Und bei dieser Reise nach Südamerika hat sie auf dem Schiff den Junior-Chef von Sarrasani, also den Hans-Stosch Sarrasani jun., kennengelernt. Die sind dann nachts mit Taschenlampen durchs Schiff gegangen, wo sie wussten, das Liebespaare sich treffen, und die haben sie dann angeleuchtet und erschreckt, solche Scherze."
Saltarino: "Lassen Sie mich raten: Statt sich vor dem Lichtstrahl zu verstecken, erwischt Amor auch Trude und Hans junior."
Sie heirateten 1935 in Buenos Aires. Hans Stosch-Sarrasani, Senior, der Zirkusgründer, war noch im September 1934 in Sao Paulo gestorben, und sein Sohn, der den Nationalsozialisten gegenüber weniger kritisch eingestellt war als der Senior, war Ende 1934 nach Deutschland zurückgeflogen, um staatliche Förderung für seinen Zirkus auszuhandeln. Ende 1935 erzwangen die Gläubiger in Deutschland die Rückkehr des Zirkus. Wenn man schon kein Geld bekam, wollte man wenigstens Wagen, Zelte und Tiere in der Nähe wissen. Während Hans versuchte, sich den Nationalsozialisten anzupassen, geriet Trude in Konflikte mit der Deutschen Arbeitsfront.
Ernst Günther: "Die Deutsche Arbeitsfront, die DAF, die angebliche Gewerkschaft, es war ja keine Gewerkschaft in dem Sinne, die war ein starker Gegner dieser Schweizerin da, und die ist mit denen sehr oft zusammengerasselt. Die haben ihr sogar ein Auftrittsverbot. Während der Tournee haben sie sie aus dem Programm geschmissen, und ihr Mann, der war ja Mitglied der NSDAP, und der wollte es sich auch nicht verderben, ja Mausel, sei mal ruhig und so, und das war sie nicht."
1941 starb auch Trudes Mann, Hans Stosch-Sarrasani, Junior. Mit 28 Jahren wurde sie Zirkusdirektorin. Die Zeiten waren schwierig, Tourneen ließen sich im Krieg kaum noch organisieren. 1943 trat auch Trude in die NSDAP ein.
Ernst Günther: "Und dann war der Zirkus ja dann hier auf Dresden beschränkt. Und der hat ja gespielt tatsächlich ... bis zum 13. Februar 1945."
Saltarino: "Der Zirkus muss spielen", lautet seit jeher das Motto der Sarrasanis.
Ernst Günther: "Der Zirkus muss spielen, das heißt, es muss was da sein. Männer waren keine da, und da hat sie den Revuezirkus erfunden. Es gab wenig Männer, und die Programme mussten gemacht werden, aber Frauen gab’s genug und die wollten auch arbeiten, denn die waren ja meistens schon Witwen wieder oder die Männer waren wer weiß wo, wusste ja niemand. Und da sie ja Tänzerin war, da sie Musikerin war, konnte sie also vieles selber organisieren und managen. 1944, da hat sie die Weltpremiere des ersten Zirkusmusicals gemacht. Da sind Journalisten, ich glaube, aus 50 Ländern angereist zu der Premiere. Das muss ein unheimliches Ding gewesen sein."
Weil Trude und ihr Lebensgefährte Gabor Nemedi auf ein rasches Ende des Krieges hofften, trafen sie Vorbereitungen für die Zeit danach.
Elefanten, Pferde und ein Nilpferd wurden zum Zirkus Knie in der neutralen Schweiz gegeben. Treibstoff, Zelte, LKW-Reifen und anderes Material versteckten Trude, Gabor und ihre Vertrauten im Wald. Sie wurden verraten, und Trude wurde 1945 von der Gestapo inhaftiert. Im Nachkriegsdeutschland wurden Trude Sarrasani und Gabor Nemedi nicht heimisch. Im Januar 1948 schifften sie sich nach Argentinien ein, wo der neue Circo Shangri-Là Sarrasani schon im April vor Juan und Evita Perón spielte und 1950 zum Nationalzirkus ernannt wurde.
Nachkriegsjahre: Aus Greta wird Fatima
In Hockenheim und Berlin, Hannover und Magdeburg suchten etwa zur gleichen Zeit junge Frauen ein eigenes Auskommen und Wege in ein selbständiges Leben. Wieder begannen Zirkusgeschichten voll harter Arbeit und Mut zum Risiko. Sie konnten aus einem Friseurladen, in dem die ersten Nachkriegsdauerwellen gelegt wurden, bis in den New Yorker Madison Square Garden führen. Oder aus einem winzigen Zimmer auf einem Bauernhof in einen Film von Max Ophüls.
Fatima Althoff: "Bei meiner Mutter hatte ich ja gar nichts zu essen. Die hat mich ja betteln geschickt. Da war so ne ganze Horde von Kindern."
Der Zirkus kam ins Dorf und versprach Essen, Klänge, Gerüche, Bewegung, Leben.
Fatima Althoff: "Dann kamen Leute vom Zirkus vorbei, und ich bin schon vorher immer in den Zirkus reingeschlüpft, ne, und dann war ein Mädchen dabei, das war so eine Marokkaner-Truppe, die machten Pyramiden und Parterrespringen, Saltos, Flickflacks und sowas, hat mir gut gefallen. "Ich will auch zum Zirkus", hab ich zu meiner Mutter gesagt, und dann sagte das Mädchen: "Ja, ja, mein Chef sucht noch Lehrmädchen." Der Zirkus fuhr weiter, ich weiß gar nicht mehr wohin, das war 1948, und meine Mutter hat gesagt: "Ja!" Ein Bekannter mit einem Fahrrad hat mir ein Kissen auf den Gepäckträger gegeben, da saß ich hinten auf dem Gepäckträger, hatte einen Löffel und eine Gabel, und da bin ich so zum Zirkus gekommen, ja, und dann kam ich da an, und dann sagte der Truppen-Chef von dieser Truppe: "Du kriegst jetzt die Haare gefärbt, weil wir sind ja eine marokkanische Truppe, und du hast blaue Augen. Du musst die Haare gefärbt kriegen." Und ich heiße richtig Greta, Greta Babette, und der sagt: "Du heißt jetzt Fatima. Von jetzt an heißt du Fatima, und ich bin dein Papi und das ist deine Mami." Die Frau von ihm war eine Österreicherin, von Wien kam die. Von da an hieß ich Fatima, und keiner kennt mich unter meinem richtigen Namen."
Im September 1948 stieß Greta zum Zirkus Alois Schickler, im Dezember musste Fatima im Varieté Allotria auf der Bühne stehen.
Fatima Althoff: "Dann hab ich sehr viel Haue bekommen, wo ich das lernen musste, weglaufen konnt ich ja schlecht. Die Putzfrauen, die haben gesagt: "Wenn Sie jetzt nicht aufhören, das Kind zu schlagen, dann zeigen wir Sie an." Wir mussten dann ganz früh, um sechs Uhr, probieren, wenn noch keiner da war."
Saltarino: "Das mutige Kind findet sich unter Schurken wieder, zu denen sie Papi und Mami sagen muss und die ihr mehr Leid antun, als mancher Straßenräuber übers Herz brächte."
Angst darf man nicht haben, das haben uns viele Akrobatinnen und Dompteurinnen erzählt. Doch Fatima erlebte Jahre voller Angst und Lähmung.
Fatima Althoff: "Ich für meine Person war nicht so von Natur aus begabt. ... Ich konnte überhaupt nix, ich musste alles lernen, und weil ich ja nix zu essen hatte, war ich so schlapp."
Saltarino: "Mit nicht einmal neun Jahren schlägt sie Salti und Flickflacks quer durch die Manege und steht oben auf einer Pyramide von Leibern."
Fatima Althoff: "Meine Mutter hab ich nach drei Jahren wiedergesehen und ich hab sie nicht mehr erkannt, war für mich fremd."
Es gab Rettungsanker: Allein essen versteckt im Stroh, eine freundliche Lehrerin in Zeiten, in denen der Zirkus einen eigenen Schulwagen mitführte, Gespräche mit einem Pfarrer, die Aufmerksamkeit bei der Erstkommunion - und Kinofilme. Fatima sah sie spiegelverkehrt, auf der Rückseite der Leinwand. Artisten traten in den fünfziger Jahren vor Kinovorführungen auf, um für ihre Show zu werben.
Fatima Althoff: "Wenn wir gearbeitet haben, vorne, auf der Bühne, bevor der Film anfing, dann haben wir uns immer nach hinten gesetzt, hinter die Leinwand und haben uns da den Film angeguckt. Wir waren fertig, und da fing der Hauptfilm an, und da sind wir hinter die Leinwand gegangen und haben den ganzen Film von hinten gesehen, einen Stuhl hingestellt, war natürlich ganz nah. Manchmal hat man da halt Schauspieler kennengelernt, wenn die den Film vorgeführt haben, wie zum Beispiel die Lilian Harvey damals."
1955 war sie selbst auf der Leinwand zu sehen, denn Max Ophüls engagierte den Zirkus Brumbach für seinen Film "Lola Montez". Fatima, die einen neuen Namen und eine neue Haarfarbe bekommen hatte, wechselte nun auch noch das Geschlecht. Von den Aufnahmen mit Peter Ustinov ist ihr ein Foto geblieben.
Fatima Althoff: "Da war ich so 15, 16, und ich erinnere mich, ich war so als Junge angezogen, und dann hat er gesagt, du siehst zu mädchenhaft aus, du musst mehr Jungs aussehen, und dann hab ich so komische orangefarbene Haare gehabt, also da steht auf dem Foto noch von Peter Ustinoff: Für Fatima mit dem gelben Schnurrbart."
Mit 16 lernte Fatima ihren ersten Ehemann Horst Brumbach kennen. Als die Ehe geschieden wurde, verlor sie das Sorgerecht für ihren Sohn.
Fatima Althoff: "Die haben gesagt, ich führe ein Zirkusleben, das Zigeunerleben, und er hat einen festen Wohnsitz und seine Mutter kümmert sich jetzt um sein Kind. Da hat man nicht gefragt, ob das Kind lieber bei der Mutter wäre, das waren einfach reisendes Volk, Zigeuner. Und die haben alles über einen Kamm geschert, ja."
Fatima trat weiterhin jeden Abend auf und verliebte sich in Harry Althoff, den Sohn des Zirkuspatriarchen Franz.
Saltarino: "Der Vater sieht in dem Sohn einen billigen Knecht und denkt nicht daran, ihm sein Unternehmen zu vererben."
Deshalb machten sich Fatima und Harry mit einer Elefantennummer selbständig und waren u.a. bei Sarrasani und beim Zirkus Barum engagiert. Später führte er in einem Varieté Tiger vor, und sie arbeitete bis zur Rente an der Kasse und in der Restauration. Diese zweite Ehe, die Fatima als Erwachsene einging, wurde glücklich.
Fatima Althoff: "Ich sag immer, in diesen vierzig Jahren oder mehr wie vierzig Jahren waren wir länger zusammen wie Leute, die arbeiten gehen. Wir sind ja von morgens bis abends sind wir ewig zusammen gewesen. Und wenn’s mal Meinungsverschiedenheiten gab, gibt’s ja überall, dann konnten wir ja nicht in den Regen rausgehen und draußen rumstehen. Dann wurde sich auch schnell wieder vertragen."
Die beiden bekamen eine Tochter, Gina.
Gina Althoff: "Ich hab meine Kindheit mit Spielen verbracht, ich gehör nicht zu der Generation wie meine Mama, die dann gleich zum Training gezwungen wurde. Ich hab meine Kindheit recht frei verbracht, meistens im Ponystall, zwar mit Regeln zuhause, aber doch sehr frei einfach. Bei mir persönlich war das so, dass mein Vater immer gesagt hat, er will das bei mir genau anders herum machen, weil er wurde auch sehr streng erzogen genauso wie meine Mutter. Ich durfte auch sagen, was ich denke oder was nicht. Ich glaube, ich hab eine sehr, sehr gute Erziehung genossen."
Fatima Althoff: "Mein Mann hat gesagt zu ihr: 'Du machst nichts mit den Tieren, die Tiere fressen dir die Haare vom Kopf, wenn du mal keine Arbeit hast.' Sie war dann als Kind im Internat, und später hat sie dann gesagt: 'Ich werde Artistin, ob ihr das wollt oder nicht.' Wir wollten natürlich nicht, dass sie Artistin wird, wir wollten, dass sie irgendetwas anderes macht, aber sie hat sich nun durchgesetzt und alleine das gelernt und durchgeboxt und es klappte ganz gut."
Ginas Leidenschaft ist das Jonglieren mit den Füßen geworden, die Antipodenjonglage.
Gina Althoff: "Der Zirkus besteht in erster Linie aus Disziplin und Respekt, Respekt vor allen Menschenrassen, vor dem Tier. Und Disziplin, überall pünktlich zu sein. Das kann auch mal ein Knochenjob sein."
Gina Althoff jongliert nicht nur mit den Füßen, sondern gibt mit ihrem Mann Armin Fischer auch komisch-virtuose Konzerte.
Wir kamen in ein neues Land – Mauerfall und Neubeginn
Petra Sperlich: "Wir haben in der Ausbildung alles gelernt, also man hat ne Grundausbildung, hat die ersten Prüfungen, und dann hat der Staatszirkus gesagt, ich brauche, bei uns im Studienjahr war’s halt eine Raddarbietung und eine Bodenakrobatik. Und so musste aus dem, ich sag mal, Material in Anführungsstrichen eben zwei dieser Sachen gemacht werden."
Als Petra Sperlich in den siebziger Jahren ihre Ausbildung an der Staatlichen Schule für Artistik begann, war Artistin noch ein Beruf mit geregelten Zukunftsaussichten. Jugendliche lernten hier Mathematik und Jonglieren, Rechtschreibung und Flickflacks.
Die Staatliche Ballettschule und Schule für Artistik (Berlin) entstand 1991 durch den Zusammenschluss der Ballett- und der Artistenschule.
Petra Sperlich: "Aber ich war damit überhaupt nicht glücklich, also, ich hab gesagt: Ne, das ist nicht mein Ding, damit werde ich nicht alt, und hab dann, nach der ersten Saison, nochmal die Artistenschule besucht, hab ne Prüfung gemacht, damit die das genehmigen, das ich das machen darf, und dann hat mich mein späterer Mann ausgebildet. Der kam aus einer Artistenfamilie."
Saltarino: "Franz Sperlich war ein Nachfahre jenes berühmten anderen Franz, der seine Kameraden in der preußischen Armee mit verschiedenen Darbietungen unterhielt, bevor er um 1850 sein eigenes Zirkusunternehmen und die verzweigte Dynastie der Sperlichs begründete."
Petra Sperlich: "Ich hab dann am Motorradkarussell gearbeitet, und er hat mich noch am Solotrapez zusätzlich ausgebildet. Dann hatte ich zwei Luftnummern. Ich hab ne ganz harte Schule durch, weil mein Man hat mir im Vorfeld, wo ich noch überhaupt nicht mal einen Klimmzug konnte, gesagt, also den und den Trick musst du können, sonst brauchen wir das überhaupt nicht machen. Da hab ich gedacht, das schaff ich nie. Ich hab alle Tricks gekonnt, alle ... Ja gut, man hat denn halt zur Weltspitze gehört, und das macht einen auch stolz, muss ich sagen. Wir wollten weit kommen, wir wollten nicht nur tingeln, sondern wir wollten wirklich die Welt sehen, und das haben wir geschafft."
Saltarino: "Im Jahr 1978 beginnt das Paar seine rastlosen Fahrten durch aller Herren Länder."
Petra Sperlich: "Jedes Jahr Minimum acht Monate: Japan, Mongolei, Österreich, Frankreich, alle sozialistischen Länder, darunter fünf Jahre Sowjetunion, Belgien, Westdeutschland. Das war aber auch das Ziel. Ich hab gesagt, wenn ich Artistin werde, dann möchte ich die Welt kennenlernen."
Saltarino: "Doch die Entmutigung des Alters lauert bei allen wie die Erbsünde – selbst bei den glücklichsten. Es kommt immer eine Zeit, wo die Kräfte versagen, die Stärke nachlässt."
Petra Sperlich: "Man wurde älter, einen alten Artisten möchte keiner unbedingt in der Manege sehen, aber einen alten Dompteur erkennt jeder an, und da mein Mann aus einer Zirkusfamilie kam, aus einer Zirkusdynastie, lag das einfach auf der Hand. Wir hatten zwar nicht vor, mit Raubtieren zu arbeiten, er war so ein bisschen sehr Komiker und hätte gerne Haustiere gehabt, also Schweine, Kühe, und dann hieß es aber beim Staatszirkus: Wir brauchen Bären."
Saltarino: "So setzen sie mit einer Bärennummer ihr Reisen fort."
Und dann kletterten im November 1989 die Berliner auf die Mauer.
Petra Sperlich: "Wir waren in der Sowjetunion. Es kam irgendeiner von unseren Kollegen und sagte: "Die Mauer ist weg." Da haben wir gesagt: "Welche Mauer, hier steht doch überhaupt keine Mauer." "Na, die bei uns." Da haben wir gesagt: "Das kann doch überhaupt nicht sein." Also wir kamen in ein neues Land."
Die Sperlichs konnten unter dem Dach der Berliner Circus Union noch bis 1998 mit ihren Bären als Solonummer reisen, dann fanden die Bären in einem Wildpark in Baruth eine Bleibe, und Petra Sperlich begann 1999 nach nur zwei Wochen Arbeitslosigkeit im Kinder- und Jugendzirkus Cabuwazi Jugendliche am Trapez zu trainieren.
Die Bären, mit denen Petra und Franz Sperlich viele Jahre lang um die Welt reisten, leben heute im Wildpark Johannismühle.
Petra Sperlich: "Mein Ziel hier ist auf alle Fälle, dass man sein eigenes Selbstbewusstsein stärkt, dass man gemeinsam arbeitet, dass man Vertrauen aufbaut zum anderen, Partner, dass man als Gruppe sich findet, und ich finde das auch völlig in Ordnung, dass das nicht der Berufswunsch ist, weil das in der heutigen Zeit absolut schwer ist. Es ist ein Superhobby und das kann man unheimlich ausbauen und jeder sollte trotzdem seinen beruflichen Weg gehen."
Cabuwazi macht Zirkus mit Kindern aus verschiedenen Berliner Stadtteilen, in richtigen Chapiteaus und mit professionellen Trainern:
Petra Sperlich: "Aber ich war damit überhaupt nicht glücklich, also, ich hab gesagt: Ne, das ist nicht mein Ding, damit werde ich nicht alt, und hab dann, nach der ersten Saison, nochmal die Artistenschule besucht, hab ne Prüfung gemacht, damit die das genehmigen, das ich das machen darf, und dann hat mich mein späterer Mann ausgebildet. Der kam aus einer Artistenfamilie."
Saltarino: "Franz Sperlich war ein Nachfahre jenes berühmten anderen Franz, der seine Kameraden in der preußischen Armee mit verschiedenen Darbietungen unterhielt, bevor er um 1850 sein eigenes Zirkusunternehmen und die verzweigte Dynastie der Sperlichs begründete."
Petra Sperlich: "Ich hab dann am Motorradkarussell gearbeitet, und er hat mich noch am Solotrapez zusätzlich ausgebildet. Dann hatte ich zwei Luftnummern. Ich hab ne ganz harte Schule durch, weil mein Man hat mir im Vorfeld, wo ich noch überhaupt nicht mal einen Klimmzug konnte, gesagt, also den und den Trick musst du können, sonst brauchen wir das überhaupt nicht machen. Da hab ich gedacht, das schaff ich nie. Ich hab alle Tricks gekonnt, alle ... Ja gut, man hat denn halt zur Weltspitze gehört, und das macht einen auch stolz, muss ich sagen. Wir wollten weit kommen, wir wollten nicht nur tingeln, sondern wir wollten wirklich die Welt sehen, und das haben wir geschafft."
Saltarino: "Im Jahr 1978 beginnt das Paar seine rastlosen Fahrten durch aller Herren Länder."
Petra Sperlich: "Jedes Jahr Minimum acht Monate: Japan, Mongolei, Österreich, Frankreich, alle sozialistischen Länder, darunter fünf Jahre Sowjetunion, Belgien, Westdeutschland. Das war aber auch das Ziel. Ich hab gesagt, wenn ich Artistin werde, dann möchte ich die Welt kennenlernen."
Saltarino: "Doch die Entmutigung des Alters lauert bei allen wie die Erbsünde – selbst bei den glücklichsten. Es kommt immer eine Zeit, wo die Kräfte versagen, die Stärke nachlässt."
Petra Sperlich: "Man wurde älter, einen alten Artisten möchte keiner unbedingt in der Manege sehen, aber einen alten Dompteur erkennt jeder an, und da mein Mann aus einer Zirkusfamilie kam, aus einer Zirkusdynastie, lag das einfach auf der Hand. Wir hatten zwar nicht vor, mit Raubtieren zu arbeiten, er war so ein bisschen sehr Komiker und hätte gerne Haustiere gehabt, also Schweine, Kühe, und dann hieß es aber beim Staatszirkus: Wir brauchen Bären."
Saltarino: "So setzen sie mit einer Bärennummer ihr Reisen fort."
Und dann kletterten im November 1989 die Berliner auf die Mauer.
Petra Sperlich: "Wir waren in der Sowjetunion. Es kam irgendeiner von unseren Kollegen und sagte: "Die Mauer ist weg." Da haben wir gesagt: "Welche Mauer, hier steht doch überhaupt keine Mauer." "Na, die bei uns." Da haben wir gesagt: "Das kann doch überhaupt nicht sein." Also wir kamen in ein neues Land."
Die Sperlichs konnten unter dem Dach der Berliner Circus Union noch bis 1998 mit ihren Bären als Solonummer reisen, dann fanden die Bären in einem Wildpark in Baruth eine Bleibe, und Petra Sperlich begann 1999 nach nur zwei Wochen Arbeitslosigkeit im Kinder- und Jugendzirkus Cabuwazi Jugendliche am Trapez zu trainieren.
Die Bären, mit denen Petra und Franz Sperlich viele Jahre lang um die Welt reisten, leben heute im Wildpark Johannismühle.
Petra Sperlich: "Mein Ziel hier ist auf alle Fälle, dass man sein eigenes Selbstbewusstsein stärkt, dass man gemeinsam arbeitet, dass man Vertrauen aufbaut zum anderen, Partner, dass man als Gruppe sich findet, und ich finde das auch völlig in Ordnung, dass das nicht der Berufswunsch ist, weil das in der heutigen Zeit absolut schwer ist. Es ist ein Superhobby und das kann man unheimlich ausbauen und jeder sollte trotzdem seinen beruflichen Weg gehen."
Cabuwazi macht Zirkus mit Kindern aus verschiedenen Berliner Stadtteilen, in richtigen Chapiteaus und mit professionellen Trainern:
Maximilian: "Man bekommt halt gelernt, dass es egal ist, was passiert, dass man immer probieren soll zu lächeln, trotzdem das so durchzuziehen, auch wenn mal was schief geht."
Jenny: "Man denkt öfter dran, doch einen geraden Rücken zu haben, oder nicht ganz so grimmig zu gucken, einfach weil’s schöner aussieht, und wenn ich andere dann so sehe, dann weiß ich schon, warum Petra sagt: Lächeln! Haltung!"
Zukunft? Der Zirkus tanzt!
Die Staatliche Ballettschule und Schule für Artistik überlebte die DDR, weil es in der Bundesrepublik keine vergleichbare Ausbildungsmöglichkeit gab. Auch die Kontorsionistin Lena Gutschank und Antonia Modersohn und ihre Partnerin Sarah Lindermayer vom Duo Draifach haben DIE SCHULE besucht.
Lena Gutschank: "Also ich hab mich mit 15 entschieden, okay, im nächsten Jahr, wenn ich 16 bin, dann ziehe ich nach Berlin, ganz alleine, ich kenn da niemanden, ich weiß nur, da gibt es diese Schule und die haben gesagt, ich darf kommen. Und deswegen packe ich meine Sachen und ich lasse all meine Freunde zurück, die natürlich gesagt haben: Wie, du gehst jetzt von der Schule, wir haben doch noch drei Jahre bis zum Abi und das machen wir alle."
Antonia Modersohn: "Generell an der Schule, da sind halt alles Leute, die Zirkuskunst machen wollen, die haben irgendwie einen anderen Ehrgeiz und auch ne andere Mentalität. Also in meinem Abi-Jahrgang, da waren 180 Leute, und ich hab’ mich mit niemandem so gut verstanden wie mit den wenigen zwanzig, die auf der Schule waren. Wir haben Stunden in dieser Halle verbracht und sind teilweise nur über unsere Requisiten gelaufen, also ich hoch und sie drüber, einfach damit die Grundlagen perfekt werden."
Drüber über das Drahtseil, hoch am chinesischen Mast. Außerdem zeigen Antonia Modersohn und Sarah Lindermayer gemeinsam eine Übung an von der Decke hängenden Tüchern.
Antonia Modersohn und Sarah Lindermayer lernten sich bei einem Kinder- und Jugendzirkus kennen, bevor sie gemeinsam nach Berlin aufbrachen:
Antonia Modersohn: "Wir haben alle versucht, uns zu unterstützen. Wir haben uns auch alle angefeuert, oder wenn neue Tricks gemacht wurden und man sich nicht sicher war, wie das aussieht."
Lena Gutschank: "Es ging in meiner Ausbildung relativ viel um Technik, also dass es tatsächlich um Leistung ging. Ich hab nach der Schule viel mit Choreografen zusammengearbeitet, ich hab angefangen, Schauspielunterricht zu nehmen, weil ich genau das so ein bisschen vermisst hab: Was erzählt man eigentlich auf der Bühne? Und was möchte ich eigentlich auf der Bühne erzählen? Was ist es, was mich mit dem Zuschauer verbinden kann? Ich glaube eigentlich, dass Zirkus ein Mittel ist, was viele Arten von Geschichten erzählen kann. Ich glaube, dass Artistik benutzt werden kann wie Tanz. Ich persönlich finde es immer sehr interessant, wenn nicht nur eine Person auf der Bühne steht, sondern wenn es zwei oder mehrere sind und zwischen den Leuten passiert was. Zirkus hat immer danach gesucht, was neues zu finden, um Leute zu unterhalten, um Leute interessiert zu machen, um politische Themen aufzugreifen, um Dinge aufzugreifen, die gerade in der Welt passieren, um die Leute zu berühren, also es gab einfach eine ständige Veränderung, und ich glaube, dass Zirkus auch so weitermachen wird."
Jenny: "Man denkt öfter dran, doch einen geraden Rücken zu haben, oder nicht ganz so grimmig zu gucken, einfach weil’s schöner aussieht, und wenn ich andere dann so sehe, dann weiß ich schon, warum Petra sagt: Lächeln! Haltung!"
Zukunft? Der Zirkus tanzt!
Die Staatliche Ballettschule und Schule für Artistik überlebte die DDR, weil es in der Bundesrepublik keine vergleichbare Ausbildungsmöglichkeit gab. Auch die Kontorsionistin Lena Gutschank und Antonia Modersohn und ihre Partnerin Sarah Lindermayer vom Duo Draifach haben DIE SCHULE besucht.
Lena Gutschank: "Also ich hab mich mit 15 entschieden, okay, im nächsten Jahr, wenn ich 16 bin, dann ziehe ich nach Berlin, ganz alleine, ich kenn da niemanden, ich weiß nur, da gibt es diese Schule und die haben gesagt, ich darf kommen. Und deswegen packe ich meine Sachen und ich lasse all meine Freunde zurück, die natürlich gesagt haben: Wie, du gehst jetzt von der Schule, wir haben doch noch drei Jahre bis zum Abi und das machen wir alle."
Antonia Modersohn: "Generell an der Schule, da sind halt alles Leute, die Zirkuskunst machen wollen, die haben irgendwie einen anderen Ehrgeiz und auch ne andere Mentalität. Also in meinem Abi-Jahrgang, da waren 180 Leute, und ich hab’ mich mit niemandem so gut verstanden wie mit den wenigen zwanzig, die auf der Schule waren. Wir haben Stunden in dieser Halle verbracht und sind teilweise nur über unsere Requisiten gelaufen, also ich hoch und sie drüber, einfach damit die Grundlagen perfekt werden."
Drüber über das Drahtseil, hoch am chinesischen Mast. Außerdem zeigen Antonia Modersohn und Sarah Lindermayer gemeinsam eine Übung an von der Decke hängenden Tüchern.
Antonia Modersohn und Sarah Lindermayer lernten sich bei einem Kinder- und Jugendzirkus kennen, bevor sie gemeinsam nach Berlin aufbrachen:
Antonia Modersohn: "Wir haben alle versucht, uns zu unterstützen. Wir haben uns auch alle angefeuert, oder wenn neue Tricks gemacht wurden und man sich nicht sicher war, wie das aussieht."
Lena Gutschank: "Es ging in meiner Ausbildung relativ viel um Technik, also dass es tatsächlich um Leistung ging. Ich hab nach der Schule viel mit Choreografen zusammengearbeitet, ich hab angefangen, Schauspielunterricht zu nehmen, weil ich genau das so ein bisschen vermisst hab: Was erzählt man eigentlich auf der Bühne? Und was möchte ich eigentlich auf der Bühne erzählen? Was ist es, was mich mit dem Zuschauer verbinden kann? Ich glaube eigentlich, dass Zirkus ein Mittel ist, was viele Arten von Geschichten erzählen kann. Ich glaube, dass Artistik benutzt werden kann wie Tanz. Ich persönlich finde es immer sehr interessant, wenn nicht nur eine Person auf der Bühne steht, sondern wenn es zwei oder mehrere sind und zwischen den Leuten passiert was. Zirkus hat immer danach gesucht, was neues zu finden, um Leute zu unterhalten, um Leute interessiert zu machen, um politische Themen aufzugreifen, um Dinge aufzugreifen, die gerade in der Welt passieren, um die Leute zu berühren, also es gab einfach eine ständige Veränderung, und ich glaube, dass Zirkus auch so weitermachen wird."
Lena Gutschank hat das Netzwerk Zirkus gegründet, um Artistinnen und Artisten verschiedener Generationen ein gemeinsames Forum zu geben.